Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden
Dieser Artikel erschien in der SZ vom 9.7.1999 in der
Serie "Wer Macht hat"
Das Gewicht der Wahrhaftigkeit
Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden, ist
zur moralischen Instanz geworden, weit über sein Amt hinaus – und leidet doch an
der Ohnmacht, die damit einhergeht
Frankfurt, im Juli – Er sitzt nun im Rollstuhl, seit sechs
Wochen schon. Erst hat man ihn am Rücken operiert, dann brach ein mürber Knochen
in der Hüfte, als er in Nizza aus einem Taxi stieg, nun hat er eine Thrombose in
der Wade. "Furchtbar", sagt Ignatz Bubis, "furchtbar . . . furchtbar." Aber er
meint nicht die Schmerzen und nicht die gesundheitliche Gefahr. Er meint den
kleinen schwarzen Kalender in seiner Hand.
Er kann nicht reisen, oder nur in Ausnahmefällen. Ignatz
Bubis zitiert aus seinem Terminplaner, wo er nicht sein wird in diesen Tagen:
Einweihung einer Gedenkstätte in Bad Friedrichshall, deutsch-tschechisches Forum
in Nürnberg, Eröffnung des Studienganges "Judaistik" in Leipzig, eine Tagung in
Stuttgart, eine Sitzung irgendwo in Brandenburg. In Bubis’ Gesicht steht die
Sehnsucht eines von Ärzten zur Diät genötigten Gourmands, der aus Speisekarten
vorträgt. "In Osnabrück wäre eine Geschichte heute", murmelt er, "und gestern
wäre eine in Braunschweig gewesen."
Er ächzt. Eine Konferenz-Teilnahme in New York – abgesagt.
Aber hier, das ist gut: Nach Budapest muß er. Der European Jewish
Congress tagt, "und ich bin der Präsident". Auch treffen sich in Ungarn
Vertreter aller Kirchen des Balkans, "das habe ich in die Wege geleitet, da
muß ich hin".
Es ist ihm peinlich, einen Termin abzusagen, auch jetzt.
Er möchte niemanden enttäuschen. Man habe sich oft in der Planung nach ihm
gerichtet, sagt er, nun komme er nicht. Es ist ihm aber vor allem unerträglich,
sich nicht bewegen zu können. Ignatz Bubis hat in diesen Wochen etwas von einem
Mobilitäts-Junkie, dem man sein Suchtmittel genommen hat. Einerseits.
Andererseits stellt man bei dieser Gelegenheit wieder
einmal fest, daß er an verblüffend vielen Stellen erwünscht, begehrt, gebraucht
wird. Daß man ihn dabeihaben will und reden hören möchte. Und daß, selbst wenn
er nur am Schreibtisch sitzt, bei jeder denkbaren Gelegenheit Ignatz Bubis von
Journalisten um seine Stellungnahme gebeten wird. Sei es der Brand eines
Asylbewerberheimes, sei es der Krieg im Kosovo – Bubis wird angerufen. "Herr
Bubis, wer hat schuld?" fragte die Bunte, als in Solingen fünf Türken bei
einem Anschlag starben. Ja, woher soll er’s denn wissen?!, möchte man rufen.
"Ich fühle mich manchmal überfordert", sagt er. "Es werden
zu große Erwartungen in mich gesetzt." Er ist in den sieben Jahren, in denen er
Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland ist, zu einer moralischen
Instanz geworden, weit über sein Amt hinaus. Es gibt niemand, den man ähnlich in
Anspruch nehmen würde, keinen Kirchenmann, keinen Schriftsteller, keinen
Politiker – niemand, nur Bubis. Und warum?
Weil, sagt Salomon Korn, Mitglied im Präsidium des
Zentralrates, dieses Land jemand wolle, der die Richtung vorgebe in Fragen des
Umgangs mit den Juden und mit anderen Minderheiten. Man erwarte "das Machtwort
des jüdischen Oberschiedsrichters – und gleichzeitig auch im stillen eine Art
Koscher-Stempel in moralischen Fragen". In Deutschland, fügt Korn hinzu, habe
man Angst vor dem moralischen Risiko, vor der Eigenständigkeit, vor der
Verantwortung. Grundsätzlich seien die Anrufer ja auf der Suche nach
Bestätigung, nicht nach Widerspruch.
