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Europa

Wenn es um jüdischen Feminismus und die aktive Beteilung von Frauen in den Gottesdiensten geht, sind die Augen nicht mehr nur auf die USA oder Israel gerichtet. In den vergangenen Jahren gründeten sich in vielen Städten Ost- und Westeuropas liberal eingestellte jüdische Gemeinden und Gruppierungen, in denen Frauen engagiert in den Vordergrund treten. Zu Bet Debora waren Referentinnen und Teilnehmerinnen aus 16 Ländern gekommen. Die Schoa ist nicht mehr das bestimmende Element für das jüdische Selbstverständnis, wenngleich viele ihr Engagement nicht losgelöst von ihrem Schmerz sehen können.

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Freiwilliges Jüdischsein

Dr. Diana Pinto / English Version

Das Konzept des "freiwilligen Jüdischseins" eignet sich besonders gut, um die Erneuerung jüdischen Lebens im heutigen Europa und die Rolle, die jüdische Frauen in dieser Renaissance spielen, zu beschreiben. 

Der Begriff umfaßt alle Aspekte des "Jüdischseins" – von den ganz religiösen bis zu den ganz weltlichen. Es wäre natürlich zu fragen, ob nicht schon der erste Jude, Abraham, ein "freiwilliger Jude" war, mit anderen Worten: ob er es war, der Gott wählte, und nicht Gott, der Abraham wählte. Wir, seine Nachkommen in den demokratischen und toleranten Post-Schoa Gesellschaften sind jedenfalls alle freiwillige Juden – aufgrund der äußeren Umstände und zunehmend auch aus innerjüdischen Gründen.

Neues europäisches Judentum

Im irdischen Herrschaftsbereich wurden wir in Europa nach der Wende von 1989 zu "freiwilligen Juden". Dies geschah durch eine Kombination von historischen, geographischen, politischen und kulturellen Gründen, die sich bis zum Fall der Berliner Mauer zurückverfolgen lassen.

Historisch gesehen entstand das freiwillige Jüdischsein in dem Moment, als die eingesperrten Juden des Ostblocks endlich Reisefreiheit erhielten und nach eigenem Gutdünken nach Israel auswandern konnten. Diejenigen, die nach 1989 aus eigener Entscheidung in ihren jeweiligen Ländern blieben, taten dies aus freien Stücken und wurden somit zu "freiwilligen Juden". Gemeinsam mit ihren westeuropäischen Cousins bilden sie jetzt den Kern eines neuen europäischen Judentums.

In geographischer Hinsicht gehören zu Europas "freiwilligen Juden" auch diejenigen, die sich in Ländern niederließen, die für die Vertreibung der sephardischen Juden (Spanien und Portugal) oder für die Schoa (Deutschland) verantwortlich waren. Ebenso sind Juden, die aus Marokko und Argentinien nach Spanien, oder aus Brasilien und anderen ehemaligen Kolonien nach Portugal, oder aus der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten nach Deutschland zogen, alle "freiwillige Juden", da sie zwar ihren Wohnort wechselten, jedoch ihre jüdische Identität behielten oder sogar noch verstärkten.

Politisch gesehen hat das Konzept vom "freiwilligen Jüdischsein" eine noch größere Bedeutung. Juden sind nur dann "freiwillig", wenn ihr Jüdischsein nicht länger von ihrem jeweiligen Staat definiert wird. In Demokratien bestimmt der Staat weder wer Jude ist, noch zwingt er Juden, Mitglied einer jüdischen Gemeinde zu sein. Sich einer Gemeinde anzuschließen, beruht auf einer individuellen Entscheidung, ohne daß daraus Konsequenzen folgen würden, inwiefern Juden als Staatsbürger wahrgenommen werden. Auch diese pan-europäische politische Errungenschaft geht auf das Jahr 1989 und das Ende von staatlich gefördertem Antisemitismus, Diskriminierung oder einfach nur offizieller Identifizierung von Juden in ihren Ausweispapieren zurück. In einer Zivilgesellschaft definieren Juden ihre jüdische Identität selbst – es ist eine Angelegenheit von freier Entscheidung.

