Freiwilliges Jüdischsein
Dr. Diana Pinto /
English Version
Das Konzept des "freiwilligen
Jüdischseins" eignet sich besonders gut, um die Erneuerung jüdischen Lebens
im heutigen Europa und die Rolle, die jüdische Frauen in dieser Renaissance
spielen, zu beschreiben.
Der Begriff umfaßt alle Aspekte des
"Jüdischseins" – von den ganz religiösen bis zu den ganz weltlichen. Es wäre
natürlich zu fragen, ob nicht schon der erste Jude, Abraham, ein
"freiwilliger Jude" war, mit anderen Worten: ob er
es war, der Gott wählte, und nicht Gott, der Abraham wählte. Wir, seine
Nachkommen in den demokratischen und toleranten Post-Schoa Gesellschaften
sind jedenfalls alle freiwillige Juden – aufgrund der äußeren Umstände und
zunehmend auch aus innerjüdischen Gründen.
Neues europäisches
Judentum
Im irdischen Herrschaftsbereich wurden
wir in Europa nach der Wende von 1989 zu "freiwilligen Juden". Dies geschah
durch eine Kombination von historischen, geographischen, politischen und
kulturellen Gründen, die sich bis zum Fall der Berliner Mauer
zurückverfolgen lassen.
Historisch gesehen entstand das
freiwillige Jüdischsein in dem Moment, als die eingesperrten Juden des
Ostblocks endlich Reisefreiheit erhielten und nach eigenem Gutdünken nach
Israel auswandern konnten. Diejenigen, die nach 1989 aus eigener
Entscheidung in ihren jeweiligen Ländern blieben, taten dies aus freien
Stücken und wurden somit zu "freiwilligen Juden". Gemeinsam mit ihren
westeuropäischen Cousins bilden sie jetzt den Kern eines neuen europäischen
Judentums.
In geographischer Hinsicht gehören zu
Europas "freiwilligen Juden" auch diejenigen, die sich in Ländern
niederließen, die für die Vertreibung der sephardischen Juden (Spanien und
Portugal) oder für die Schoa (Deutschland) verantwortlich waren. Ebenso sind
Juden, die aus Marokko und Argentinien nach Spanien, oder aus Brasilien und
anderen ehemaligen Kolonien nach Portugal, oder aus der Sowjetunion und
ihren Satellitenstaaten nach Deutschland zogen, alle "freiwillige Juden", da
sie zwar ihren Wohnort wechselten, jedoch ihre jüdische Identität behielten
oder sogar noch verstärkten.
Politisch gesehen hat das Konzept vom
"freiwilligen Jüdischsein" eine noch größere Bedeutung. Juden sind nur dann
"freiwillig", wenn ihr Jüdischsein nicht länger von ihrem jeweiligen Staat
definiert wird. In Demokratien bestimmt der Staat weder wer Jude ist, noch
zwingt er Juden, Mitglied einer jüdischen Gemeinde zu sein. Sich einer
Gemeinde anzuschließen, beruht auf einer individuellen Entscheidung, ohne
daß daraus Konsequenzen folgen würden, inwiefern Juden als Staatsbürger
wahrgenommen werden. Auch diese pan-europäische politische Errungenschaft
geht auf das Jahr 1989 und das Ende von staatlich gefördertem
Antisemitismus, Diskriminierung oder einfach nur offizieller Identifizierung
von Juden in ihren Ausweispapieren zurück. In einer Zivilgesellschaft
definieren Juden ihre jüdische Identität selbst – es ist eine Angelegenheit
von freier Entscheidung.
Und schließlich ist kulturell gesehen
das Jüdischsein als solches nicht mehr definiert. Man kann wählen, auf
welche Weise man jüdisch sein will – ohne einem äußeren gesellschaftlichen
Druck ausgesetzt zu sein oder sich einem vorgegebenen Modell anpassen zu
müssen.
