3. Verhalten:
Tschechische Häftlinge und der KZ-Alltag
3.1 Tschechen als Häftlingsgruppe3.1.1
Binnenstruktur
Abgesehen von seiner rassischen, sozialen oder
politischen Verfolgung bestritt jeder Häftling im Konzentrationslager einen
harten, individuellen Überlebenskampf. Jeder einzelne Tag seiner Gefangenschaft
"war bestimmt durch die Zwänge der individuellen Selbsterhaltung",
durch die Beschaffung von guten Arbeitskommandos, von wichtigen Kontakten, von
zusätzlicher Nahrung, Kleidung, Tauschware oder einfach nur etwas Platz für sich
selbst.
Der Lageralltag, der von Hunger, Bedrohung, Gewalt und
Tod beherrscht wurde, schweißte die Häftlinge keineswegs zusammen, was unter
anderem die elende Situation der Juden eindring-lich beweist. Diese Menschen
waren durch den ständigen hohen Vernichtungsdruck sowie durch den täglichen
Hunger zu sozialen Beziehungen nicht mehr fähig. Viele Überlebende vergleichen
die Situation der sogenannten Muselmänner, derjenigen Häftlinge, welche in ihrem
elenden Zustand ausschließlich auf Flüssigkeit und Nahrung fixiert und im
Übrigen vollkommen apathisch waren, mit der eines instinktgeleiteten Tieres. "Im
täglichen Kampf ums Überleben galten die Gesetze des Dschungels, eines
gesellschaftlichen Naturzustands, in dem derjenige die Oberhand behielt, der
rücksichtsloser, kräftiger und verschlagener war als der andere."
Das Lager war keine "Leidensgemeinschaft", auch wenn man in einigen
Häftlingsgruppen Akte der Solidarität und gegenseitigen Hilfe beobachten kann,
welche vor allem auf nationalen, religiösen oder politischen Gemeinsamkeiten und
Identifikationen basierten.
Die Solidarität konnte sich jedoch nur dort entwickeln, wo noch die Kraft und
die Möglichkeit zu helfen oder materielle Bedingungen um zu teilen vorhanden
waren.
Soziale Beziehungen konnten sich demnach nur bei
Häftlingen entfalten, deren Lebens-bedingungen aufgrund ihrer Stellung in der
Häftlingshierarchie verhältnismäßig erträglich waren. Dazu zählten im KZ Dachau
nach einer bestimmten Zeit auch die tschechischen Häftlinge. Die Zugehörigkeit
zu einer festen Gruppe erhöhte unter diesen Umständen ihre Überlebenschancen
maßgeblich. Eine Gruppe von Menschen ist immer stärker und wider-standsfähiger
als ein Individuum. In einer unmenschlichen Umgebung kann sie zudem Halt und
Hoffnung vermitteln, welche wiederum verhindern können, dass sich der einzelne
Häftling aufgibt. Die Gruppe kann den Sinn des Durchhaltens und Überlebens
bestimmen, indem sie die Umgebung des "univers concentrationnaire" (David
Rousset), in der sich der einzelne Häftling befindet, wenigstens für eine kurze
Zeit ausblendet.
So bildete sich auch unter den tschechischen Häftlingen
eine feste Gruppe heraus, welche durch unantastbare Grundsätze die Welt des
Konzentrationslagers zumindest teilweise überwinden wollte. Es ist für die
Situation im Lager bezeichnend, dass sich die Gemeinschaft erst im Jahr 1942
richtig entfalten konnte, da die harten Lebensbedingungen der Tschechen in
Dachau einen solchen Gedanken zuvor nicht zuließen. Erst mit der etwas
verbesserten Lage erhielten sie eine ausreichende Basis für Beschäftigungen,
welche sich jenseits des individuellen Selbsterhaltungszwangs befanden. Der
Überlebende Emanuel Faltus berichtet in seinen Erinnerungen, dass vor
Weihnachten 1941 einige wenige Tschechen, welche auf Block 10 in der dritten
Stube untergebracht waren, unter seiner Führung den geheimen "Klub der
Kameraden" gründeten, "in dem all diejenigen aufgenommen werden dürfen,
die sich während ,der ganzen Orgien’ anständig benommen haben."
