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„Es ist für uns, damit wir wissen, was mit uns passiert ist“

Wo Heines Tante und Einsteins Onkel liegen

Ein evangelischer Theologe hält die Erinnerung an die jahrhundertealte jüdische Tradition eines schwäbischen Dorfes wach

Über das Holocaust-Memorial in Berlin redet man sich seit Monaten die Köpfe heiß. Schließlich soll das Mahnmal in der Hauptstadt die Gedenkstätte für den Mord am gesamten europäischen Judentum werden. Einen anderen Weg, mit der schweren Vergangenheit umzugehen, sie näher beim Volk zu lassen, sucht der evangelische Theologe Ludwig Bez mit seinem „Pädagogisch-Kulturellen Centrum“ im schwäbischen Freudental.

Freudental, 17. März – Manche Leute glauben, Herr Bez sei so etwas wie der Rabbiner von Freudental an der Schwäbischen Weinstraße. Wenn sie dann in das kleine Dorf am Fuß des Strombergs kommen, sind sie enttäuscht. Herr Bez ist kein Rabbiner. Und die ehemalige Synagoge ist weiß und leer. „Wo sind denn die Sachen aus der Synagoge?“ fragen die Besucher. Nichts mehr da, antwortet Ludwig Bez. „Nichts mehr da? Warum sind wir denn hier?“ Dann sagt Bez zu ihnen: „Sie sind da, um zu sehen, daß es nichts mehr zu sehen gibt.“ Alles ist vernichtet, die Thorarollen und die Menschen.

Wie man den Verlust sichtbar macht, darüber debattieren sie im entfernten Berlin seit Jahren. Ein Mahnmal für den Holocaust soll entstehen, aber wie es aussehen wird, ist noch nicht entschieden. Als Bez am zweiten Advent 1981 nach Freudental kam und die halbverfallene Synagoge sah, war ihm klar: „Das darf keine museale Attrappe werden und auch kein Mahnmal. Ein Mahnmal erledigt die Vergangenheit, setzt einen Schluß.“ Bez und der Freudentaler Verein zur Erhaltung der Synagoge einigten sich schnell, daß hier ein Ort der Begegnung entstehen soll. Sie renovierten das alte Gebäude und richteten ein „Pädagogisch-Kulturelles Centrum“ (PKC) ein. Bez ist Geschäftsführer. Kürzlich feierte das Zentrum seinen dreizehnten Geburtstag; dazu gratulierten die israelische Photographin Varda Polak-Sahm mit einer Ausstellung und der israelische Botschafter in Bonn, Avi Primor.

Manche Leute glauben, Bez esse wenigstens koschere Speisen, wenn er schon kein Rabbiner sei. Sie denken, wer eine Synagoge vor dem Abriß rette, müsse Jude sein. Bez hat aber evangelische Theologie studiert, auch Sport und Sozialpädagogik. 1979 ging er nach Israel und lebte ein Jahr im Kibbuz Schamir. Am Anfang wollte man ihn dort gar nicht haben. Eine Frau drohte, den Kibbuz zu verlassen, falls der Deutsche noch eine Nacht länger bleibe. Judith Jäger, so heißt die Frau, überlebte als einzige ihrer Familie den Holocaust. Nach stundenlangen Gesprächen lenkte sie ein und er durfte bleiben. Sie erkannte, daß Bez nicht einer dieser Deutschen ist, die immer „ja, aber“ sagen, wenn es um ihre Geschichte geht.

Durch die Erzählungen der Menschen in Israel beschäftigte sich Bez erstmals intensiv mit der Judenvernichtung in Deutschland. „Mir wurde damals klar“, sagt er, „daß meine persönliche Vergangenheit, obwohl ich Jahrgang ‘49 bin, eng mit dem Faschismus verknüpft ist.“ Sein Vater war Ortsgruppenleiter der NSDAP. Auch nach dem Krieg habe der Vater an NS-Erziehungsmethoden festgehalten. „Das Schwache in mir sollte weg, nur das Starke zählte.“ Der Vater arbeitete bald nach der Kapitulation wieder als Grundschullehrer.

Daß die Bewohner des Kibbuz Schamir Bez schnell vertrauten, hat er seiner Überzeugungskraft zu verdanken. Das hat er sich bis heute bewahrt: Wenn er mit jemandem spricht, hört er sich die Fragen geduldig an und überlegt lange, bevor er antwortet. Im Kibbuz Schamir wollten sie ihn als Sporttrainer behalten. „Ich habe aber gespürt“, sagt Bez, „daß mein Platz nicht in Israel ist.“ Als Bez 1980 nach Deutschland zurückkehrte, arbeitete er zunächst als Religionspädagoge in Stuttgart. Die Sache mit der ehemaligen Synagoge sei ihm „vor die Füße gelegt worden“. Ein Freund hatte ihm erzählt, in Freudental gebe es eine alte Synagoge, die abgerissen werden solle. So reiste er nach Freudental und blieb.

