Europa
Rabbinerin in Minsk
Ein Interview mit Nelly Kogan
Von Ruth Fruchtman
Wie in den meisten Großstädten
Weißrußlands hat die Reformgemeinde von Minsk (Cheled Simcha) eine Synagoge,
einen Cheder und einen Kindergarten: Simcha. Ausflüge und Sommerlager werden
für jüdische Jugendliche organisiert. Anders als in Westeuropa erhalten die
jüdischen Gemeinden Weißrußlands keine staatliche Unterstützung, sie sind
auf Hilfe aus der restlichen jüdischen Diaspora und auf eigene Reserven
angewiesen.
Ruth Fruchtman:
Wieviele Juden leben jetzt in Weißrußland? Wieviele von ihnen sind
Progressive Reform-Juden?
Nelly Kogan:
In ganz Weißrußland leben 70,000 Juden. Es gibt im Lande zwölf Reform
(Progressive) Gemeinden, eine in jeder wichtigen Großstadt; die Anzahl von
Menschen, die in der Progressiven Bewegung engagiert sind, beläuft sich auf
7.000. Als die Reformbewegung sich hier etablierte, wollte man in jeder
Großstadt, in der eine beträchtliche Anzahl von Juden lebte, eine Gemeinde
gründen. Selbstverständlich gibt es auch die orthodoxen Gemeinden; in jeder
Stadt, in welcher mehr als zwei- bis dreihundert Juden wohnen, gibt es
normalerweise eine orthodoxe Gemeinde, einen orthodoxen Minjan und eine
egalitäre oder Progressive Gemeinde.
R.F:
Wieviele Mitglieder hat Ihre
Gemeinde?
N. Kogan:
Nach der Mitgliedsliste, das heißt, alle, die Mitgliederbeiträge zahlen,
sind es ungefähr vierhundert. Wenn wir chagim - Feste - feiern, dann
kommen zwischen vier- bis fünfhundert Leute. Also, es ist fließend, es gibt
Leute, die einfach rein und raus gehen.
R:F:
Erzählen Sie mir von sich –
wie war Ihr Leben?
Ich bin in St. Petersburg geboren,
auch mein Vater ist dort geboren, aber meine Mutter kommt aus Tiflis, aus
Georgien, im Süden. 1987, als ich sechzehn war, gründeten einige Leute in
St. Petersburg eine Gesellschaft für jüdische Kultur. Sie war säkular, rein
kulturell, mit Vorträgen, Workshops und Diskussionen zur Geschichte der
jüdischen Institutionen in Petersburg, zur jüdischen Musik und zur
Literatur. Die Mehrheit der Leute von damals lebt heute in Israel oder in
den USA. Also, ich ging hin zu den Treffen, und nach einer Weile haben sie
mich gefragt: Willst du für uns arbeiten? Ich sagte ja. Ich war noch an der
Oberschule, machte gerade meine Abschlußprüfung, und ich habe angefangen,
für sie zu übersetzen. Ich übersetzte Artikel aus den West-Zeitungen ins
Russische usf. Also, ich war mit der jüdischen Bewegung als solcher noch
nicht involviert und ich war nicht religiös, es war ein Prozeß. 1990 kamen
die Lubavicher nach Petersburg und gründeten für Jungen und Mädchen eine
Jeshiwa, mit Kursen in der Synagoge. Ich besuchte einen Kurs, er war
interessant, die Organisation Chabad Lubavich ist sehr interessant, ich
wollte mehr darüber wissen und ich war acht Monate lang sehr involviert. Ich
besuchte die Kurse und studierte gleichzeitig an der Uni, der normalen,
säkularen Universität. Dann bin ich weggegangen, weil es doch nichts für
mich war.
R.F:
War es zu mystisch?