"Es ist ein Stück freiwillige Entmündigung eines Teils der
Gesellschaft", sagt Korn. "Es wäre richtiger, nicht Bubis, sondern
nicht-jüdische Politiker anzurufen, die eine Meinung der Mehrheitsgesellschaft
zu äußern hätten und das dann aber auch auf ihre Schultern nehmen müßten." Immer
noch hätten viele nicht begriffen, sagt Michel Friedman, auch Mitglied im
Präsidium des Zentralrates, "daß wir alle uns auseinanderzusetzen haben
mit Angriffen auf die Demokratie und die Menschlichkeit, die den Grundkonsens
unseres Zusammenlebens in Frage stellen. Das müssen wir doch nicht aus
Freundlichkeit für irgendeine Minderheit tun."
Moralische Macht einer moralischen Instanz? Oft ist
es Feigheit, Hilflosigkeit, Sprachunfähigkeit, die sich da fragend, aber massiv
äußert. Er habe nun einmal angefangen, sagt Bubis, auf Fragen zu antworten, "und
das löst weitere Fragen aus". Oft wolle er nicht reden, dann komme der dezent
empörte Hinweis: Sie müssen doch eine Meinung haben! Empfindet er das als
Zumutung? Ja, seufzt Ignatz Bubis. Und ruft: "Das ist Ohnmacht, und nicht
Macht!"
Landkarten auf den Knien
Es ist manchmal, als befinde er sich in einem Spiel, aus
dem schwer auszusteigen ist. Will einerseits etwas sagen, hat eine Meinung,
möchte etwas bewirken bei den vielen Terminen, die er sich auflädt. Weiß
andererseits, daß er benutzt wird. Und täglich bekommt er Briefe von jenen, die
ihn für allmächtig halten, die glauben, er könne hier eine Abschiebung
verhindern, dort Asyl gewähren. Er gehört dem FDP-Bundesvorstand an, und auf
einem Parteitag hat er einmal gegen die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl
gesprochen. "Danach gab es den größten Applaus, den ich je auf einem Parteitag
bekommen habe, standing ovations. Aber nicht einer meiner
Änderungsanträge wurde angenommen. Da merken Sie die Ohnmacht."
Er will von Macht nichts hören, was ihn selbst betrifft.
Als handele es sich um eine aggressive Unterstellung, findet er es "schlimm,
wenn einem als Macht ausgelegt wird, wenn man doch nur glaubt, sich moralisch zu
verhalten". Aber hat er nicht einiges dazu beigetragen, daß Steffen Heitmann
gottlob nicht Bundespräsident wurde, der Mann aus Dresden, dem zum Thema
Judenvernichtung einfiel, diese sei zwar einmalig, aber es gebe "viele einmalige
historische Vorgänge"? Man solle sich nichts vormachen, sagt Bubis, "wir haben
Glück gehabt, daß er es nicht geworden ist". Außerdem habe Weizsäcker viel
schärfer ablehnend über H. geurteilt.
Was ihn selbst und dieses Amt angehe . . . Er sei
erschrocken gewesen, als er 1993 von einer Wochenzeitung ins Gespräch gebracht
wurde. "Eins habe ich gemeinsam mit Heitmann, eins trennt mich von ihm", sagt
er. "Wir sind beide als Bundespräsidenten ungeeignet. Nur: Ich weiß es, er
nicht." Ihm selbst fehle einfach jener Sockel an politischer Erfahrung, den ein
Bundespräsident benötige.
Das ist ja das Erstaunliche: Daß einer zur moralischen
Instanz wurde, der jahrzehntelang alles andere tat, als sich darauf
vorzubereiten. Bubis ist der klassische Selfmademan, reich geworden durch
Geschäfte mit Schmuck und Immobilien, getrieben vom Willen, nie wieder von
jemand anders abhängig zu sein, selbst in Banalitäten des Alltags nicht.
Legendär sind die Anekdoten, in denen er seinen Fahrer mit Landkarten auf den
Knien durchs Verkehrsgewühl dirigiert, obwohl der Mann sich allein gut
zurechtfände. Als er noch mit Edelsteinen handelte, hat er die Schmuckpäckchen
für den Versand selbst geschnürt. Und bis heute steht Bubis wie jeder andere im
Frankfurter Telephonbuch (was ihm die widerwärtigsten Anrufe mitten in der Nacht
einträgt). Er habe eine Firma, müsse erreichbar sein, sagt er. "Ich habe es in
meinem Leben nie anders gemacht."
