Er gilt als moralische
Instanz im Land. Und der Hang der Deutschen, am Ende des Jahrhunderts die
Vergangenheit zu entsorgen, verbittert ihn immer mehr.
STERN-Gespräch mit Ignatz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrats der
Juden, über Angst, Schuld und sein Leben als Deutscher
STERN: Wie geht es
Ihnen, Herr Bubis?
BUBIS: Danke, auf dem
Weg der Besserung, wie man so sagt. Es ist alles zusammengekommen. Erst eine
Bandscheibenoperation, dann ein Bruch im Halsschenkelwirbel, und schließlich
kam noch eine leichte Thrombose in der Wade hinzu. Weil ich drei Monate
nicht gelaufen bin, leide ich unter starker Muskelschwäche. Zur
Stabilisierung brauche ich nun eine vierwöchige Kur.
STERN: Vier Wochen Kur?
Sie haben bisher ja nicht einmal zwei Wochen Urlaub an einem Stück
durchgehalten.
BUBIS: Diesmal muß ich
es schaffen.
STERN: Weil Sie in
diesem Land an allen Ecken und Enden gebraucht werden? Bis heute hält sich
selbst in der politischen Klasse die Meinung, Sie seien qua jüdischen
Glaubens Israeli. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth hat Ihnen
im Zusammenhang mit dem Friedensprozeß "in Ihrem Lande" doch erst kürzlich
alles Gute gewünscht.
BUBIS: Frau Roth hat
angerufen und sich entschuldigt. Ich bin deutscher Staatsbürger - solange
dieses Grundgesetz meinen Vorstellungen entspricht. Wie wird man Deutscher?
Wie wird man katholisch, wie evangelisch? Habe ich mir meine Religion
ausgesucht? Nein, ich bin in diese Religion hineingeboren, mit ihr
aufgewachsen. Ich bin kein strenggläubiger Jude, bin Jude aus Respekt vor
meinen Eltern. Sehen Sie, eine Biographie trägt auch immer die Handschrift
des Zufalls. Der Traum meines Vaters war, aus religiöser Überzeugung, in
Israel beerdigt zu werden. Er wurde in Treblinka umgebracht.
STERN: Sie verstehen den
Traum Ihres Vaters, aber Sie teilen ihn nicht?
BUBIS: In gewissem Sinne
ja. Allerdings bin ich pragmatisch.Ich möchte in Israel beerdigt werden,
weil ich nicht will, daß mein Grab in die Luft gesprengt wird - wie das von
Heinz Galinski.
STERN: Ist das nicht
auch die Angst, in deutscher Erde, wo Nazis begraben sind, zu ruhen?
BUBIS: "Deutsche Erde"
ist mir ein zu weit gehender Begriff. Da ist der jüdische Friedhof schon
eine Enklave. Es geht nicht nur um das In-die-Luft-Sprengen, sondern auch um
die Schmierereien und alles, was dazugehört. Leider ist die Gefahr, daß die
Würde der Toten verletzt wird, hier immer noch groß - besonders, wenn man
ein öffentliches Amt hat.
STERN: Sie sind seit
sieben Jahren Präsident des Zentralrats der Juden. Sie gelten als moralische
Autorität. "Je mehr man sein Leben einem Zufall verdankt, desto mehr ist man
bestrebt, etwas zu bewegen", haben Sie geschrieben. Was haben Sie bewirkt?
BUBIS: Ich habe nichts
oder fast nichts bewirkt. Ich habe immer herausgestellt, daß ich deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier
Deutsche, dort Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es,
daß die Menschen anders übereinander denken, anders miteinander umgehen.
Aber, nein, ich habe fast nichts bewegt. Die Mehrheit hat nicht einmal
kapiert, worum es mir ging. Wir sind fremd geblieben; sicher auch, weil sich
die Juden in diesem Land teilweise selbst ausgrenzen.
STERN: Sie haben
Hunderttausende junger Menschen direkt angesprochen - Sie waren in Schulen,
an Universitäten. Und Sie sagen heute, Sie hätten nichts bewirkt?