N. Kogan:
Nein, es war einfach – wie soll ich das erklären? Vielleicht würde ich
jetzt, mit achtundzwanzig, anders reagieren. Damals, mit achtzehn, war es
für mich zu eng. Ich wollte weiter studieren, ich wollte nicht damit
aufhören, ich wollte mein Diplom erhalten, auch das war für die Lubavicher
problematisch. Ich wollte nicht sofort nach Israel ziehen, und ich war für
einen bestimmten Lebensstil, den sie von mir erwarteten, einfach noch nicht
reif.
R.F.:
Das heißt, einen sehr
orthodoxen Lebensstil?
N. Kogan:
Ja. Ich war einfach noch nicht reif genug für so etwas. Ich wollte nicht da
bleiben. Ich meine, ich hätte bleiben können, es ausprobieren, um einfach
herauszukriegen, ob ich dazu gehöre, oder ob ich gehen wollte. Vielleicht
war ich einfach zu ungeduldig und ich ging. Sie haben mich rausgeschmissen!
(lacht) Also, das war 1991 und ein Jahr lang war ich in der jüdischen
Bewegung aktiv, hier und da, ein wenig überall, ich interessierte mich immer
noch für jüdische Kultur, und für meine Diplomarbeit (B.A.) an der
Universität habe ich über die Geschichte der Jüdischen Gemeinde in St.
Petersburg vor 1917 geschrieben. Dann im Herbst 1992 rief mich ein Freund an
und sagte: Hör‘ mal, möchtest du mich am Freitag abend besuchen? Wenn es
orthodox ist, auf keinen Fall, habe ich geantwortet. Er sagte: Es ist nicht
orthodox. Naja, was ist es denn, wenn es nicht orthodox ist? habe ich
gefragt. Er sagte: Wart‘ mal ab. Du wirst mal sehen: Na gut, habe ich
geantwortet, dann komm‘ ich und guck‘ ich mir das an. Er hatte recht, es war
sehr interessant, für mich und auch für die anderen Menschen, die auch mit
dabei waren und die anschließend die Progressive Gemeinde mit aufgebaut
haben. Menschen wie ich, die schon eine Art von orthodoxem "Lehrgang" hinter
sich hatten. Wir waren von unschätzbarem Wert: wir konnten Hebräisch lesen,
wir kannten den Gottesdienst und die Struktur der Liturgie, die Feiertage
undsoweiter. Und so bin ich zu der Progressiven Bewegung gekommen. Ich war
eine der fünfzig Menschen, die im Herbst 1992 die St. Petersburger
Progressive Gemeinde ins Leben gerufen haben. Ich war ein Jahr lang
Laienleiterin. Ich wohnte bis 1993 in St. Petersburg, und danach - irgendwie
- landete ich in London, im Leo Baeck College. Eines Tages haben sie mich
gefragt, ob ich zu einem Vorstellungsgespräch hingehen will und mich um
einen Studienplatz bewerben möchte: für das Rabbinat. Ich bin zum
Vorstellungsgespräch gegangen – ja, wissen Sie, ich wollte es schon, aber
ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, daß sie mich nehmen würden! Das
konnte ich wirklich nicht. Und dann bin ich den Sommer über nach Israel
gefahren, und habe es völlig vergessen. Im August kurz vor Rosh Hashana kam
ich zurück nach St. Petersburg, und da lag schon ein Brief für mich: sie
haben mich für die Rabbinerausbildung akzeptiert. Also, dann bin ich nach
London gefahren, und das war der Anfang.
R:F:
Aber wie wußten Sie, daß Sie
jüdisch waren – überhaupt?
N. Kogan:
Es stand in meinem Paß. (schrilles Gelächter) Du kommst nicht darum
herum! Jedes Mal, wenn ich meinen Ausweis öffne, da steht es, auf der
zweiten Seite. Es ist da!
R.F:
Wie alt waren Sie, als Sie
gewußt haben, was es heißt? Wann haben Sie den Unterschied gemerkt, zwischen
Ihrem Paß und den Pässen der anderen Menschen?