Er hatte immer alles im Griff, und was er nicht im Griff
haben konnte, hielt er von sich fern. Jene überwältigenden Empfindungen
angesichts des Verlusts der eigenen Familie durch den Holocaust besprach Ignatz
Bubis jahrzehntelang nicht einmal mit sich selbst. "Was für Nerven muß ich
gehabt haben!" ruft er heute entgeistert: in einem Land zu leben, wo Hans
Globke, juristischer Kommentator der Nürnberger Rassegesetzgebung von 1935,
Adenauers Staatssekretär war.
Erst 1978, als die Holocaust-Serie im Fernsehen lief,
brach er das Schweigen über sein eigenes Schicksal und das seiner Familie:
Bubis’ Vater wurde auf dem Marsch in den Tod an jenem Zwangsarbeitslager im
polnischen Deblin vorbeigetrieben, in dem der Sohn lebte. Soldaten hinderten den
15jährigen daran, zu ihm zu stürzen. Auch Bruder und Schwester wurden ermordet.
Die Mutter starb 1940 an Krebs. Nun spricht er über die Bilder der Familie, die
neben seinem Schreibtisch hängen. Er trägt in seiner Brieftasche das Bild seiner
Nichte, Tochter seines Bruders. Er mag es nicht an die Wand hängen, denn er
könne es nicht beiläufig betrachten, "es berührt mich zu sehr". Immer hat er es
bei sich, "damit sie nicht vergessen ist. Es gibt ja sonst niemand, der sich an
sie erinnert."
Bubis spricht dann über den Beschluß des Bundestages, in
Berlin das Holocaust-Mahnmal des Architekten Eisenman zu bauen. Nur anfangs hat
er sich an der Diskussion beteiligt. Ist nicht die Debatte darüber lange auch
deswegen so endlos-entschlußlos gewesen, weil eben gerade Bubis nichts dazu
sagte? Er wollte, wie er sagt, "nicht der Oberzensor sein, nicht der, der es
verlangt. Ich habe es dem Bundestag überlassen. Ich meine, daß es sich die
Bundesrepublik schuldig ist, daß sie es macht. Aber weil sie es will,
nicht weil das Ausland es will, oder aus schlechtem Gewissen."
Eisenmans Stelenwald erinnert ihn an Treblinka, wo es, wie
er sagt, ein riesengroßes Feld von Steinen gebe, beschriftet mit den Namen der
Orte, in denen es einst jüdische Gemeinden gab. 800 000 Juden wurden dort in
dreizehn Monaten umgebracht, darunter Bubis’ Vater, vielleicht auch Bruder,
Schwester, Schwägerin. Bis 1989 habe er es nie geschafft, nach Treblinka zu
reisen, sagt Bubis, obwohl er jedes Jahr ein-, zweimal in Polen gewesen sei, in
Auschwitz, auch Majdanek.
Jedesmal, sagt er, habe es "einen objektiven Grund"
gegeben, Treblinka nicht zu besuchen. 1988 zum Beispiel, als er den Besuch fest
vorhatte, explodierte kurz zuvor eine Bombe vor dem jüdischen Gemeindezentrum in
Frankfurt, und er mußte zurück. 1989 hatte er eine Autopanne. Aber diesmal
setzte er den Weg fort, ging in einer langen Dämmerung den zwei, drei Kilometer
langen Weg vom Bahnhof zum Lager entlang der einstigen Bahnlinie, von der noch
die Abdrücke der Schwellen im Boden sichtbar sind, sonst nichts.
Was ihm fremd ist
Er hat ihn fast umgebracht, dieser Gang, er trat ihn
seither nie wieder an. "Ich bring’s nicht", sagt er. "Ich war nie wieder dort.
Ich wäre beinahe zerbrochen." Wenn das Mahnmal in Berlin einmal stehe,
"vielleicht fahre ich dann wieder hin. Ich will nicht aus dieser Welt gehen,
ohne noch einmal in Treblinka gewesen zu sein."
Seine Ämter (seit 1983 ist er Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde in Frankfurt) haben ihn gezwungen, die eigene Biographie neu zu
betrachten. Es sei dieser Lebenslauf, der ihm moralische Autorität gebe, sagt
Michel Friedman, verbunden mit einer in Deutschland einmaligen Authentizität der
Person: ein Mensch ohne jene tausend Mauern, hinter denen Politiker sich
verbergen, einer, der nichts mit den Insignien der Macht anzufangen weiß, mit
denen andere sich schmücken, von teuren Anzügen bis zu persönlichen Referenten,
dem Macht an sich auch nichts bedeutet. Bubis sagt über Gerhard Schröder, er
habe den Eindruck, der wollte unbedingt Kanzler werden, aber nun, da er
es sei, "nutzt er die Macht des Bundeskanzlers gar nicht so. Er läßt alle
gewähren, Hauptsache, er ist Bundeskanzler." Er sagt das fast staunend und fügt
hinzu: "Mir selbst ist das fremd. Mir würde es um die Sache gehen."