BUBIS: Bei dem einen
oder anderen habe ich vielleicht etwas bewirkt. Wenn mir Menschen in
anonymen Anrufen oder Briefen drohen und vorwerfen, ich sei der Verderber
der deutschen Jugend, dann denke ich: Aha, du hast also doch ein wenig was
bewegt, die wissen, daß du die Jungen erreichst. 600000 Menschen habe ich
angesprochen. Aber wenn mir jemand sagt, es habe ein grundsätzliches
Umdenken gegeben, nein. Jungen Leuten sage ich: Ich erwarte nicht, daß ihr
jeden Morgen erst mal ein Häufchen Asche holt und euch über das Haupt
streut. Aber ihr müßt wissen, wozu Menschen fähig waren. Im Grunde genommen
meine ich heute, daß ich die Falschen besucht habe. Ich hätte nicht die
Schüler, sondern die Lehrer aufsuchen müssen. Wissen Sie, ich habe heute
mehr Verständnis für Heinz Galinski als früher.
STERN: "Ich habe nicht
überlebt, um zu schweigen", hat Ihr Vorgänger gesagt.
BUBIS: Ja, er hatte
Auschwitz im Herzen, er war auf die Vergangenheit fixiert, das muß man
verstehen. Ich wollte diese Phase überwinden, ich habe versucht,
Vergangenheit und Zukunft zu verbinden. Heute bin ich Galinski näher, auch,
was das Verbittertsein anbetrifft. Im Grunde genommen hat er auf seine Weise
das gleiche versucht.
STERN: Das klingt, als
seien Sie einsam, müde - auch im Sinne Ihres Amtes.
BUBIS: Nein, ganz so
weit ist es noch nicht. Und es gibt jedenfalls meinerseits keine solchen
Gedanken. Sollte es allerdings jemanden geben, der einen breiten Konsens in
der jüdischen Gemeinde findet, werde ich kein Hindernis sein. Für
Spekulationen ist es aber zu früh.
STERN: Warum sind Sie
verbittert? Weil Ihre nichtjüdischen Landsleute die Vergangenheit
abschließen wollen? Weil Menschen wie Klaus von Dohnanyi von Ihnen einen
"behutsameren Umgang mit den nichtjüdischen Landsleuten" fordern?
BUBIS: Ach, den
Dohnanyi, den nehme ich nicht so ernst. Ich habe kein Problem mit nationaler
Identität, wenn die Verfassung stimmt, wenn die Grundsätze stimmen. Ich
selbst bin in Israel öffentlich für die deutsche Vereinigung eingetreten.
Ich habe das gleiche aus tiefer Überzeugung in Ost und West, auch in den USA
und Kanada getan. Vielleicht mit Ausnahme der USA war die deutsche Einheit
umstrittener, als viele das in Deutschland geglaubt haben. Ich habe damals
darauf gedrängt, daß im Einigungsvertrag oder im Grundgesetz verankert wird,
daß die Zeit des Nationalsozialismus ein Teil der deutschen Geschichte ist,
daß Lehren für die Zukunft gezogen werden - sei es in einer Präambel, sei es
in sonst irgendeiner Form.
STERN: Und?
BUBIS: Wir sind auf
taube Ohren gestoßen bei Wolfgang Schäuble, auch bei der damaligen
Opposition. Im öffentlichen Bewußtsein ist die Verantwortung für Auschwitz
nicht verankert. Jeder in Deutschland fühlt sich verantwortlich für
Schiller, für Goethe und für Beethoven, aber keiner für Himmler. Ein
Großteil der Bevölkerung denkt wie Martin Walser. Ende. Zeit, Schluß zu
machen, nur noch nach vorne schauen. Das ist nicht immer böse Absicht, nur
sage ich: Ohne den Blick nach hinten geht es nicht. Und dann gibt es
Menschen, die offenbar Angst vor der eigenen Meinung haben, das ist noch
schlimmer. Im Zusammenhang mit der Walser-Kontroverse wollte die "Welt"
Briefe an mich abdrucken, die meine Position stützten. Ich habe der Zeitung
30 Briefe zugeschickt, deren Abdruck ich von der Zustimmung der
Briefeschreiber abhängig gemacht habe. Manche von ihnen hatten dann
plötzlich Angst vor der eigenen Courage und wollten nicht genannt werden.