N. Kogan:
Ich wußte seit meinem dritten, vierten Lebensjahr, daß ich Jüdin bin,
verstehen Sie, und als ich meinen Paß erhalten habe, war ich sechzehn. Ich
meine, ich wußte schon, daß ich Jüdin bin; also, ich habe nicht erwartet,
daß man bei der Polizei etwas anderes in meinen Paß eintragen würde, und das
durfte man auch nicht, weil, wenn du in Rußland deinen Paß erhältst, du
deine Geburtsurkunde vorzeigen mußt, und in deiner Geburtsurkunde steht, ob
deine Mutter Frau Sowieso Jüdin ist, ob dein Vater Herr Sowieso jüdisch oder
russisch ist oder wie auch immer: deine Nationalität wird durch die
Nationalitäten deiner Eltern festgelegt. Wenn einer deiner Eltern nicht
jüdisch ist, da hast du die Wahl, ob du dich als jüdisch eintragen läßt oder
als russisch. Aber wenn deine beiden Eltern Juden sind, dann wirst du’s
nicht mehr los! Du kannst nicht sagen: ich will Russe werden, das geht
nicht.
R.F:
Können Sie denn sagen, es gebe
so etwas wie eine jüdische Nationalität?
N. Kogan:
Die frühere Sowjetunion hat uns gesagt, daß es eine gibt, und wir mußten es
glauben, weil wir keine andere Wahl hatten. In der kommunistischen Zeit war
nämlich nur eine winzige Minderheit jüdisch und gläubig, nur ganz wenige
Juden praktizierten. Ich rede jetzt von den aschkenasischen Juden, weil die
georgischen und Bucharianjuden, das ist etwas ganz anderes, sie sind
sefardisch und sie sind anders. Gut, für die Mehrheit der Menschen was hat
das Jüdischsein überhaupt bedeutet? Es hieß, du ißt vielleicht Sachen, die
ein wenig anders sind als das, was die anderen essen, zum Beispiel an
Pessach ißt du Mazza und Brot gleichzeitig, zwei verschiedene Dinge. Du ißt
Brot weiterhin, aber du gehst in die Synagoge; vor Pessach kaufst du Mazza,
weil man das tut, wenn man Jude ist. Dein Bekanntenkreis besteht meistens
aus Juden; das ist allerdings unterschiedlich, ich kenne viele Juden, die
nur mit nicht-Juden zu tun haben, aber normalerweise lernst du andere Juden
kennen, du triffst dich mit Juden, du heiratest jüdisch, in der Gemeinde,
obwohl es sehr viele gemischte Ehen gibt. Das heißt, deine Kultur ist ein
wenig anders als die Kultur der anderen Menschen in deiner Umgebung, und
deshalb in den wichtigsten Großstädten – ich komme aus der zweitgrößten
Stadt in Rußland, aus St. Petersburg, - in Großstädten wie Moskau und St.
Petersburg ist die Assimilationsrate viel höher als in der Provinz,
besonders in Weißrußland und in der Ukraine. Ich arbeite jetzt in Minsk und
ich sehe den Unterschied.
R.F:
Warum haben Sie sich mit
sechzehn entschieden, jüdisch zu sein und nicht russisch? War das für Sie
ein ganz klarer Fall?
N. Kogan:
(erstaunt) Naja! Warum sollte ich um Himmels willen russisch werden?