Es scheint, als sei dies der Kern jeder weiteren Gruppierung der tschechischen
Häftlinge gewesen. Wie man beobachten kann, wurde nicht jeder Tscheche in den
exklusiven "Klub" aufgenommen. Das wichtigste Aufnahmekriterium war
offensichtlich gutes Benehmen und Anstand, was auf die Absicht hindeutet, dass
die Klubmitglieder das überwiegend vulgäre Nebeneinander im KZ bezwingen
wollten. Nach Faltus war es ihre wichtigste Aufgabe, "auf irgendeine Weise
das raue und abstoßende Zusammenleben, zumindest unter uns Tschechen"
zu glätten. Daher war es ihnen besonders wichtig, unter den tschechischen
Häftlingen in Dachau bzw. überwiegend unter den Bewohnern des zehnten Blocks,
welche sie täglich umgaben, durch die Förderung von nationaler Kultur gepaart
mit altruistischen Taten gegenüber eigenen Landsleuten "ein gewisses Niveau"
wiederherzustellen. "Sobald wir erfuhren, dass irgendein Tscheche besonders
unter Hunger leidet und dass er ein anständiger Mensch ist, wurden sofort
Direktiven ausgegeben und ihm wurde geholfen, ohne dass er meist wusste, von
wem."
Die Arbeit mit Hilfe von "Direktiven" deutet bei den Mitgliedern unweigerlich
auf eine politische, vielleicht sogar auf eine sozialdemokratische oder
kommunistische "vorkonzentrationäre" Prägung hin. Der politische Hintergrund von
František Kadlec, der seinen eigenen sowie den Angaben von Faltus zufolge seit
der ersten Minute zu den Klubmitgliedern gehörte, könnte diese Vermutung
bestätigen. Die Prämisse des Anstands wird auch bei der gegenseitigen Hilfe
immer wieder betont, wobei dies damit gerechtfertigt wird, dass die Mitglieder
"die Erfahrung gemacht (haben), dass es sich nicht lohnt schmutzige
Charaktere zu unterstützen. Nicht nur, dass sie überhaupt keinen Dank oder
Freundschaft erweisen, sondern, wenn sie nichts bekamen, bestahlen sie einen
Kameraden, der die gleiche Portion gehabt hatte, wie sie. [...] Daher sagten wir
uns, dass wenn wir hier schon sterben sollen, dann sollen zunächst die sterben,
die unserem Volk Schande bereiten."
Damit richtete sich die Gruppe gegen diejenigen Tschechen, deren Verhalten im
Lager ausschließlich durch den Selbsterhaltungs-trieb bestimmt war, welcher
keine Rücksichten mehr auf ein "gesittetes" Benehmen nahm. Auch wenn die Regeln
des "Klubs" sehr hart, wenn nicht sogar grausam klingen, entsprachen sie exakt
den Gesetzen des KZ-"Dschungels", in dem, wie es Sofsky betont, "einer häufig
nur auf Kosten der anderen"
überleben konnte. Eine weitere mögliche Erklärung könnte sein, dass diejenigen
Häftlinge, die sich nur noch durch den Trieb, etwas Essbares zu finden, leiten
ließen, den Mitgefangenen tagtäglich ihre eigene Hilflosigkeit und manchmal
sogar die eigenen elenden Zukunftsaussichten demonstrierten. Eine ähnliche
Situation stellte sich im Fall der "Muselmänner" ein, die darum im Lager stets
"eine soziale Mauer der Isolation"
umgab.
Das schlimmste Vergehen, welches viele Häftlinge im Lager
zur Selbstjustiz trieb, und welches oft intern sogar mit der Todesstrafe
geahndet wurde, war der Brotdiebstahl. Zámečník spricht in diesem Zusammenhang
über den "Kult des Brotes",
welcher in den Konzentrationslagern herrschte. Brot bedeutete im Lager das
Leben. Es war zudem das "Hauptzahlungsmittel. Für Brot konnte man alles kaufen.
Wer im Kommando Zugang zu Essen hatte und Brot ersparen konnte, galt als großer
Herr."
Daher kann man analog sagen, dass derjenige, der Brot stahl, dem betroffenen
Häftling sein Leben nahm. Wenn ein solcher Dieb vom Blockpersonal erwischt
wurde, wurde er nicht selten zu Tode gequält. Edgar Kupfer-Koberwitz schildert
eine sehr bewegende Situation, die sich in der "Strafkompanie" an Weihnachten
des Jahres 1940 abspielte. Ein junger Tscheche, der "immer Hunger" hatte,
stahl ein Stück Brot und wurde vom Stubenältesten erwischt.
",Du Sau, du elende! Du mistige Kreatur, du Brotdieb, du verfluchter!