Und schließlich ist kulturell gesehen das Jüdischsein als solches nicht mehr definiert. Man kann wählen, auf welche Weise man jüdisch sein will – ohne einem äußeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt zu sein oder sich einem vorgegebenen Modell anpassen zu müssen.

Es können viele verschiedene Sorten jüdischer Identität nebeneinander bestehen. Zu hoffen ist, daß im Zusammenhang mit dem freiwilligen Jüdischsein ein historischer Typ Jude endlich verschwindet: der sich selbst hassende Jude, der seine Identität mit sich herumschleppt wie der Gefangene die eiserne Kugel. So einer Person steht es nunmehr frei, seine Herkunft in unserer zunehmend individualistischen und anonymen Gesellschaft abzustreifen. Ähnlich sollte auch Sartres klassische Definition von einem Juden als einem, der von anderen als solcher betrachtet wird, keine Gültigkeit mehr haben. Wir leben in Ländern, die kein Interesse mehr am "Juden" als struktureller Kategorie innerhalb ihrer eigenen Definition von Staatsmacht und sozialer Organisation haben.

Die Wer-ist-Jude-Frage

Paradoxerweise ist das Konzept des freiwilligen Jüdischseins äußerst problematisch für die jüdische Welt selbst. Wir verwiesen bereits auf die Frage nach dem Ursprung: War Abraham ein freiwilliger Jude, als er sich Gott zuwandte, oder wurde er von Gott gewählt? Man könnte anführen, daß die Beziehung symbiotisch gewesen sei und daß Abraham ein "freiwilliger" war, weil er sich der göttlichen Weisung, Chaldäa zu verlassen, hätte verweigern können. Diese Streitfrage wird unendlich kompliziert, wenn wir den Bereich des religiösen Bundes verlassen und den der organisierten jüdischen Gemeinden betreten. Kann jemand wirklich freiwillig jüdisch sein inmitten der heutigen Auseinandersetzungen mit der Wer-ist-Jude-Frage? Wenn jemand sich jüdisch fühlt und jüdisch leben möchte, aber in einer kleinen und monolithischen Gemeinde nicht akzeptiert wird, weil er oder sie halachisch nicht als jüdisch gilt und der Übertritt praktisch unmöglich ist - kann da von "freiwilligem Jüdischsein" gesprochen werden? Dies ist die jüdische Kernfrage für das kommende Jahrhundert, benennt sie doch alle Herausforderungen, denen Juden sich zu stellen haben, während sie sowohl in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben als auch ihrer Gemeinde angehören.

Aufgrund dieser Herausforderung sind bereits neue innerjüdische Ansichten im Hinblick auf Freiwilligkeit entstanden:

1. Assimilierte Juden, die jegliches Wissen um die Tradition verloren haben und nunmehr zum Judentum zurückkehren; sie werden durch Lernen und Gemeinschaft zu "freiwilligen Juden". Dies wird nicht nur innerhalb des Reformjudentums akzeptiert, sondern auch von Orthodoxen und Ultraorthodoxen.

2. Juden, die der Ansicht sind, daß Tora und Talmud, um den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, ständig neu ausgelegt werden müssen; es könne keine festgelegten, starren, für alle Zeiten gültigen Antworten geben, sondern nur ein komplexes Wechselspiel zwischen alter Weisheit, gegenwärtigem Bedürfnis und individueller Sichtweise. Traditionell dem Reformjudentum zugeschrieben, gewinnt diese Einstellung auch in orthodoxen Kreisen an Boden, in denen Frauen die Tradition zunehmend ihrem eigenen feministischen Blickwinkel heraus lesen, um darin eine neue Bedeutung für die Gegenwart zu finden.

