Europa
Bericht der Arbeitsgruppe:
Zwischen Tradition
und Traumatisierung
Jüdische Frauen der "zweiten" und
"dritten Generation" in der Bundesrepublik Deutschland heute
Dr. Susanna Keval
Als jüdische Frauen der "zweiten"
und "dritten Generation" stehen wir noch an der Grenze zu den jüdischen
Traditionen unserer Eltern oder Großeltern. Gleichzeitig gibt es auch Spuren
der Verfolgungsgeschichte der Familien in unserem bewußten oder unbewußten
Erleben als jüdische Frauen. Welche Bedeutung solche Spuren in unserem
Lebensgefühl und in unseren Lebensentwürfen haben und welche Bedeutung
Religion, Tradition, Synagoge aber auch andere jüdische Werte und Inhalte in
unserer jüdischen Identität fünfundfünfzig Jahre nach der Shoah einnehmen,
das waren die Themen, über die ich in meiner Arbeitsgruppe mit den
Teilnehmerinnen der Tagung sprechen wollte.
An die 30 Personen sind zu diesem
Workshop – dem einzigen, dem keine ausdrücklich religiöses Thema zugrunde
lag (?) - gekommen. Neben der in der Workshop-Überschrift benannten
Zielgruppe, sind auch Frauen der "ersten Generation", die den Holocaust bzw.
die Emigration bewußt erlebten zu dem Workshop gekommen und auch einige
wenige Männer, die an der Tagung teilnahmen, haben, haben sich für das Thema
interessiert. Zunächst habe ich mich als Kultur– und Sozialwissenschaftlerin
vorgestellt und meine Motivation sowie meine theoretischen Forschungen und
empirischen Untersuchungen zum Thema "Jüdische Frauen in Deutschland nach
1945" dargestellt. Im Anschluß daran haben die TeilnehmerInnen nacheinander
einen biographischen Einblick in die eigene Lebensgeschichte und in die
Motivation diesen Workshop zu besuchen, gegeben.
Im folgenden will ich die mir als
wichtig erscheinenden Themen des Workshops zusammenfassen und überlegen, was
aus dieser Arbeitsgruppe an neuen Impulsen in die Auseinandersetzung über
die Situation jüdischer Frauen in Deutschland nach 1945 einfließen und als
Diskussion weitergeführt werden könnte.
Als ein zentrales Ergebnis der
Arbeitsgruppe will ich festhalten, daß die durch die Verfolgung oder
Emigration der Eltern bedingten Brüche in den Lebensgeschichten der
TeilnehmerInnen zu finden waren und oft wichtige, zumeist problematische
Auswirkung auf die eigene Lebensgestaltung und Lebensgefühl hatten. Die
Fragen, die in diesem Zusammenhang aufkamen waren, welchen Umgang man mit
der Verfolgungsgeschichte aber auch mit den religiösen oder politischen
Traditionen der Eltern finden und wie diese in den eigenen Lebensentwurf
integriert werden können. Der Wunsch und gleichzeitig der Mangel an
positiven Anknüpfungspunkten nach denen man die eigene jüdische Identität
ausrichten und orientieren könnte, wurde hier mehrfach geäußert. Die
wichtigste in diesen Zusammenhang formulierte Frage war, wie man sich als
eine moderne jüdische Frau von heute definieren kann und ob die
Reformbewegung, wie sie sich zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland
entfaltet, für Frauen neue Rollenbilder oder Identifikationsmöglichkeiten
bietet.
Neben den Brüchen in den
Familiengeschichten sind im Selbstverständnis der Workshop- TeilnehmerInnen
jedoch auch viele innerfamiliäre Kontinuitäten sichtbar geworden, die
ebenfalls einen Einfluß auf die jeweilige Lebensgestaltung haben. Die
positive Qualität und Wirkungsweise dieser Kontinuitäten wird jedoch oft
nicht gesehen bzw. nicht wahrgenommen und gefühlt. An zahlreichen
biographischen Beispielen in den Erzählungen der TeilnehmerInnen ist dies
deutlich geworden.
Wie solche positiv wirkenden
Kontinuitäten auch beschaffen sein mögen, so ließ sich feststellen, reichen
sie für die Ausgestaltung einer positiven jüdischen Identität nicht aus.
Eine neue Auseinandersetzung und innere Verortung über die je eigene
jüdische Identität scheint daher erforderlich und unausweichlich. Die innere
Notwendigkeit und das Bedürfnis nach einer solchen Auseinandersetzung waren
bei den TeilnehmerInnen am meisten zu spüren, deren Eltern auf keine
religiöse Tradition mehr zurückgreifen konnten.