Es können viele verschiedene Sorten
jüdischer Identität nebeneinander bestehen. Zu hoffen ist, daß im
Zusammenhang mit dem freiwilligen Jüdischsein ein historischer Typ Jude
endlich verschwindet: der sich selbst hassende Jude, der seine Identität mit
sich herumschleppt wie der Gefangene die eiserne Kugel. So einer Person
steht es nunmehr frei, seine Herkunft in unserer zunehmend
individualistischen und anonymen Gesellschaft abzustreifen. Ähnlich sollte
auch Sartres klassische Definition von einem Juden als einem, der von
anderen als solcher betrachtet wird, keine Gültigkeit mehr haben. Wir leben
in Ländern, die kein Interesse mehr am "Juden" als struktureller Kategorie
innerhalb ihrer eigenen Definition von Staatsmacht und sozialer Organisation
haben.
Die Wer-ist-Jude-Frage
Paradoxerweise ist das Konzept des
freiwilligen Jüdischseins äußerst problematisch für die jüdische Welt
selbst. Wir verwiesen bereits auf die Frage nach dem Ursprung: War Abraham
ein freiwilliger Jude, als er sich Gott zuwandte, oder wurde er von Gott
gewählt? Man könnte anführen, daß die Beziehung symbiotisch gewesen sei und
daß Abraham ein "freiwilliger" war, weil er sich der göttlichen Weisung,
Chaldäa zu verlassen, hätte verweigern können. Diese Streitfrage wird
unendlich kompliziert, wenn wir den Bereich des religiösen Bundes verlassen
und den der organisierten jüdischen Gemeinden betreten. Kann jemand wirklich
freiwillig jüdisch sein inmitten der heutigen Auseinandersetzungen mit der
Wer-ist-Jude-Frage? Wenn jemand sich jüdisch fühlt und jüdisch leben möchte,
aber in einer kleinen und monolithischen Gemeinde nicht akzeptiert wird,
weil er oder sie halachisch nicht als jüdisch gilt und der Übertritt
praktisch unmöglich ist - kann da von "freiwilligem Jüdischsein" gesprochen
werden? Dies ist die jüdische Kernfrage für das kommende Jahrhundert,
benennt sie doch alle Herausforderungen, denen Juden sich zu stellen haben,
während sie sowohl in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben als
auch ihrer Gemeinde angehören.
Aufgrund dieser Herausforderung sind
bereits neue innerjüdische Ansichten im Hinblick auf Freiwilligkeit
entstanden:
1. Assimilierte Juden, die jegliches
Wissen um die Tradition verloren haben und nunmehr zum Judentum
zurückkehren; sie werden durch Lernen und Gemeinschaft zu "freiwilligen
Juden". Dies wird nicht nur innerhalb des Reformjudentums akzeptiert,
sondern auch von Orthodoxen und Ultraorthodoxen.
2. Juden, die der Ansicht sind, daß
Tora und Talmud, um den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, ständig
neu ausgelegt werden müssen; es könne keine festgelegten, starren, für alle
Zeiten gültigen Antworten geben, sondern nur ein komplexes Wechselspiel
zwischen alter Weisheit, gegenwärtigem Bedürfnis und individueller
Sichtweise. Traditionell dem Reformjudentum zugeschrieben, gewinnt diese
Einstellung auch in orthodoxen Kreisen an Boden, in denen Frauen die
Tradition zunehmend ihrem eigenen feministischen Blickwinkel heraus lesen,
um darin eine neue Bedeutung für die Gegenwart zu finden.
3. Juden, die Kinder von jüdischen
Vätern sind und den Gedanken einer Konversion ablehnen; sie nehmen das
Judentum freiwillig für sich in Anspruch, indem sie sich weigern, in ein
Volk "aufgenommen" zu werden, dem sie bereits anzugehören meinen. Sie
verwahren sich im Namen eines demokratischen Individualismus und
abweichender Verwandtsschaftsstrukturen dagegen, daß ihnen ihre Identität
verweigert wird.