STERN: Herr Bubis, das
neue Deutschland, das Bundeskanzler Gerhard Schröder repräsentiert, wird
"unbefangener, in einem guten Sinne sogar deutscher sein". Sagt Schröder.
BUBIS: Die heutige
Politikergeneration möchte auf eine sanfte Walser-Tour das Ganze
zurückdrehen. Nicht "Mahnmal der Schande", nicht "Moralkeule", nicht so
harte Ausdrücke. Schröder hat nach der Bubis/Walser-Debatte sinngemäß
gesagt, jetzt, nach dieser Diskussion, müssen wir das Mahnmal bauen. Das
hört sich so an, als ob die Regierung den Bubis nicht im Regen stehenlassen
könne. Dabei ist das kein Bubis-Mahnmal. Roman Herzog hat vom Mahnmal der
Würde gesprochen: Wir bekennen uns. Eine ganze Reihe Abgeordneter, die dafür
gestimmt hat, hat es auch so empfunden, aber viele eben nicht. Es gab die
Meinung: Laßt endlich mal Ruhe damit. Nun baut das Mahnmal! Weg damit! Nur
für die Juden. Okay, runter vom Tisch! Es war auch hier
Schlußstrich-Debatte.
STERN: Warum wird es nur
für die ermordeten Juden gebaut und nicht für alle Opfer des
Nationalsozialismus?
BUBIS: Ich will die
Opfer nicht klassifizieren, wirklich nicht. Ich klassifiziere im Kosovo auch
nicht zwischen den Kosovaren und den Serben. Jedes Opfer ist ein Opfer. Aber
jedes jüdische Kind war schon zum Tode verurteilt, noch bevor es zur Welt
gekommen ist. Deshalb ist dieser Genozid ein anderer, allenfalls noch
vergleichbar mit jenem, der an den Sinti und Roma verübt worden ist.
Politische Gegner wußten, was sie tun. Was aber nutzte es einem Juden, wenn
er erklärte, ich bin ein Nazi? Nichts. Im übrigen bin ich der Meinung, daß
es selbstverständlich auch für die anderen Opfergruppen Mahnmale geben muß.
STERN: Am 16. Januar
1945, als Sie mit 18 Jahren aus dem Lager Tschenstochau befreit wurden und
einsam auf der Straße standen, schreiben Sie in Ihrer Autobiographie, "gab
es niemanden mehr, um den ich mich hätte kümmern können, und auch niemanden,
der sich um mich gesorgt hätte". Ist der öffentliche Beifall, den Sie heute
bekommen, für Sie eine Art Zuwendung?
BUBIS: Natürlich ist das
auch eine Form, schon. Ich wäre ein Heuchler, wenn ich nicht sagen würde,
daß es mir guttut. Aber es spielt etwas anderes die tragende Rolle -
Verantwortung für die Menschen, die Gemeinschaft, für Minderheiten. Ich habe
mit meiner Frau darüber schon große Debatten gehabt, weil sie sagt: Bei dir
kommt die eigene Familie an letzter Stelle. Das stimmt nicht. Ich komme bei
mir an letzter Stelle. Wenn ich mich heute in der Nacht irgendwann umdrehen
muß, wecke ich meine Frau nicht. Mein Arzt, der mich seit 20 Jahren
behandelt, ein einmaliger Mensch, sagt mir: Herr Bubis, wenn Sie Schmerzen
haben, rufen Sie mich. Bei meiner letzten Nierenkolik habe ich bis 7 Uhr mit
meinem Anruf gewartet, weil ich weiß, daß er um diese Zeit aufsteht. Ich bin
vor Schmerzen bald geplatzt, aber ich wollte nicht um 5 Uhr anrufen und ihn
bitten, wegen einer Spritze zu kommen.
