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Erst mit der Reichsgründung im Jahre
1871 erhielten die deutschen Juden ihre Bürgerrechte. Den Anfang ihrer
geistigen Emanzipation hatten sie jedoch schon mehr als ein halbes
Jahrhundert zuvor mit der Errichtung und Institutionalisierung eines eigenen
jüdischen Forschungsprogrammes gelegt. Ab etwa 1820 begann ein
Zeitabschnitt, der nicht nur für die Geschichte des Judentums in einem Land
der Diaspora, nämlich Deutschland, sondern für die gesamte Geschichte des
jüdischen Volkes von einschneidender Bedeutung war. Um Zugang und
Anerkennung in der neuen, nach-emanzipatorischen Gesellschaftsordnung zu
erlangen, versuchten die deutschen Juden eine Synthese zwischen einerseits
westlichem Lebensstil und allgemeiner Bildung, andrerseits der Beibehaltung,
bzw. Um- oder Neugestaltung der jüdischen Tradition zu finden. Hieraus
erwuchs die Idee einer Wissenschaft des Judentums.
Ihr war es darum zu tun, das Judentum
historisch (nach seiner geschichtlichen Entwicklung), philosophisch (nach
seinem Wesen) und philologisch (nach all seinen Quellen) darzustellen unter
Anwendung eines Wissenschaftsbegriffes, der in Anknüpfung an die
methodologischen Forderungen für eine Wissenschaft durch Kant und an das
Ideenpotential des Deutschen Idealismus eine systematische Entwicklung des
Stoffes verlangte. Das Judentum sollte nach seinem ganzen Umfange untersucht
werden, und zwar "an und für sich, nicht für einen fremden Zweck". (I. Wolf,
1822) Dieser radikale neue Zugriff führte zu den ersten wissenschaftlichen
Darstellungen zur Geschichte des jüdischen Volkes und seiner Religion, in
Kompendien zur jüdischen Literatur, in Neuausgaben der klassischen Texte
nebst deren Übersetzungen und Interpretationen.
Ein neues Selbstbewußtsein
Auch wenn manchmal im Nachhinein
Vorwürfe laut wurden, die Wissenschaft des Judentums hätte assimilatorischen
Tendenzen nachgegeben, ja sogar selbst eine antijüdische Haltung erzeugt -
z.B. in ihrer Ablehnung des Nicht-Rationalen im Judentum (wie etwa der
Kabbala, der jüdischen Mystik oder gewisser Manifestationen ostjüdischer
Frömmigkeit), so brachte sie doch zweifellos ein neues Selbstbewußtsein
unter den Juden hervor und verhalf ihnen zu gesellschaftlichem Ansehen.
Durch sie erhielt das Judentum neue Impulse, die zu einer Erneuerung des
Judentums selbst führten. Max Wiener sah zurecht in dieser Phase der
Selbstbesinnung der Juden auf ihre eigenen kulturellen Leistungen nicht nur
"den mechanischen Vorgang der Spiegelung", sondern zugleich auch eine
Bereicherung des Gegenstandes selber, indem die geschichtliche Forschung zur
Klärung (ihres) eigenen Gehalts berufen ist und mit diesem Geschäft am
Wachstum ihres Gegenstandes selber teilnimmt" (Max Wiener, "Jüdische
Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, S. 175).
Die jüdische Philosophie ist nur ein
Teilgebiet, das direkt durch die Ergebnisse der Wissenschaft des Judentums
umgestaltet, bzw. völlig revitalisiert wurde. Während ich als Doktorandin
der Philosophie im Hauptfach an der Universität Düsseldorf den Begriff
"jüdische Philosophie" untersuchte, so wie er sich in der
Philosophiegeschichtsschreibung darstellte, stieß ich hierbei nicht nur auf
wichtige Beiträge zum Themenbereich der jüdischen Philosophie, sondern auch
auf eine Historiographie der jüdischen Philosophie aus jüdischer Sicht,
deren Entstehung sich der oben angeführten Forderung Wolfs, eines der
Gründungsväter der Wissenschaft des Judentums, verdankte. Bisher war nämlich
jüdische Philosophie nur als ein mageres Unterkapitel, bzw. als
Randerscheinung innerhalb der allgemeinen Geschichte der Philosophie
abgehandelt und stark durch die Vorurteile der christlichen Verfasser
geprägt worden. Jetzt aber lag eine durch die Wissenschaft des Judentums
initiierte eigene jüdische Philosophiegeschichtsschreibung vor, die in der
Arbeit des Philosophieprofessors an der damaligen Hochschule, Julius
Guttmann, kulminierte, dessen "Philosophie die Judentums" heute noch als
unverzichtbares Standardwerk gilt.
Seit 1986 bin ich Dozentin für jüdische
Philosophie am Leo Baeck College in London und stoße in meiner Arbeit immer
wieder auf die Leistungen der Wissenschaft des Judentums, von denen ein
Großteil immer noch nur auf deutsch zugänglich ist. Das Sprachproblem mag
ein Grund sein, warum heutzutage manche Ergebnisse der deutsch-jüdischen
Wissenschaftler entweder nicht oder nur zögernd wahrgenommen werden;
vielleicht aber hängt es auch damit zusammen, daß die Anerkennung der
außerordentlichen Leistungen des deutschsprachigen Judentums aufgrund des
nachfolgenden tragischen Schicksals der europäischen Juden als besonders
schmerzhaft empfunden wird.