(lacht) Mein Vater war der Sohn einer gemischten Ehe; sein Vater war
Russe und seine Mutter, meine Großmutter, ist Jüdin. Gut, als sie 1944
geheiratet haben, waren sie beide noch in der Armee, sie waren Kommunisten,
und es war ihnen überhaupt nicht wichtig, daß er Russe war und sie
Jüdin. Meine Großmutter sagte immer zu mir, daß das Wichtigste an einem
Menschen seine Meinungen seien, und ob er Kommunist sei. Seine Hautfarbe
spielt überhaupt keine Rolle. Okay. Mein Vater ist in einer sehr
assimilierten Familie aufgewachsen, in einer äußerst assimilierten, und er
hat sich nur ganz zufällig in meine Mutter verliebt, die Jüdin ist. Er hätte
auch eine Russin heiraten können, aber er verliebte sich ausgerechnet in
eine Jüdin. Und ich teile den jüdischen Hintergrund meiner Mutter, ich habe
ihren Anteil an jüdischem Bewußtsein, das sehr stark ist. Ich fühlte mich
immer viel mehr zu ihrer Familie hingezogen; sie waren traditioneller, ich
kann nicht sagen praktizierend, aber sie sind ihres Judentums viel mehr
bewußt. Ich wußte, daß ich lieber mit der Familie meiner Mutter zu tun
hätte, als mit der meines Vaters – eine völlig assimilierte Herkunft aus
einer gemischten Ehe.
R.F:
Aber Sie haben nie im Traum
gedacht, daß Sie Rabbinerin werden würden? Kam das nicht einfach ganz
zufällig zustande?
N. Kogan:
Nein, das war überhaupt nicht zufällig, weil ich wußte, daß ich mich für
Judaistik ganz besonders interessiere, und wenn ich nicht Rabbinerin
geworden wäre, wäre ich Historikerin gewesen, von Beruf bin ich
Historikerin, ich hätte also eine akademische Laufbahn gehabt. Ich habe
immer wahnsinnig gern mit Menschen zusammengearbeitet, und ich liebte die
Arbeit in der Jüdischen Gemeinde, so daß es für mich ist wie eine gute Ehe –
es verbindet die zwei Seiten meiner Persönlichkeit.
R.F:
Wie sind Sie nach Minsk
gekommen?
N. Kogan:
Das letzte Jahr am Leo Baeck College ist ein praktisches Jahr. Man muß
praktische Rabbiner Arbeit leisten. Man ist immer noch Student, aber im
Grunde genommen ist man schon Rabbiner: du tust die Arbeit eines Rabbiners.
Dir wird eine Gemeinde zugeteilt, normalerweise in London oder irgendwo
sonst in Großbritannien, oder wenn du Europäer bist, kannst du in Europa
arbeiten. Na gut, ich war in London, es war das letzte Jahr, das vierte
Jahr, und ich saß da und überlegte und es fiel mir auf, daß es sehr viele
Menschen, massenweise Studenten gibt, die in Großbritannien arbeiten
könnten, aber nur sehr wenige, die in der ehemaligen Sowjetunion arbeiten
können, eben nur weil kaum jemand fließend Russisch spricht, wissen Sie, und
ich fühlte mich irgendwie – nicht verpflichtet, sondern – ich hatte das
Gefühl, daß ich dort sehr viel beitragen könnte, - daß ich in der ehemaligen
Sowjetunion wirklich sehr viel nützlicher sein würde als jemals in
Großbritannien. Und die Menschen in den Progressiven-Gemeinden in der
früheren Sowjetunion, sie brauchen wirklich einen starken Rabbiner-Einsatz,
irgendein professionelles jüdisches Engagement, ob es im Bildungsbereich
ist, oder im rabbinischen oder im sozialen Bereich, wie auch immer, weil wir
hochqualifizierte jüdische Mitarbeiter dringend nötig haben – wir haben so
wenige. Ja, und deshalb habe ich gesagt: ich gehe nach Minsk.
R.F:
Lieber nach Minsk,
Weißrußland, als nach Rußland?
N. Kogan:
Ich konnte einen Ort wie St. Petersburg nicht frei aussuchen, weil ich eine
Frau bin ...
R.F:
Weil Sie eine Frau sind?
N. Kogan:
Ja, wegen der gegenwärtigen politischen Lage, wissen Sie, und wegen der
orthodoxen Bewegung in der ehemaligen Sowjetunion. Es ist zur Zeit nicht
politisch klug, in Moskau oder St. Petersburg eine Frau zu engagieren.