Die These eines Teilnehmers, der in
der Spannung zwischen Tradition und Traumatisierung eine zentrale Bedeutung
für die zweite und dritte Generation sah, fand in den Berichten der
Workshop-TeilnehmerInnen damit eine Bestätigung. Wichtig wäre jedoch
festzuhalten, daß in dieser Spannung auch die positiven Aspekte einer
jüdischen Identitätsbildung zu berücksichtigen wären, um sie dann
konstruktiv in die eigenen Lebensentwürfe integrieren zu können.
Die Situation einer Stagnation und
Suche nach neuen Inhalten haben die Frauen aus der Schweiz sehr eindrücklich
zur Sprache gebracht. Sie sehen in ihren traditionellen Gemeinden kaum noch
Möglichkeiten für eine angemessene Beteiligung und Entwicklung als moderne
jüdische Frauen.
Auch das Konzept des "freiwilligen
Judentums", wie es Diana Pinto in ihrem Vortrag historisch, geographisch,
politisch und kulturell umrissen hat, wurde in der Arbeitsgruppe
hinterfragt. Ist es wirklich so freiwillig, wenn einer der Eltern jüdisch
ist und man als Kind dazu eine Beziehung entwickeln muß? Die
Auseinandersetzung mit dem je eigenem jüdischen Erbe im Bezug auf den
Inhalt, Form und Status in den Gemeinden scheint unausweichlich – und ist
gleichzeitig ein Aspekt des von Diana Pinto entwickelten Konzepts für ein
zukünftiges europäisches Judentum.
Welche Bedeutung in einer solchen
Standortbestimmung der Inhalt und die Form einnehmen, war ein weiterer
Aspekt, der die Workshop-TeilnehmerInnen beschäftigte. Die Form, so wurde in
der Diskussion festgestellt, ist zwar wichtig, weil sie die innerfamiliären
religiösen Traditionen berührt und damit an Kindheitserinnerungen und
Gefühle anknüpft. Der Inhalt ist jedoch wichtiger, weil damit das religiöse
Selbstverständnis auf eine bewußte, mehr rationale Ebene gebracht wird. Hier
war es dann die Frage, inwieweit man über die eigenen Kindheitserfahrungen
hinausgehen kann/darf, um neue, zeitgemäße, unsere Bedürfnisse befriedigende
religiöse Formen und Inhalte zu finden. Denn: es würde nicht nur eine
Ablösung von den innerfamiliären Traditionen bedeuten, sondern auch die
Trennung von der Verfolgungsgeschichten unserer Eltern und damit der
innerfamiliären Brüche.
Als ein weiterer Themenkomplex wurde
die Frage der Mütterlichkeit angesprochen. Inwieweit ist es möglich, nach
der Shoah als zweite Generation selber Kinder zu bekommen und zu erziehen.
Welche Normen und Werte können wir dabei weitergeben? Dabei wurde
festgestellt, daß nicht nur in Deutschland, sondern auch in England oder
Holland viele Angehörige der "zweiten Generation" nicht verheiratet und
kinderlos geblieben sind. Bei der Generation, der heute 40–50jährigen liegt
hier ein Problem vor, das nicht nur auf Deutschland begrenzt zu sein
scheint.
Damit ist die Frage, inwieweit bei
uns als jüdischen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 eine
spezifische Problematik vorliegt oder ob es sich länderübergreifend um eine
allgemeine Problematik der "zweiten Generation" handelt, deutlicher
hervorgetreten. In diesem Zusammenhang wurde angefragt, ob sich die vor
allem angelsächsischen Rabbinerinnen und Kantorinnen, die die Tagung
inhaltlich und religiös ausgestaltet (?) haben, über diese Problematik ihres
Publikums im klaren sind.
Als Defizit wurde hier formuliert
daß, obwohl wir auf einer Frauentagung waren, das spezifische "Frauenthema"
nicht berührt wurde. Die Frage nach der Qualität eines spezifisch weiblichen
Blickwinkels wurde ebenso geäußert, wie die, ob solche Diskussionen auch bei
Männern stattfinden und wenn ja, wie diese aussehen.
Zwei Dinge wären als Ergebnis des
Workshops festzuhalten:
- Es gib eine allgemeine
Suchbewegung von jüdischen Frauen nach neuen Inhalten, Rollen und
Definitionen jenseits der etablierten jüdischen Gemeinden. Die
etablierten jüdischen Gemeinden scheinen zur Zeit diese Suche inhaltlich
nicht bedienen zu können.