Wart, ich werde dir Brot stehlen. Eine Meldung bekommst du, daß du es weißt,
auch wenn es Weihnachten ist! [...]’ Irgendeine Stimme wurde zu Gunsten des
Diebes laut: ,Er ist jung, er hat eben Hunger gehabt.’ Eine Welle der Empörung
schäumte dem kühnen Sprecher entgegen: ,Was, einen Brotdieb auch noch in Schutz
nehmen? Pfui Teufel! Bist wohl selber einer, daß du für ihn sprichst? Erschlagen
sollte man ihn, erschlagen!’"
Brotdiebstahl war demnach offensichtlich der Inbegriff des unanständigen
Benehmens, welches eben auch von der tschechischen Häftlingsgruppe in Dachau
nicht geduldet werden konnte. Der Gymnasialprofessor Karel Littloch, welcher im
November 1942 aus Mauthausen nach Dachau kam, spricht von einem höheren "Moral-prinzip",
welches unter den Tschechen im Block Nr. 10 und später auch im Block Nr. 20
vorherrschte. "Die kleinste Einheit wurde immer aus drei bis vier Kameraden
gebildet, die sich untereinander einen Spind geteilt haben. Jeder hat auf die
Sachen seines Spindmitbenutzers aufgepasst, und es kam so gut wie nie vor, dass
von dort Brot oder andere Lebensmittel verschwanden."
Unter den Tschechen gab es nach Littloch auch keinerlei Geschäfte mit dem Essen.
Wenn einige unter ihnen in ihrem Arbeitskommando bereits gegessen hatten, was
seit dem Jahr 1943 häufiger vorkam, versuchten sie später ihre übrige Portion,
die ihnen währenddessen im Block von den Mithäftlingen aufbewahrt wurde, unter
diesen gerecht zu verteilen. "Es war wunderbar und so selbstverständlich."
Die egoistischen Gefühle seien schlichtweg unterdrückt worden. Hier muss man
sich allerdings die Frage stellen, ob solche Gefühle tatsächlich aufgrund eines
höheren moralischen Prinzips verdrängt wurden, oder ob nicht vielmehr der
absehbare Ausschluss aus der schützenden Gruppe handlungsweisend gewesen sei. Es
ist durchaus möglich, dass die Angst, nicht mehr dazuzugehören die tschechischen
Häftlinge in diesem Fall mehr prägte als der alltägliche und unaufhörliche
Hunger. Solche Überlegungen sollen jedoch die Solidarität auf dem
"tschechischen" Block, die nach Littloch sowohl in anderen Nationalitätenblöcken
als auch beim Lagerpersonal Respekt erweckte,
in keinster Weise schmälern. Überhaupt fällt die Selbsteinschätzung der
tschechischen Häftlingsgruppe etwa durch die Autoren der Memoiren, sowie durch
die Interviewpartner einstimmig sehr positiv aus. "Die Tschechen wurden zu
einem Beispiel des engen Zusammengehörigkeitsgefühls, den die Häftlinge anderer
Nationalitäten nachahmten. Die meisten Tschechen zeigten im Lager eine
ungeheuere Opferbereitschaft, einen beispielhaften, brüderlichen Zusammenhalt
und eine gegenseitige tiefe Freundschaft."
Jiří Jemelka spricht tief gerührt von einer "unendlich großen Freundschaft,
die bis zum Tod gehen konnte. Jeder hätte für den anderen das Leben gelassen."
Im "Almanach Dachau" ist zudem der Titel "Bruder" für die Bezeichnung der
ehemaligen KZ-Mithäftlinge gebräuchlich. Dies zeigt, welchen Stellenwert die
Gruppe für die Tschechen im Lager hatte. Sie ersetzte hier jede soziale Bindung
aus dem Zivilleben, wie etwa die Familie. Radovan Dražan, der schon mit 17
Jahren nach Dachau eingeliefert wurde, ließ sich dort mit Vorliebe mit "Sohn"
oder "Söhnchen" ansprechen und nannte seine älteren Mithäftlinge
"Vater" oder "Papa".
Die übrigen Aufnahmekriterien waren in vielen anderen
Nationalitätengruppen vermutlich ähnlich. "Entscheidend war: Tscheche und
Antifaschist".