R.F:
Warum?
N. Kogan:
Beide Großstädte haben ein hartes, politisches Profil – man muß überall
dabeisein, man ist ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit ...
R.F:
Ist es für eine Frau
gefährlicher?
N. Kogan:
Nein, es geht nicht um irgendeine Gefahr, es heißt nur, daß ein Mann als
Reformrabbiner viel leichter akzeptiert wird, vom orthodoxen Establishment
als eine Frau. Mir macht es nichts aus. Ich möchte keine ständige
Konfrontation mit den Orthodoxen. Und ich verstehe, warum es so ist. Moskau
und Petersburg sind die größten Städte in der früheren Sowjetunion und wegen
der Glaubwürdigkeit der Bewegung muß es ein Mann sein. Ich habe nichts
dagegen.
R.F:
Und in Minsk werden Sie von
den Orthodoxen akzeptiert?
N. Kogan:
(seufzt) Wir leben nach dem Motto: Leben und leben lassen. Ich habe
mein eigenes Publikum, meine Betergemeinde, sie haben die ihrige. Und wir
teilen sie, das weiß ich, weil Leute aus meiner Gemeinde die orthodoxe
Synagoge besuchen und Leute aus der orthodoxen zu mir kommen. Es macht
nichts: wir sind eine Gemeinde, eine Gemeinschaft; in Minsk gibt es zwei
orthodoxe Rabbiner, weder der eine noch der andere hat Schwierigkeiten für
mich gemacht, und ich auch nicht für sie.
R.F:
Wie viele Juden wohnen jetzt
in Minsk?
N. Kogan:
Ungefähr 25.000.
R.F:
25.000 Juden, nur in Minsk?
N. Kogan:
Ja, aus eineinviertel Million, so etwa ...
R.F:
Gut, wir werden jetzt nicht
anfangen, Weißrußland mit Polen zu vergleichen ...
N. Kogan
(heftig) Nein, weil die Menschen eine Chance hatten, 1968 in Polen
wegzugehen - in Weißrußland hatten sie keine! Und die große Alija, die
Massenauswanderung nach Israel hat erst Ende der achtziger Jahre begonnen,
Anfang der neunziger ...
R.F:
Und es gibt trotzdem noch
25.000 Juden – Und sie gehen nicht weg?
N. Kogan:
Nein, die Mehrheit von ihnen ist älter, über sechzig. Es ist eine alternde
Gemeinde, sie ziehen nicht weg.
R.F:
Und die jüngeren?
N. Kogan:
Die jüngeren werden irgendwann mal weggehen, irgendwohin. Wir haben ziemlich
viele junge Leute. Mindestens ein Drittel der Gemeinde ist unter dreißig.
Das sind die Leute, die letztendlich weggehen werden ... Zehn oder fünfzehn
wandern jedes Jahr aus. Nach Israel, nach Deutschland oder in die
Vereinigten Staaten.
R.F:
Und feiern Sie Bar Mizwa, Bat
Mizwa, Brit Mila? Wie steht es mit dem Brit Mila?
N. Kogan:
In den letzten fünf Jahren gab es gar keine Babys. Weder männlich noch
weiblich. Wir feiern Bar Mizwa und Bat Mizwa, und baruch ha’schem,
wenn ein Baby zur Welt kommen sollte, dann würden wir sicher ein Brit Mila
machen. Aber es gibt keine jungen Paare. Es gibt bei uns niemanden, der
Kinder in die Welt setzt – leider!
R. F:
Haben Sie vor, in Minsk zu bleiben?
N. Kogan:
Auf jeden Fall die nächsten zwei, drei Jahre ...
R.F:
Und dann? Wollen Sie bis
Lebensende da bleiben?