- Diese Suchbewegung ist nicht nur
auf die Bundesrepublik Deutschland begrenzt, sondern umfaßt auch andere
europäische Länder. Es waren die Rabbinerinnen und Kantorinnen aus den
USA und England, die uns bei dieser Tagung zumindest im religiösen
Kontext neue Rollen vorstellen konnten und damit bewiesen, daß in diesen
Ländern die
Entwicklung bereits viel weiter
fortgeschritten ist.
Als ein weiteres Ergebnis wäre
festzuhalten, daß ein knappes Viertel, der TagungsteilnehmerInnen ein
Workshop besucht hat, in dem es um kein explizit religiöses Thema ging. Die
Frage, die dabei aufkommt ist, ob Religion im orthodoxen oder liberalen
Sinne die Suche nach neuen Inhalten und Rollenverständnissen erleichtert,
oder ob das vorgegebene Tagungsthema nicht ein ganz anderes eher latentes
Problem berührt hat: Nämlich der immer noch vorhandenen Suche nach einer
jüdischen Identität mit allen dazugehörigen Implikationen und
Bedürftigkeiten, wobei Religion dabei nur einen Teilaspekt berührt.
In diesem Zusammenhang will ich noch
einmal auf die positiven Aspekte in den jeweiligen Familiengeschichten
zurückkommen. Das Anschauen, Aneignen und schließlich Verinnerlichen der
positiven jüdischen Elemente in unseren Familiengeschichten halte ich für
zentral für eine zukunftsfähige jüdische Identität. Sie würde nicht nur uns
selbst sicherer und selbstbewußter machen, sondern auch weniger verletzlich
im Dialog mit unserer nicht-jüdischen Umwelt und würde schließlich eine
kreative Weiterentwicklung unserer verschollen geglaubten Traditionen
ermöglichen. Gleichzeitig könnten wir dabei die Verbindung zu unseren
Herkunftsfamilien aufrechterhalten, wenn nicht sogar vertiefen und könnten
die Brüche des Traumas der NS-Verfolgung in unseren Familien in eine uns
bereichernde Qualität umwandeln. Als "zweite Generation" sind wir das letzte
Bindeglied zu der Generation der Opfer und stehen in Anbetracht der
voranschreitenden Zeit vielleicht vor der letzten Chance diese Verbindung
für uns in etwas neues und authentisches für uns und unsere Kinder
umzuwandeln. Wie eine solche Umwandlung aussehen und geschehen kann, darin
sehe ich nicht nur einen zentralen künftigen Diskussionspunkt, sondern sehe
es auch als unsere zukünftige Aufgabe. Der ernsthafte Wunsch und
Verantwortung die wir dabei haben, war bei allen Workshop-TeilnehmerInnen
spürbar.
Wie groß das Bedürfnis nach dieser
Form der Standortbestimmung ist, zeigte sich nicht nur darin, daß sich die
Gruppe einen Tag später mit etwa 15 Teilnehmerinnen in einem kleineren
Rahmen wieder getroffen hat. Die Berliner Frauen, die den Workshop
besuchten, kamen bis etwa Ende Oktober weiter regelmäßig zusammen um sich
ihre und die Lebensgeschichten ihrer Familien zu erzählen.
Es wäre also zu überlegen, wie eine
solche Arbeit konkret und konstruktiv weiter gehen könnte.
Susanna Keval Dr. phil., ist Kultur-
und Sozialwissenschaftlerin. Sie ist Mitarbeiterin am Zentrum für
Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Johann
Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Redakteurin der Jüdischen
Gemeindezeitung Frankfurt.
Publikationen:
- Keval, Susanna (1997): Die
weiblichen Elemente im Judentum und die Spiritualität jüdischer Frauen
in Geschichte und Gegenwart. In: Sung-Hee Lee-Linke (Hg.): Fenster zum
Göttlichen. Weibliche Spiritualität in den Weltreligionen.
Neukirchen-Vluyn, Neukirchener
- Keval Susanna / Levin, Tobe
(1999): Jewish Life and Jewish Women in Germany Today. In: Jewish Women
2000. Working papers of the 1997-1998 Conferences of the HIRJW. (Hg.):
Hadassah International Research Institute on Jewish Women. Brandeis
University
- Keval, Susanna (1999): Die
schwierige Erinnerung. Deutsche Widerstandskämpfer über die Verfolgung
und Vernichtung der Juden. Frankfurt am Main, Campus
E-Mail:
Keval@soz.uni-frankfurt.de
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