Im vergangenen Jahr hat Bez etwa 100 Schulklassen und Erwachsenengruppen empfangen. Und nachdem er ihnen die Illusion genommen hat, sie könnten ein jüdisches Schmuckkästchen besichtigen, erzählt er ihnen aus der Geschichte des Dorfs. Seit dem 16. Jahrhundert haben Juden in Freudental gelebt, 1770 erbauten sie die Synagoge. 377 Freudentaler jüdischen Glaubens zählte man 1862. Außerhalb des Dorfes, auf einer Anhöhe, liegt der jüdische Friedhof. Hier sind Heinrich Heines Tante und Albert Einsteins Onkel begraben. Was in 400 Jahren an jüdischer Kultur gewachsen war, wurde am 10. November 1938 zerstört.

In allen deutschen Städten fand das Pogrom in der Nacht zuvor statt, in den Dörfern stachelten die SA-Truppen die Bevölkerung erst am Morgen auf. In seinem Büro bewahrt Bez Kopien von Dokumenten aus dem Hauptstaatsarchiv in Stuttgart auf. Darin erzählen Freudentaler, was an jenem Tag und der darauffolgenden Nacht in ihrem Dorf passierte. Sie schreiben über die Gewaltexzesse von Nachbarn gegen Nachbarn. Sie nennen die Namen der Täter, von denen einige heute noch im Dorf leben. Und sie nennen die Straßen und Hausnummern, in denen Menschen gequält wurden. Eine Frau schreibt, sie habe gesehen, wie die Nachbarinnen ins Haus der Frau S. eindrangen. Sie habe gehört, wie sie die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstürmten, „ebenso das Klatschen der Schläge und das Jammern und Schreien der bald 80jährigen Frau S., welches mit der Zeit der Schläge immer schwächer wurde“. So zogen die Frauen von Haus zu Haus, während ihre Männer ein paar Meter weiter Nachbarn so zusammenschlugen, daß die Opfer heute noch unter Gesundheitsschäden leiden.

Bez hat in den letzten Jahren immer wieder ehemalige Freudentaler aufgesucht, die vor den Nazis flüchten konnten. Einige haben das PKC besucht, um von ihrer Verfolgung im Dritten Reich zu erzählen. Andere wollen nicht in ihre frühere Heimat zurückkehren. Als Bez die ehemalige Freudentalerin Margot Rubin fragte, warum sie nicht zu Besuch kommen wolle, erzählte sie ihm folgende Geschichte. Ihr Vater Julius Stein ließ sich 1948 in London röntgen. Da fragte ihn der Arzt: „Sagen Sie, hatten Sie mal eine Lungenkrankheit?“ Nein, antwortete Stein. Woher dann diese Narben kämen. „Die sind von 1938“, antwortete Stein. Damals, am 10. November, schlugen ihn der Freudentaler Bürgermeister S. und der Lehrer B. mit Stahlruten zusammen.

Nun kann man fragen, was es bringen soll, wenn man heute erfährt, wer vor 60 Jahren an dem Pogrom beteiligt war. „Es geht nicht um die Schuldfrage“, sagt Bez. „Es geht um uns. Wir müssen verstehen, daß es 1945 nicht vorbei war“, sagt Bez. Ortsgruppenleiter B. war weiterhin als Lehrer tätig, auch andere wollen heute noch nichts von einem Verbrechen wissen. „Meine Generation ist in einer derart verlogenen Welt aufgewachsen. Viele Menschen sind noch stark vergiftet von der Katastrophe. Das PKC dient nicht einer fadenscheinigen Versöhnung mit den Juden“, sagt Bez. „Es ist für uns, damit wir wissen, was mit uns passiert ist.“

SZ vom 18.03.1998 von Annabel Wahba

Freudental: Pädagogisch-Kulturelles Centrum Ehemalige Synagoge

Die ehemalige Synagoge Freudental, 1770 erbaut, gilt als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung. Bis zu seiner Zerstörung im Novemberpogrom 1938 war das klassizistische Gebäude das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde Freudentals. 1941 und 1942 wurden vierzehn Männer, Frauen und Kinder in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Damit endete die über vierhundertjährige jüdische Geschichte in Freudental.

1983-1985 wurde die ehemalige Synagoge mit Turm und Nebengebäude renoviert und als Tagungsstätte eingerichtet.

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