Neue Auslegungen
Frauen legen die Heiligen Schriften
oftmals anders aus als Männer. Während Bet Debora fand vor allem ein von
Eveline Goodman-Thau selbst verfaßter und von ihr vorgetragener Midrasch
großen Anklang. In einigen Workshops und Schiurim zeigte sich, daß Frauen
neue Fragen an die Tora stellen, eigene Schwerpunkte legen und dabei auch
Tabus aufgreifen. Judith Frishman zeichnete in ihrem Vortrag Möglichkeiten
einer feministischen Perspektive auf, die im Einklang mit einer "brauchbaren
Vergangenheit" stehen.
Rachels Tränen
Freema Gottlieb
Wir wissen sehr
wenig über die Gefühle oder das Innenleben der Frauen in der Bibel. Indizien
für das, was sie empfunden haben können, sind äußerst unpräzise und aus eben
diesem Grunde umso kostbarer. Die große biblische Romanze zwischen Jakob und
Rachel beispielsweise ist in der Hauptsache Jakobs Liebesgeschichte.
Er verließ das
Heilige Land in seinen Hochzeitsgewändern, sagt der Sohar, und hielt nur
einmal inne, weil er eine wunderbare Vision hatte von der Leiter, die von
Himmel bis zur Erde herabreicht mit Engeln, die darauf hinauf- und
herabsteigen, und ging weiter wie ein mythologischer Sonnengott zu den
Königreichen der Nacht, bis er an einem Brunnen vorbeikam, der für ihn ein
Zeichen dafür war, daß er hier (wie auch bereits seine Eltern vor ihm) seine
ihm vorbestimmte Braut treffen würde.
Kaum daß er seine Augen auf Rachel heftete, als sie ihm mit ihren Schafen
entgegenkam, stand er auf und hob mit einer Hand den Stein, den alle Schäfer
in der Umgebung nicht aus dem Weg räumen konnten und ließ so das Wasser im
Brunnen frei fließen. Und die Wasser des Brunnens stiegen zu ihm auf, ein
Zeichen der Zuneigung gegenseitiger Anziehung mit eben jener Frau, die den
Schauplatz betritt. Rachel war wunderschön von Gestalt und sah hinreißend
aus. Und Jakob liebte Rachel so sehr, daß er bereit war, sieben Jahre für
ihren Vater zu arbeiten, um die Erlaubnis zu erhalten, sie zu heiraten. In
alledem finden wir keinerlei Hinweis auf das, was Rachel gefühlt haben mag,
sondern können lediglich vermuten, daß sie den Kuß, mit dem er sie begrüßte,
nicht zurückwies, und sich über die Aufmerksamkeit des Neukömmlings freute.
Der Maharal fragt,
warum Rachel mehr als alle anderen Matriarchinnen weint. Woraus ersehen wir,
daß sie tatsächlich weinte? Während Jakob und Lea beide an verschiedenen
Stellen in der Geschichte von ihren Tränen überwältigt werden, sind Tränen
kein Charakteristika Rachels. Im Gegenteil: sie ist eine Gestalt der Freude.
Beide Schwestern waren gleich schön, heißt es im Midrasch Rabba, aber
Rachel, Jakobs Verlobte, strahlte vor Glück, als sie von all den wunderbaren
Eigenschaften ihres zukünftigen Ehemannes hörte. Lea aber, die mit Esau
verlobt war, weint sich die Augen aus und ließ damit ihre Schönheit
vergehen, als sie an der Wegesgabelung saß und dem Gerede über seine
schlechten Taten lauschte. Als der Baal Schem Rabbi Nachum von Tschernobyl
fragte, welche Schwester er denn bevorzuge, ob es Rachel sei oder Lea,
antwortete ihm dieser nur ausweichend: Man kann keine herabstufen, denn
beide sind sie unter unseren Stammüttern aufgezählt, und daher sei er
gezwungen, diplomatisch zu sein. Also sprach er: "Was Lea durch ihre Tränen
erreichte, das gelang Rachel mit ihrer Freude". "Denn die Kinder der
Verzweifelten sind zahlreicher als die Kinder der verheirateten Frau,
spricht der Herr". (Jesaja 54:1)
In der Bibelerzählung
geschieht oft eine Art stiller Umsturz. Öfter ist es der jüngere, der den
Vorzug genießt. Und deshalb, als die jüngere Tochter Labans (Rachel) mit dem
jüngeren Sohn von Labans Schwester Rivka verlobt war, war in diesem Falle
sie die von Gesetz wegen eher Berechtigte (und daher die Zufriedenere). Man
könnte die Vermutung haben, daß durch die doppelte Subversion hier die
Ältere, weil "verzweifelt" und ungeliebt, den Preis gewonnen hätte. Aber das
geschieht tatsächlich. Über die meiste Zeit ihres Lebens behielt Rachel ihre
fröhliche Natur, während Leas Tränen diese eine Position errangen und die
Tore des Mitgefühls zu Rachels und Gottes Herz weit öffneten.
