3. Verhalten:
Tschechische Häftlinge und der KZ-Alltag
3.2
Solidarität3.2.2
Beispiel: Das Krankenrevier
Der Häftlingskrankenbau in Dachau war ein grauenvoller
und brutaler Ort. Wer hier aufgenommen wurde, war schwer krank oder verletzt und
benötigte Ruhe und intensive Pflege. Doch statt dessen waren hier die Häftlinge
den SS-Ärzten sowie einigen sadistischen Pflegern "im wahrsten Sinne des Wortes
auf Gnade und Ungnade ausgeliefert."
Im "Revier" wurde gequält, gefoltert und getötet. Da die Patienten nicht als
menschliche Wesen, sondern lediglich als "geeignete(s) Material"
betrachtet wurden, fanden an diesem Ort unter dem Deckmantel der Medizin
unzählige Menschenexperimente statt.
Zámečník schildert aus eigener Erfahrung, dass hier die
"Kranken [...] in überfüllten Räumen, von quälendem Hunger geplagt, ohne
Medikamente und ohne ärztliche Pflege" lagen und starben.
Unter den Häftlingen gab es zwar auch einige Ärzte, doch ihre Arbeit war an
diesem Ort bis zum Jahr 1942 nicht erwünscht. Erst als die Häftlinge massenhaft
in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden sollten, und die Sterblichkeitsrate
im Zuge des "Totaleinsatzes" gesenkt werden musste, setzte die SS-Führung einige
von ihnen im "Krankenrevier" zur Pflege der Patienten ein. Etwa zum gleichen
Zeitpunkt gelangten einige Tschechen als Pfleger, Schreiber und sogar als Ärzte
gerade hier an einflussreiche Stellen.
Eine sehr exponierte Persönlichkeit, welche in nahezu
keinem einzigen Erinnerungsbericht, egal welcher nationalen Herkunft, unerwähnt
und ungewürdigt bleibt, war der tschechische Arzt Dr. František Bláha. Nach
Zámečník wurde Bláha durch seine Hilfsbereitschaft "zu einer der populärsten
Persönlichkeiten des Lagers."
Auch er wurde im Jahr 1942 vom SS-Chefarzt als Arzt im Krankenrevier zugelassen
und als Chirurg sogar dem Operationssaal zugeteilt. Doch nachdem er es bald
darauf ablehnte, an mehreren gesunden Häftlingen Operationen durchzuführen,
wurde er in die "Totenkammer" versetzt und mit der Funktion des Leichenträgers
betraut. Doch Bláha erkannte seine neuen Möglichkeiten schnell und nutzte diese,
gerade für viele SS-Männer verachtenswerte und ekelerregende Aufgabe, für
solidarische Handlungen gegenüber zahlreichen Mithäftlingen aus.
Mit seiner Aufgabe erhielt Bláha Zugang zu allen, auch zu
den verbotenen Bereichen des Lagers und gelangte so "in die isolierten
Invalidenblöcke, in den Strafblock und auch in den Bunker".
So konnte er auch Häftlinge der äußersten Randgruppen ärztlich versorgen, die
das Lager wahrscheinlich sonst nicht überlebt hätten. In einem "fahrbarem
Blechsarg, vor dem die SS-Männer mit Abscheu ausspuckten",
gelang es ihm, unbemerkt Medikamente und Lebensmittel ins Lager zu schmuggeln.
"Wenn am Abend die SS-Leute das Lager verlassen hatten, ging er durch die
einzelnen Abteilungen und untersuchte unabhängig davon, ob das den Herrn
Pflegern passte oder nicht, die Kranken, nahm verschiedene Eingriffe vor und
empfahl bestimmte Therapien."
Der deutsche Überlebende Joseph Joos erinnert sich: "[...] wie oft mußten wir
seine diagnostische Kapazität in Anspruch nehmen, damit er einem kranken
Kameraden, der nicht ins Revier aufgenommen war oder nicht aufgenommen werden
wollte, einen sachdienlichen Rat erteilte. Er hat nie versagt."
Mit seinen subversiven Hilfsaktionen rettete er das Leben zahlreicher
Häftlinge und genoss unter ihnen daher ein sehr hohes Ansehen. Nach der
Befreiung vertrat er die tschechoslowakischen Internierten im Internationalen
Häftlingskomitee und wurde zudem mit Fragen der gesundheitlichen Probleme
während der anschließenden Quarantänezeit betraut.
In der TBC-Abteilung des Krankenreviers arbeitete und
half Dr. Josef Halaška, ein weiterer tschechischer Arzt. Der Überlebende
Ladislav Kopřiva erinnert sich, dass Halaška Häftlinge aufnahm, welche durch
Hunger und schwere Arbeit geschwächt waren und dringend einige Tage Ruhe
brauchten.