3. Juden, die Kinder von jüdischen Vätern sind und den Gedanken einer Konversion ablehnen; sie nehmen das Judentum freiwillig für sich in Anspruch, indem sie sich weigern, in ein Volk "aufgenommen" zu werden, dem sie bereits anzugehören meinen. Sie verwahren sich im Namen eines demokratischen Individualismus und abweichender Verwandtsschaftsstrukturen dagegen, daß ihnen ihre Identität verweigert wird.

4. Juden, die der Ansicht sind, daß Judentum in einer aktiven Bestätigung ihrer Identität besteht und nicht nur im passiven Besitz von Synagogenkarten für die Hohen Feiertage; Juden, die ihr Judentum, wie immer sie es auch definieren, ernst nehmen, es als eine wichtige Verpflichtung begreifen und nicht nur als ein passives Zusammengehörigkeitsgefühl in bezug auf äußere Bedrohung.

Freiwilliges Jüdischsein ließ sich in letzter Konsequenz aller erwähnten Spielarten in der Rabbinrin personifizieren, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammt, sich vor kurzem in Deutschland niedergelassen hat und ein konservatives, vielleicht eines Tages sogar orthodoxes Judentum, jedoch mit einer modernen und feministischen Haltung praktiziert. Solch eine Frau zieht es vor, die jüdische Festung zu verändern, statt die anderen (gleichwertigen) Wege jüdischer Zugehörigkeit einzuschlagen. Doch letztendlich sind alle Juden heute freiwillige, denn sie haben die Alternative, sich ganz zu assimilieren.

Freiwilliges Jüdischsein und die Außenwelt

Das Konzept des freiwilligen Jüdischseins enthält noch eine dritte Dimension. Um zwei miteinander verwandte Themen herum verbindet sie äußere und innere Parameter. Diese sind das jüdische Verhältnis zum "Anderen" und das zu den in unserer westlichen Gesellschaft herrschenden universellen Werten.

1. Der freiwillige Jude und das "auserwählte Volk": ethische Verantwortung ohne Überlegenheit. Wie lassen sich jüdische und universelle Zugehörigkeit im Zeitalter pluralistischer Ideale in Einklang bringen? Die schwierige Verbindung von Judentum und Demokratie bedeutet, daß sich der freiwillige Jude auch im "Anderen" wiedererkennt, mit dem er oder sie in einem pluralistischen Kontinuum - das vom Juden zum Staatsbürger und wieder zurück reicht - interagiert.

2. Pluralistische Juden: eine freiwillige Identität unter möglichst kompatiblen anderen; der Welt gegenüber offen zu sein und dabei an der Tora festzuhalten; ein Kontinuum der Zugehörigkeit, ohne sich in eine Festung zurückzuziehen. Dies gilt besonders für jüdische Frauen, die Verkörperung des "Anderen" für die jüdische Orthodoxie in einer zunehmend egalitären Gesellschaft.

3. Juden und der "jüdische Raum": Unabhängig vom Grad ihrer religiösen Intensität befinden sich freiwillige Juden in einem Austausch mit einer größeren Welt und bringen so den "jüdischen Raum" mit seiner kulturellen Kreativität, kollektiven Erinnerung und Identität in engen Kontakt mit dem Rest der Gesellschaft. Jüdischsein wird als aktive Teilnahme an der Menschheit im Ganzen angesehen. Persönliche Entscheidung und Handlung ergeben sich aus einer inneren Wahl für das Judentum und dem Willen, einen Teil des öffentlichen Raumes jüdisch zu besetzen.

Freiwillige Juden stehen somit am Kreuzungspunkt einer religiösen und einer weltlichen Gemeinschaft, ähnlich wie ein Prophet, der sich ins Unbekannte aufmacht.

Diana Pinto ist Historikerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Paris und ist Beraterin der politischen Direktion des Europarates. Sie arbeitet zur Zeit an ihrem Buch "Europe and ‚its‘
Jews: the Challenges for the 21st Century" (Europa und ‚seine‘ Juden: Herausforderungen für das 21. Jahrhundert).

Übersetzt aus dem Englischen von Jessica Jacoby

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