Die Hochschule für die Wissenschaft des
Judentums in Berlin, die 1872 gegründet und 1942 von den Nazis geschlossen
wurde, war ein typisches deutsch-jüdisches Produkt in ihrer akademischen
Lehr- und Lernfreiheit. Sie war die erste Ausbildungsstätte für Rabbiner mit
Universitätsniveau, an der zugleich auch Frauen studieren konnten. Das
führte dazu, daß eine unter ihnen, Regina Jonas, den Beruf einer Rabbinerin
anstrebte. Auch wenn sie erst nach Hindernissen und verspätet ordiniert
wurde, so war sie doch die erste Rabbinerin weltweit, die in ihrer
Abschlußarbeit erfolgreich argumentiert hatte, daß der Ordination einer Frau
selbst aus rabbinischer Sicht nichts im Wege stehe.
Rabbinerinnen-Ausbildung
Regina Jonas wurde zu einem Leitbild
für eine ganze Generation junger Rabbinerinnen, die in den letzten drei
Jahrzehnten am Leo Baeck College ordiniert wurde. Dieses war kurz vor dem
Tode Leo Baecks im Jahre 1956 als eine Art Nachfolgerin der Berliner
Hochschule in London gegründet worden. Heute ist die Ordinierung von Frauen
für die Reform- und liberalen Juden Englands längst selbstverständlich
geworden. Wir, für die der Kampf um die Rechte der Frau auf Selbstentfaltung
kaum noch ein Thema ist, haben in unserer Begeisterung für das, was Regina
Jonas erreichte, oft angenommen, daß es wohl weitere Studentinnen an der
Hochschule gegeben haben muß, die den Wunsch hatten, Rabbinerin zu werden
und die nur durch die tragischen politischen Umstände daran gehindert worden
seien. Es scheint jedoch, daß Regina Jonas ein Einzelfall gewesen ist. Ich
werde in Kürze eine Forschungsarbeit vorlegen, die anhand persönlicher
Begegnungen und Interviews mit ehemaligen Studentinnen der Hochschule, aber
auch in Erinnerungen an solche ehemaligen Studentinnen, die nicht mehr unter
uns weilen, die Frage thematisiert und die Motivation und Zielsetzung dieser
Studentinnen an der ehemaligen Hochschule untersucht.
Die erste Tagung von Rabbinerinnen und
jüdischen Akademikerinnen auf deutschem Boden warf für mich auch die Frage
nach Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der Wissenschaft des Judentums
auf, zumal die heutigen Rabbinerinnen ihre Ordination letztendlich den
Ausläufern einer liberalen deutsch-jüdischen Geisteshaltung zu verdanken
haben. Manche der Rabbinerinnen, die aus verschiedenen Ländern Europas in
Berlin zusammen gekommen waren, mögen sich noch dem deutsch-jüdischen Erbe
verpflichtet gefühlt haben, das durch die Wissenschaft des Judentums und
über die Hochschule weltweit durchschlagend gewirkt hat. Für alle von uns
war diese Konferenz ein Anknüpfungspunkt und ein Neubeginn zugleich.
Diejenigen, die wie sich wie ich - trotz unserer zum Teil ausländischen
Wurzeln - als Repräsentantinnen des deutschen Judentums sehen, vermochten,
zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung wieder zu hoffen, daß es in
Deutschland, unter voller Mitwirkung von Frauen, noch einmal ein blühendes
Judentum geben wird.
Ehemalige Studentinnen
In diesem historischen Augenblick, der
von einem staken Gefühl von Solidarität unter allen Beteiligten geprägt war,
bot sich die wunderschöne Gelegenheit, direkt an die Vergangenheit
anzuknüpfen: unter den Gästen der Tagung waren auch zwei ehemalige
Studentinnen der Hochschule: Shoshana Ronen, die Tochter des
Hochschulprofessors Ismar Elbogen, und Ilse Perlman. Beide haben die Tagung
mit ihrer Anwesenheit und ihren Beiträgen bereichert und stellten selbst in
beeindruckender Weise dar, aus welchem Edelholz die ehemaligen Studentinnen
der Hochschule geschnitzt waren! Sie studierten aus Liebe zur Sache, aus
Ehrfurcht vor den Lehren des Judentums und der jüdischen Wissenschaft.
Shoshana und Ilse verpflichteten uns durch ihre Präsenz in Berlin, dort
wieder anzuknüpfen, wo das deutsche Judentum hat aufhören müssen, auch wenn
unsere bescheidenen Schritte sich lange nicht werden messen können mit den
Höchstleistungen der Köpfe von damals. Aber sogar Leo Baeck sagte, noch
nachdem er das KZ Theresienstadt überlebt hatte, daß das deutsche Judentum,
auch wenn es nicht mehr auf deutschem Boden lebte, noch nicht zu Ende
gekommen war: "...Denen, die dort gelebt haben, die am Leben geblieben und
über viele Länder verstreut sind, ist etwas anvertraut worden, was nicht
verloren gehen darf: ein Sehnen nach geistigen Dingen, nach dem
Menschlichen, Messianischen, nach allem, was groß, schön und harmonisch ist.
Dies wertzuschätzen ist zur weltweiten Aufgabe aller Juden geworden." (L.
Baker, "Days of Sorrow and Pain. Leo Baeck and the Berlin Jews", 1978, S.
323)
Esther Seidel wurde 1952 in Düsseldorf
geboren. Sie lehrt jüdische Philosophie am Leo Baeck College in London und
veröffentlichte u.a.: "'Jüdische Philosophie' in nicht-jüdischer und
jüdischer Philosophiegeschichtsschreibung" (Frankfurt, 1984) und "Is there a
German-Jewish Legacy?" in: European Judaism" 1994/2. Zur Zeit arbeitet sie
an "Ruth Liebrecht (geb. Capell) and other Women Students at the Hochschule
für die Wissenschaft des Judentums in Berlin".
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