4. Juden, die der Ansicht sind, daß
Judentum in einer aktiven Bestätigung ihrer Identität besteht und nicht nur
im passiven Besitz von Synagogenkarten für die Hohen Feiertage; Juden, die
ihr Judentum, wie immer sie es auch definieren, ernst nehmen, es als eine
wichtige Verpflichtung begreifen und nicht nur als ein passives
Zusammengehörigkeitsgefühl in bezug auf äußere Bedrohung.
Freiwilliges Jüdischsein ließ sich in
letzter Konsequenz aller erwähnten Spielarten in der Rabbinrin
personifizieren, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammt, sich vor kurzem
in Deutschland niedergelassen hat und ein konservatives, vielleicht eines
Tages sogar orthodoxes Judentum, jedoch mit einer modernen und
feministischen Haltung praktiziert. Solch eine Frau zieht es vor, die
jüdische Festung zu verändern, statt die anderen (gleichwertigen) Wege
jüdischer Zugehörigkeit einzuschlagen. Doch letztendlich sind alle Juden
heute freiwillige, denn sie haben die Alternative, sich ganz zu
assimilieren.
Freiwilliges
Jüdischsein und die Außenwelt
Das Konzept des freiwilligen
Jüdischseins enthält noch eine dritte Dimension. Um zwei miteinander
verwandte Themen herum verbindet sie äußere und innere Parameter. Diese sind
das jüdische Verhältnis zum "Anderen" und das zu den in unserer westlichen
Gesellschaft herrschenden universellen Werten.
1. Der freiwillige Jude und das
"auserwählte Volk": ethische Verantwortung ohne Überlegenheit. Wie lassen
sich jüdische und universelle Zugehörigkeit im Zeitalter pluralistischer
Ideale in Einklang bringen? Die schwierige Verbindung von Judentum und
Demokratie bedeutet, daß sich der freiwillige Jude auch im "Anderen"
wiedererkennt, mit dem er oder sie in einem pluralistischen Kontinuum - das
vom Juden zum Staatsbürger und wieder zurück reicht - interagiert.
2. Pluralistische Juden: eine
freiwillige Identität unter möglichst kompatiblen anderen; der Welt
gegenüber offen zu sein und dabei an der Tora festzuhalten; ein Kontinuum
der Zugehörigkeit, ohne sich in eine Festung zurückzuziehen. Dies gilt
besonders für jüdische Frauen, die Verkörperung des "Anderen" für die
jüdische Orthodoxie in einer zunehmend egalitären Gesellschaft.
3. Juden und der "jüdische Raum":
Unabhängig vom Grad ihrer religiösen Intensität befinden sich freiwillige
Juden in einem Austausch mit einer größeren Welt und bringen so den
"jüdischen Raum" mit seiner kulturellen Kreativität, kollektiven Erinnerung
und Identität in engen Kontakt mit dem Rest der Gesellschaft. Jüdischsein
wird als aktive Teilnahme an der Menschheit im Ganzen angesehen. Persönliche
Entscheidung und Handlung ergeben sich aus einer inneren Wahl für das
Judentum und dem Willen, einen Teil des öffentlichen Raumes jüdisch zu
besetzen.
Freiwillige Juden stehen somit am
Kreuzungspunkt einer religiösen und einer weltlichen Gemeinschaft, ähnlich
wie ein Prophet, der sich ins Unbekannte aufmacht.
Diana Pinto ist Historikerin und
Schriftstellerin. Sie lebt in Paris und ist Beraterin der politischen
Direktion des Europarates. Sie arbeitet zur Zeit an ihrem Buch "Europe and
‚its‘
Jews: the Challenges for the 21st Century" (Europa und ‚seine‘ Juden:
Herausforderungen für das 21. Jahrhundert).
Übersetzt aus dem
Englischen
von Jessica Jacoby
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