Um dies zu ermitteln, wurden nach Heřman Tausik bereits bei den Neuzugängen
zunächst die Staatsangehörigkeit und unmittelbar danach die politische
Orientierung festgestellt. Die Hauptidee des "Klubs der Kameraden", "der
Nation keine Schande zu bereiten",
war zudem mit einer gewissen Hierarchie verbunden, welche sich nach dem Grad der
nationalen Wichtigkeit einzelner tschechischer Häftlinge richtete. Je nachdem,
wie wichtig eine gewisse Person in den Augen der Tschechen erschien, wurde
entschieden, wer sich "opfern" sollte, damit dieser ein Überleben möglich
gemacht werden konnte. Zu den wichtigsten prominenten tschechischen
Persönlichkeiten zählte in Dachau beispielsweise der ehemalige erste
Legationsrat der tschechischen Botschaft in Wien Graf Bořek-Dohalský, die
Familie des Exilministers Feierabend, der 75-jährige Obmann des Turnvereins
"Sokol", Josef Truhlář, sowie der berühmte Prager Regisseur, Komponist und
Theaterbesitzer Emil František Burián. Nachdem dieser sehr entkräftet im Jahr
1941 aus der "Kleinen Festung" Theresienstadt nach Dachau überstellt worden war,
wurde er von der tschechischen Häftlingsgruppe regelrecht aufgepäppelt. Obwohl
er von der SS-Führung in die "Strafkompanie" versetzt wurde, konnte von einigen
Tschechen und sogar von deutschen Häftlingen dessen Aufnahme ins Revier bewirkt
werden, wo er Ruhe hatte und als Gegenleistung mit der Genehmigung des
gefürchteten Revierkapos Heiden jeden Sonntag die Kranken mit Theaterauftritten
unterhielt.
Der Überlebende Jiří Jemelka erinnert sich, dass er eines Tages beauftragt
wurde, für Burián aus seinem Kommando "Kartoffelkeller" Brot zu "organisieren"
und ins Lager zu schmuggeln. Diese Aufgabe brachte ihn in ernste Lebensgefahr
und erforderte einen hohen persönlichen Einsatz. Ein SS-Mann erwischte ihn
nämlich dabei und schlug ihn brutal. Da Jemelka keine "Meldung" bekam, welche im
Lager immer eine de grausamen Strafen nach sich zog, ging seine Geschichte noch
relativ glimpflich aus, auch wenn er am nächsten Tag vom Kapo seines Kommandos
nicht mehr genommen wurde und auf diese Weise in das "mörderische" Kommando
"Garagenbau" geriet. Offensichtlich war er als junger Gewerbe-schüler in den
Augen der tschechischen Häftlingsgruppe entbehrlicher als der große Künstler.
Den berühmten Burián lernte Jemelka persönlich niemals kennen. Im Fall der
Familie Feierabend wurde wiederum der Transport eines der beiden Söhne in ein
anderes Lager mit großen Mühen verhindert, "obwohl ihm der Arzt bereits
Transportfähigkeit bescheinigt hatte. Der tschechischen Gruppe war es sehr
wichtig, dass alle vier zusammen blieben, da sie nur so eine größere Chance
hatten zu überleben."
Auch der tschechische kommunistische Abgeordnete Ladislav Kopřiva, welcher im
Lager sehr viele solcher solidarischer Aktionen leitete, betont in seinen
Erinnerungen die "bemerkenswert starke Gemeinschaft"
der Tschechen in Dachau. Mit solcher Hilfestellung "haben oft viele ihr Leben
riskiert. Wir haben riskiert, wir haben uns geopfert und wir haben geholfen."
Eine Hierarchisierung innerhalb der tschechischen Häftlingsgruppe wird indes in
den Erinnerungsberichten der Tschechen nirgends explizit erwähnt. Jiří Jemelka
und Radovan Dražan, welche eben nicht zu dem "Kern" der tschechischen Gruppe
gehörten, beschrieben im Gespräch allerdings eine solche Binnenstruktur, welche
auch durchaus denkbar erscheint. Denn die tschechische Bevölkerung berief sich
in ihrer Geschichte in bedrohlichen Zeiten jedes Mal auf nationale Symbole und
protestierte durch die Demonstration ihres nationalen Bewusstseins. Die weiter
oben erwähnten Persönlichkeiten stellten nun in der Situation des
Konzentrationslagers eben solche nationalen Symbole dar. Daher waren es gerade
sie, die in erster Linie beschützt und gerettet werden mussten, was wiederum
auch durch die Tatsache bestätigt wird, dass jeder von ihnen, trotz teilweise
sehr hohen Alters, Dachau überlebte.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2 Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com 09-2004 |