Da diese Abteilung nach einer gewissen Zeit etwas bessere Nahrung erhielt,
konnten sich die Erschöpften wenigstens für eine kurze Zeit erholen. Halaška
hielt in seiner Abteilung sogar Häftlinge versteckt, denen die Gefahr eines
"Invalidentransportes" drohte. Damit rettete er einigen Menschen das Leben. Eine
große Hilfe war auch Rudolf Císař, welcher Pfleger auf dem 7. Infektionsblock
war, den Zámečník als eine "Baracke des Grauens" bezeichnet. Hier wurden
besonders viele schwache Patienten gequält und durch Phenolspritzen getötet.
Císař gelang es während der Typhusepidemie im Jahre 1942/43, eine beträchtliche
Menge an Medikamenten und Lebensmitteln ins Lager zu schmuggeln, mit deren Hilfe
viele todkranke Häftlinge wieder aufgepäppelt und gerettet werden konnten.
In der
Revierschreibstube saß wiederum der tschechische Häftling Kopřiva, welcher durch
seine einflussreiche Stellung viele Hilfsaktionen koordinierte. Er beschaffte
Medikamente und Lebensmittel für bedürftige Gefangene, hielt mit Häftlingen in
den Straf- und Isolierblöcken Kontakt und kümmerte sich darum, dass bestimmte
Kranke überhaupt ins Revier aufgenommen und gepflegt wurden.
Abschließend war für kranke, alte und gefährdete Häftlinge die "Station für
septische Chirurgie", die sich auf Block Nr. 1 befand, ein enorm wichtiger
Zufluchtsort. Hier wirkte der "außerordentlich gewissenhafte"
deutsche Oberpfleger Heinrich Stöhr, dem mit Stanislav Zámečník sehr ein junger
und unerfahrener Tscheche zur Seite stand.
In dieser Abteilung wurden Patienten beherbergt, die
durch die Schwere ihrer Erkrankung längst in die Kategorie der Invaliden
gefallen wären und so vermutlich nicht überlebt hätten. Eine Anordnung der SS
besagte nämlich, dass sich kein Patient länger als drei Monate im Krankenrevier
aufhalten dürfte. Da dies jedoch bei vielen Patienten wegen ihres schlechten
Gesundheitszustandes nicht eingehalten werden konnte, wurden sie vorübergehend
für wenige Tage entlassen, um darauf gleich noch einmal auf der Station
aufgenommen zu werden.
Bei einigen besonders schweren Fällen "veranlasste Stöhr eine fingierte
Entlassung."
Auf diese Weise konnten manche extrem bedrohten Patienten sogar mehrere Jahre
auf dem Revier verbringen. Begünstigt wurde die Tarnung zudem durch den extremen
Gestank, der in den Räumen dieser Abteilung aufgrund der eitrigen Wunden
herrschte.
Denn die SS-Männer ekelten sich davor und betraten die Räume nur sehr selten.
Während der Selektionen für einen "Invalidentransport"
wurden die schwer Kranken wiederum auf andere Stuben verlegt, die Fieberkurven
versteckt und die Betten so präpariert, "dass sie unbelegt aussahen".
In der vierten Stube dieses Blocks, der sogenannten Prominentenstube, richteten
die Pfleger zudem "ein Asyl für einige bekannte Persönlichkeiten und gefährdete
Menschen ein."
Hier überlebten unter anderem der über 80-jährige Karel Feierabend, der
Holländer Nico Rost, der deutsche Priester Hans Carls und der Belgier Arthur
Haulot. Zámečník versteckte darüber hinaus in seiner eigenen Stube bis zum
Kriegsende die bereits erwähnten Tschechen Josef Truhlář und Graf František
Bořek-Dohalský sowie den tschechischen Arbeiter Alois Dudek.
Schilderungen zur Solidarität nehmen in den Memoiren und Erzählungen
tschechischer Überlebender oft den größten Raum ein. Gerade die schriftlichen
Memoiren lassen klar erkennen, dass der Zeitzeuge nicht nur für sich selbst,
sondern auch als Teil der ehemaligen tschechischen Häftlingsgruppe berichtet.
Das individuelle und das kollektive Gedächtnis bilden dabei meistens eine
Einheit und die persönliche Erfahrung des betreffenden Zeitzeugen wird damit
nicht selten überlagert. Die elende und brutale Situation des
Konzentrationslagers sowie die eigenen traumatischen Erlebnisse werden so in
vielen Berichten regelrecht verdrängt. An ihre Stelle treten Geschichten über
enges Gemeinschaftsgefühl und nationale oder sogar internationale Solidarität.
Vladimír Feierabend vergleicht seine Erfahrungen im KZ sogar mit dem
"Militärdienst". "Schlechte Erfahrungen vergisst man und erinnert sich vor allem
nur an positive, solidarische Erfahrungen."
Sicherlich hatte die Solidarität im Lager für jeden Häftling einen enorm hohen
Stellenwert und bewahrte viele in dem extrem vulgären Umfeld vor einem geistigen
und moralischen Verfall. Doch der Forscher wird mangels Eigenerfahrung bei
diesem Thema stets im Dunkeln tappen und daher außer Stande sein, einen
Werturteil zu fällen.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2 Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
10-2004 |