STERN: Die Vergangenheit
drückt?
BUBIS: Immer stärker.
Mich hat eine Sache kaputtgemacht: meine Reise nach Brasilien, nach São
Paulo. Seit ich das Bild meiner Nichte Rachel kenne, läßt mir das keine Ruhe
mehr. Ich habe ein Bild von meinem Vater gehabt. Mein Vater ist vor meinen
Augen deportiert worden. Ich habe in Brasilien Fotos von meinem Bruder, von
meiner Schwägerin bekommen. Ich wußte gar nicht, daß es die gibt. Es sind
die einzigen Fotos, die mir bis dahin völlig unbekannt waren. Aber erst das
Bild meiner Nichte hat mich um 50 Jahre zurückgeworfen. Dieses unbeschwerte
Kinderlächeln. Was hat dieses Kind dem Nationalsozialismus getan? Damit
werde ich nie fertig. Bei diesem Bild meiner Nichte hat mich die
Vergangenheit eingeholt. Ich habe nie sprechen wollen über meine Geschichte,
auch auf Fragen nicht. Ich war oft in Polen und hatte viele Indizien, daß
mein Vater nach Treblinka gekommen ist. Inzwischen ist es so gut wie
Gewißheit. Ich war in Auschwitz, in Majdanek, ich war in Sobibor, nur nach
Treblinka bin ich nie gegangen. Jedes Mal gab es irgendeinen objektiven
Grund. Erst 1989 habe ich gesagt: Jetzt fährst du hin. Ich bin quasi den Weg
meines Vaters gegangen, falls er überhaupt noch gehen konnte, falls er dort
überhaupt lebend angekommen ist. Ich war nicht wieder dort. Ich kann nicht
wieder hingehen.
STERN: Und Sie haben nie
mit Ihrer Frau gesprochen über die eigene Lagerzeit?
BUBIS: Nie. Bis heute
nicht. Dabei war meine Frau fast die ganze Zeit im selben Lager in Deblin.
Sie ist dann in Dachau befreit worden, war vorher noch in Bergen-Belsen. Bis
heute weigert sich etwas in ihr, nach Bergen-Belsen zu gehen. Und sie hat
mir gegenüber bis heute nur eine einzige Bemerkung gemacht. 1995, als wir
zur Feier "50 Jahre Befreiung Dachau" fuhren. Auf der Fahrt vom Münchner
Flughafen nach Dachau hat sie beiläufig gesagt: Du hast gar nichts erlebt,
Ignatz. Du warst nicht in Bergen-Belsen. Das war der einzige Satz, den meine
Frau mir gegenüber jemals über diese Zeit verloren hat.
STERN: Aber mit Ihrer
Tochter Naomi Ann haben Sie gesprochen?
BUBIS: Nur einmal, als
die amerikanische Holocaust-Serie lief. Wir haben aber nicht über das eigene
Schicksal gesprochen. Wie auch sollte ich meiner eigenen Tochter erzählen,
wie würdelos man sich selbst gemacht hat, wie würdelos man gemacht wurde.
STERN: Warum sind Sie in
Deutschland geblieben?
BUBIS: Ich habe nach
dieser Antwort nie gesucht. Die einzige Frage, die ich mir heute stelle,
ist: Wie hast du es 1945 überhaupt fertiggebracht, nach Deutschland zu
kommen?
STERN: Und was ist die
Antwort?
BUBIS: Es klingt schlimm
und auch paradox, wenn ich das jetzt sage: Ich habe Israel 1951 zum ersten
Mal besucht. Ich kam mir dort irgendwie fremd vor. Ich kam zurück nach
Berlin und Stuttgart - dort lebte ich damals - und war zu Hause.
Mit Ignatz Bubis
sprachen Michael Stoessinger und Rafael Seligmann.