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[Tschechische Häftlinge im Konzentrationslager Dachau]
Von Zuzana Mosnáková

Zur Diskussion im Forum:
[
Nationalsozialistische Konzentrationslager]

3.4 Kunst und Kultur im Lager

3.4.3 Abendliche Vorträge auf dem Block

Parallel zu den sehr aufwendigen kulturellen Veranstaltungen arrangierten die Tschechen auf fast[171] allen Stuben des "tschechischen" Blocks Nr. 10 und später auch Nr. 20 regelmäßige abendliche Vorträge. Sowohl die Erzähler als auch die Themen waren sehr unterschiedlich und vielseitig. Wenn jemand Interesse hatte, eine Geschichte aus seinem Leben oder seinem Fachbereich zu erzählen, meldete er sich und sein Thema einige Tage vor dem Termin beim zuständigen Häftlingskameraden auf der jeweiligen Stube an und wartete, bis er an die Reihe kam. Die Häufigkeit der Vorträge ist sehr schwer festzustellen, da sich die Überlebenden an konkrete Zeitangaben verständlicherweise nur sehr selten erinnern können. Radovan Dražan berichtet, dass für die Vorträge kein besonderer Abend bestimmt war. Lediglich der Samstag hätte den tschechischen Offizieren und Generälen gehört, die anhand der illegal abgehörten Radiosender über die aktuelle Situation an der Front referierten. Alle übrigen Abende standen demnach anderen Häftlingen frei zur Verfügung, wobei die Anzahl der wöchentlichen und manchmal sogar täglichen Vorträge von den aktuellen Lebensbedingungen abhing. Nach R. Dražan und V. Feierabend fanden solche "illegale(n) Dämmerstunden"[172] manchmal monatelang nicht statt. In einer anderen Phase mehrere Wochen lang dagegen sogar täglich.[173] Der Ort der Vorträge war stets der Schlafsaal, kurz nachdem dort gegen 21 Uhr das Licht gelöscht wurde. Einer der Hauptorganisatoren war der tschechische Oberst Robert Toscani, der in seinen Erinnerungen die Situation eines abendlichen Vortrags sehr eindrucksvoll schildert: "Die Lichter sind bereits erloschen. Alle liegen auf den Betten in drei Etagen übereinander, sind in die Decken eingewickelt [...]. Das ist der Moment für die Erinnerungen an die Liebsten, in denen der gefesselte Mensch der Hoffnungslosigkeit und der Traurigkeit verfällt, dem Hass und dem Verlangen nach Rache, Flüchen und der vernichtenden Ohnmacht. [...] Die Brüder bereiten sich auf den Schlaf vor. Einer von ihnen kommt in den Raum zwischen den Betten, bittet um Ruhe und gibt den Gegenstand seines Vortrages bekannt. Und sogleich kommt ein Zweiter in den gleichen Zwischenraum und trägt eine Geschichte vor, angelehnt an die Seitenwand des niedrigsten Bettes, meist nicht zu sehen nur zu hören, [...], da er bereit sein muss, sich nach Aufforderung sofort hinzulegen. Viertel Stunde, halbe Stunde und auch länger erzählt er mit einer leisen Stimme über ein Thema, welches er gewählt hatte. Die anderen hören zu, bis die Müdigkeit nach der ganztägigen Arbeit sie ihre Augenlider schließen lässt und sie mit einem weichen Netz aus Schlaf bedeckt, der im Lager so glücklich ist, da er hier das vollkommene Vergessen bringt. Der Vortragende spricht zu Ende und mit einem leisen: "Gute Nacht Brüder", nimmt er von allen Abschied für die Nacht. [...]."[174]

Die Themen boten aufgrund der unterschiedlichen Herkunft der tschechischen Häftlinge eine unglaubliche Vielfalt. Neben politischen Vorträgen, bei denen nach Toscani meist die Präsidenten T. G. Masaryk und Edvard Beneš gewürdigt wurden, sprachen die Häftlinge unter anderem über die Geschichte, die Geographie, die Medizin, die Biologie, über das Schulwesen, die Industrie, die Malerei, den Gesang, über das Theater, den Sport, die Armee, über die tschechische Mythologie und sogar über die Grundlagen des Spiritismus und der Hypnose.[175] Am meisten genossen die Häftlinge, nach Angaben aller Interviewpartner, Geschichten über ferne Länder. In der Dunkelheit des Schlafraums machten sie Gedankenaus-flüge nach Frankreich, Italien, Dänemark, Island, Afrika oder nach Asien. Auf diese Weise verließen sie für kurze und sehr wertvolle Augenblicke die Hoffnungslosigkeit des Konzentra-tionslagers und überwanden damit die abendliche Melancholie und Verzweiflung. "In unseren Seancen hatten wir sogar etwas Musik. Manchmal war es eine Geige, ein anderes mal eine Gitarre, die uns im Pianissimo mit gedämpftem Gesang in die Tage der Freiheit trug."[176] So überbrückten die Vorträge bei vielen Häftlingen die kritische Zeit des Abends, halfen den Geschundenen beim Einschlafen und somit bei der geistigen und körperlichen Regeneration. Darum war die Funktion der abendlichen Vorträge weniger die mentale Auflehnung gegen die Peiniger, sondern vielmehr der psychische Ausgleich an sich und damit eine konkrete therapeutische Hilfe.

Im Jahr 1944 strömten nach Dachau unaufhaltsam immer neue Massen von Häftlingen, so dass die Blöcke langsam überfüllt wurden. Im Block Nr. 20 wurden zudem neben den Tschechen allmählich auch zahlreiche andere Nationalitäten "konzentriert", so dass die Gemeinsamkeit der Sprache allmählich verloren ging. Die Voraussetzungen für weitere Vortragsabende waren darum bis zur Befreiung nicht mehr gegeben.

  • [171] Bekannt ist dies von den Stuben 1 – 3. Zu Stube Nr. 4 konnten bislang keine Quellen ausfindig gemacht werden.

  • [172] Zámečník, Dachau, S. 259.

  • [173] Videointerview mit Vladimir Feierabend, DaA R 386.

  • [174] Toscani, Robert: Přednáškové večery. [Vortragsabende], in: Almanach Dachau. Kytice událostí a vzpomínek. [Almanach Dachau. Ein Strauß von Ereignissen und Erinnerungen], S. 170.

  • [175] Ebenda, S. 171.

  • [176] Ebenda, S. 171.

5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2 Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen

Zur Diskussion im Forum:
[
Nationalsozialistische Konzentrationslager]
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