Eifersucht
Ein Midrasch sagt:
"Als Gott voller Gnade Jakobs lieblose Haltung gegenüber Lea sah, da sprach
Er: Dafür gibt es nur ein Heilmittel, nämlich: Söhne. Söhne werden ihn sie
begehren lassen". Dazu bestimmt, den Esau zu heiraten und von Jakob nicht
geliebt, "weinte" Lea also und ihre Tränen sind Gebet von solcher
Intensität, daß Gott voller Gnade das Schicksal zu ihren Gunsten wandelte.
Nicht nur daß sie Jakob heiratet, sie stellt auch die Mehrheit der Stämme.
Sie macht so viel Aufhebens darum, daß die ganze Welt ihr entgegenkommt. Sie
nimmt sogar das "Vorrecht über ihre Schwester " ein: Jakobs vorbestimmte
Frau und Mutter der Stämme. Die Priesterschaft war die ihrige, das Königtum,
und ihr hätte es geziemt, in der Begräbnisstätte der Paare neben ihrem
Gatten zu liegen. Wenn jedoch einmal die "Verzweifelte" es zu Kindern und zu
Eheglück gebracht hat und die unfruchtbare Rachel Gefahr läuft, wie ein
Lumpen dem lüsternen Esau überlassen zu werden, wer hat dann jenen
privilegierten Status der Verstoßenen mit dem gebrochenen Herzen, deren
Gebete Gott erhört? Von Anbeginn besitzt Rachel solch wundervolle Grazie,
daß sie nur über die Bühne schlendern muß, um Jakobs Herz zu erringen, und
daher findet es bei ihr weniger Wertschätzung. Hier scheint sie indes
nur den Vorteil zu genießen. Und tatsächlich gewinnt Rachel, Jakobs
Geliebte, das Moment der Veränderung ihres Selbst nicht aus dieser
Beziehung. "Und als Rachel sah, daß sie Jakob keine Kinder geboren hatte,
wurde sie eifersüchtig auf ihre Schwester". Rachel erschmeckt erstmals die
Bitterkeit des Neides, als sie sieht, daß ihre Schwester einen Sohn nach dem
anderen gebiert, während sie selbst kinderlos bleibt. Dies ist das erste
Gefühl, das wir in ihr sehen, eine Belebung ihrer Natur und eine Fähigkeit
zur Empfindung. Und in dieser Hinsicht ist das gut. Erst bei der Geburt von
Leah messianischem vierten Sohn, wird Rachel ins Leben geworfen, als sie
ihre eigene Lage erkennt und über das, was sie dabei sieht, nicht glücklich
ist. Erst hier und nicht vorher.
Eifersucht mag für
die abendländischen Augen nicht eben die angenehmste Eigenschaft sein, in
Rachel jedoch, die bis dahin ein eher oberflächliches glückliches Leben
geführt hat, ist es genau dieser Punkt der Ablehnung (ein verschlossener
Schoß), in dem ihre Augen sich für die Realität öffnet, und sie wird
daraufhin fähig, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten und damit ihre
Bestimmung zu erkennen. Normalerweise eröffnet sich die Möglichkeit zur
Veränderung und Erhebung der Persönlichkeit uns nicht in dem, was uns leicht
zufällt, sondern in dem, was am schwersten ist. Einer der seltenen Dialoge
zwischen Jakob und einer seiner Frauen, in dem wir wirklich die Stimme der
Frau hören, ist Rachels verzweifeltes Flehen um Kinder: "Gib Kinder, oder
ich bin bereits tot!" (oder ich habe allen Sinn im Leben verloren).
Männlichkeit
Es ist unmöglich sich
vorzustellen, daß Jakob nicht darum gebetet haben kann, er
und Rachel mögen
gemeinsame Kinder haben. Dies war sein Traum von Anfang an. In ihrer
Schönheit sah er die überirdischen Zwölf Stämme verkörpert. Als er aber sah,
was tatsächlich passierte, wurde er fatalistisch mit Blick auf das, was Gott
an ihn austeilte, was sich für ihn vielleicht leichter gestalten könnte,
denn sein Bedürfnis nach Kindern wurde gestillt und er mußte also nur mit
der Enttäuschung fertig werden, daß er diese Kinder nicht mit der Frau haben
konnte, die er am meisten liebte. Die Qualen seiner Geliebten erreichen sein
Herz nicht. Vielmehr entbrennt er im Zorn gegen sie, sondert sie aus und
beschämt sie: "Was willst du von mir? Bin ich es oder Gott, der dir die
Leibesfrucht verweigert? Dir verweigert er sie und nicht mir. Ich habe meine
Kinder...".