Er spricht eine direkte, offene Sprache und ist fast
außerstande, nicht spontan zu handeln. Er erzählt von jener großen Kundgebung im
November 1992 vor dem Reichstagsgebäude, bei der Richard von Weizsäcker vor
einer halben Million Menschen sprach und plötzlich Tomaten und Steine flogen.
Ignatz Bubis stand gar nicht auf dem Podium, stürzte nach oben und schrie die
Störer über das Mikrophon an: "Ich schäme mich für Euch!" Er habe nicht an sich
halten können, sagt er, "ich hatte das Bedürfnis, mit denen zu schimpfen".
Stolpe, Genscher, Laurien, Diepgen gratulierten ihm hinterher. Die anwesende
politische Elite des Landes lag ihm zu Füßen.
Als er einmal sitzenblieb
Das ist das eine. Das andere: Als Martin Walser seine Rede
in der Paulskirche gehalten, von Auschwitz als "Moralkeule", vom Wegschauen und
vom "Erinnerungsdienst" gesprochen hatte, stand die Elite des Landes auf und
applaudierte. Nur zwei blieben sitzen und klatschten nicht: Ida und Ignatz
Bubis. Nichts zeigt deutlicher, wie nahe moralische Macht und Ohnmacht bei Bubis
liegen. Einerseits die Einsamkeit dieses Moments, andererseits die Tatsache, daß
er mit bei ihm nicht üblicher Schärfe der Reaktion eine Debatte erzwang, wie sie
niemand sonst hätte herbeiführen können.
Er nimmt so etwas nicht mehr hin seit 1985, als er mit
anderen die Bühne des Frankfurter Schauspielhauses besetzte und gegen die
Aufführung von Faßbinders
Der Müll, die Stadt und der Tod demonstrierte, wo es heißt: "Er saugt uns
aus, der Jud. Trinkt unser Blut. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen." Hätte er
sich damals nicht handelnd aus seiner Ohnmacht befreit, hätte er das Land
verlassen.
Er sagt, er sei mit Walser in einem einig: So wie der
Schriftsteller denke die Mehrheit. "Walser wollte ein Tor öffnen, und er hat ein
Tor geöffnet." Er fügt hinzu, er sei empfindlicher geworden in den Ämtern, die
er bekleide. Die ständige Konfrontation mit nächtlichen Anrufen, die
Beschimpfungen in Briefen hätten ihn sensibler gemacht, sein Verständnis für die
leicht abrufbare Gereiztheit seines Vorgängers Galinski vergrößert. So viele
wollen einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen, sich von ihr
entfernen. Ihm aber ist sie in den Jahren nah und näher gekommen.
Und immer noch passiere es, sagt er, daß er einen Tag mit
einem Bundestagsabgeordneten verbringe, und nach vielen Stunden des
Beisammenseins sage jener, er habe erst gestern "mit Ihrem Botschafter" zu
Mittag gegessen. Er meint den Botschafter Israels, für einen winzigen Moment des
Kontrollverlustes vergessen habend, daß Bubis ein Deutscher ist wie er, indes
anderen Glaubens.
Mag sein, daß Ignatz Bubis eine Art historischer Mission
verspürt: die Juden als Minderheit so weit wie möglich wieder in diese
Gesellschaft zu integrieren. Aber er ist nun 72. Er ist von jeher besessen von
der Verantwortung, die er sich aufgebürdet hat. "Ich möchte immer das Richtige
tun", sagt er. "Mich quält es, wenn ich das Gefühl habe, nicht das Richtige zu
tun."
Er spürt etwas von Endlichkeit, von den Grenzen des
Einzelnen und wohl auch – dann und wann – von Resignation. Er sagt: "Ich habe
gedacht, daß die Leute einsehen werden, daß Judentum Deutschsein nicht
ausschließt. Das, was einmal war." Er hat sich immer als "deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens" bezeichnet. Nun sagt er: "Ich wollte nicht beweisen, daß ich
so bin. Ich habe gedacht, die anderen werden es kapieren. Sie wollen es aber
nicht kapieren. Ich habe eingesehen, daß zuviel dazwischen war und daß das nur
langsam wachsen kann."
Axel Hacke
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1999 - Süddeutsche Zeitung. Diese Seite wurde am 13.08.99 um 19:41 Uhr erstellt.
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