Jakob hat sich schon
einmal so verhalten. Als sein Bruder vor Hunger weinte, da begann er zu
verhandeln, statt ihm sofort zu Hilfe zu eilen. Und dies ließ seinen Bruder
zu seinem Todfeind werden. Genau die selbe Behandlung, die er seinem Bruder
zuteil werden ließ, teilt er nun an seine geliebte Rachel aus, an den
Menschen, den er am meisten zu lieben behauptet! Wie weit ist Jakob von
seiner ursprünglichen Vision seiner selbst als einem fahrendem Ritter
entfernt, welcher der lieblichen Schäferin zur Hand geht! Jener, der von
Rachel als der Mutter aller seiner Kinder träumte, die alle nach ihrem Bild
und von ihrer überirdischen Schönheit sein sollten, ist letztlich ein
Realist geworden! Er hat ihre getrennten Schicksale angenommen. Was für eine
Liebe ist das? Die selbe Art Liebe, die Jakob erlaubt, Lea mit Rachel zu
verwechseln, eine an Bedingungen geknüpfte Liebe, die deshalb verkleidet und
enttäuscht werden kann, und weniger die Empathie mit Gefühlen und dem Leiden
darin.
Sicherlich arbeitete
Jakob sieben Jahre, um dafür Rachel einzutauschen, aber es war eine
Erweiterung seiner eigenen Männlichkeit. Er selbst gesteht ihr keine sieben
Jahre zu. Während Liebe oft bedeutet, daß man auf die Bedürfnisse des
anderen hört und seine eigenen Lebensenergien zügelt, um Platz für einen
völlig anderen Blickwinkel zu schaffen und sich einer selbst auferlegten
Zurückhaltung in genau dem selben Maße zu üben, wie Gott nach den Worten der
Mystiker Platz schafft für die "Andersartigkeit" der Schöpfung! Wenn diese
Art der Zurücknahme seiner Selbst um der Liebe willen demnach weiblich ist,
ist sie gleichermaßen göttlich! Und es ist eine, die Rachel hat und weniger
Jakob. Wenn sie noch nicht die Gabe der Tränen besitzt, erlebt sie Tränen
stellvertretend für andere, und ihr Herz ist offen für das Leiden ihrer
Mitmenschen.
Die Gabe der Tränen
Nicht nur hat Rachel
ihre Unfruchtbarkeit überwunden und wurde Mutter, sie gebar auch Jakobs
gewollten und begehrten Erstgeborenen (Josef), der seiner Mutter zur Seite
eilte, um sie vor den lüsternen Blicken Esaus zu schützen. Und sie verhalf
auch den Zwölf Stämmen zu ihrer Vollständigkeit. Und als nun Rachel sich
anschickte, ihrem Sohn einen Namen zu geben und sagte: "Der Herr hat
weggenommen meine Schmach. Möge Gott mir einen weiteren Sohn schenken", da
wußte Jakob, daß sie es sein würde, die dazu bestimmt war, die Zahl der
Stämme zu vervollständigen, und daß sie selbst nicht überleben würde. Lernt
nun Rachel erst zum Ende ihres Lebens über die Gabe der Tränen? Der Maharal
sieht einen Keim dessen bereits im ersten Zusammentreffen der Liebenden.
Nach den Worten des Sohar symbolisierte bereits das Ansteigen des Wassers
bei ihrem ersten Zusammentreffen die vollkommene gegenseitige Zuneigung von
Mann und Frau, und es bestand vollkommene Einheit zwischen ihnen, die allein
der vollkommenen Einheit Gottes mit der Schechina vergleichbar ist, in einer
Zeit, bevor Er die Welt erschuf. Die Augenblicke der Zeit stürzten zusammen
und wurden eins im Anblick einer solch idealen Zusammenkunft. Als Jakob
Rachel küßte und in Tränen ausbrach, war er wahrscheinlich nicht der
einzige, der weinte, und es bildete sich da ein Ozean von Tränen (was einmal
die Wasser des Brunnens gewesen waren) zwischen ihnen. Nicht nur Jakob,
sondern auch Rachel, nach dem Maharal, spürte nach einem Moment
überwältigender Einheit das Abebben der Flut, der Trennung und des Bruchs,
die jeden idealen Zustand auf dieser Welt überkommt. Und dann, als Jakob
sah, was in der Zukunft geschehen würde, daß es zur Trennung kommen und ein
Exil geben würde, und daß sie letzten Endes nicht mit ihm begraben werden
würde, da Rachel eine Prophetin war; und dann sah in das tiefste Herz der
Wirklichkeit. Lacrimae rerum. (Um der Tränen willen Anm. d.Übers.) Und was
sie sah, war der Zerfall und das Fließen, die beide ein untrennbarer Teil
der Natur dieser Welt sind, die "Tränen" im allertiefsten Grund der Dinge.
Der Artikel ist ein
Ausschnitt aus einem längeren Aufsatz, der auch Grundlage für Freema
Gottliebs Workshop bei Bet Debora war. Aus dem Englischen übersetzt von
Esther Kontarsky.
Freema Gottlieb wurde
in London geboren und wuchs in Schottland auf. Sie lehrte Midrasch-Literatur
an verschiedenen jüdischen Einrichtungen in New York. Erst vor kurzem war
sie Gastdozentin für Midrasch an der Karlsuniversität in Prag. Sie ist
Autorin dreier Bücher, u.a. "The Lamp of God: A Jewish Book Of Light"
(Aronson; New York).
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