N. Kogan:
Nein, das würde ich wahrscheinlich gar nicht aushalten, nicht mein ganzes
Leben! Die Stadt ist nicht besonders schön. Leider ist die Gemeinde wirklich
eine alternde Gemeinde, und in zehn bis fünfzehn Jahren wird es beträchtlich
dahinschwinden, die jungen Menschen werden weggehen ...
R.F:
Gibt es für die Progressive
Gemeinde einen eigenen jüdischen Friedhof?
N. Kogan:
Es gibt gar keinen jüdischen Friedhof. Wir werden alle zusammen begraben.
R.F:
Es gibt keine jüdischen
Friedhöfe mehr?
N. Kogan:
Die gab es vor dem Krieg, aber sie wurden alle zerstört ...
R.F:
Sie gehören zur Progressiven
Reformbewegung, und was das Jüdischsein und das Nicht-Jüdischsein betrifft,
halten Sie sich an die Regeln der Halacha. Sind Sie der englischen
Progressiven Bewegung angegliedert oder der amerikanischen?
N. Kogan:
In der ehemaligen Sowjetunion sind wir mit der europäischen und israelischen
Progressiven Bewegung enger verbunden als mit der amerikanischen. Zum
Beispiel: in Amerika werden die Kinder jüdischer Väter als Juden akzeptiert.
In Israel und in Europa werden sie nicht akzeptiert, und von uns auch nicht.
Für jemanden, der nur einen jüdischen Vater hat, und nach der Halacha nicht
jüdisch ist, werden wir kein chupa machen. In diesem Fall würden wir
auf Übertritt bestehen.
R.F.:
Und wie stehen die Leute dazu?
Wollen sie übertreten oder nicht?
N. Kogan:
Für sie ist es kein wesentliches Problem, weil sie nach dem Rückkehrrecht
sowieso nach Israel einwandern können, und bei uns in der Synagoge, in der
Gemeinde genießen sie sonst alle Rechte. Weil die Mehrheit sowieso über
sechzig ist, steht Ehe nicht unbedingt jetzt an. Es wird nur zum Problem,
wenn jemand heiraten möchte, der nicht halachisch jüdisch ist, aber in den
letzten paar Jahren gab es keine Hochzeiten. Früher gab es einige aber schon
seit zwei Jahren nicht mehr.
R.F:
Während Sie noch in St. Petersburg gewohnt haben - , und ich weiß, daß es
auch in Weißrußland Antisemitismus gibt -, muß das gerade mitten in dieser
ganzen Pamjat-Affäre gewesen sein. Wie haben Sie alles damals erlebt?
N. Kogan:
Das war 1990, ich erinnere mich, das war sehr beunruhigend. Ich wollte
damals nach Israel auswandern, meine Mutter auch. Aber es hört sich
fürchterlich an, wenn ich sage, man kann sich an vieles gewöhnen. Und ich
weiß, was die Menschen in Minsk betrifft, die ich kenne, daß die
wirtschaftlichen Probleme in ihrem Leben viel gravierender sind; auf der
Liste der Prioritäten stehen sie weiter oben als der Antisemitismus. Es gibt
jetzt keinen staatlichen Antisemitismus. Was es gibt, das ist ein
Alltagsantisemitismus, der leider in Deutschland existiert, in den
Vereinigten Staaten und in Großbritannien auch. Ich bin diesem
Alltagsantisemitismus begegnet – und sogar auf der Straße - nicht bloß in
Moskau und St. Petersburg, sondern in London und Paris. Wenn ich in St.
Petersburg bin, und auch sonstwo in Rußland, trage ich in der Öffentlichkeit
nie ein Magen David, ich will keine Probleme haben. In Minsk werden manchmal
an der Haustür Graffiti gekritzelt, wie ab und zu bei mir im Wohnblock, wo
ich wohne. Alle wissen, was ich dort mache, weil ich häufig Besuch bekomme,
und am Türpfosten habe ich auch eine Mesusa.
R.F:
Aber kann man eine Mesusa an
die Tür dort anbringen? Wissen die anderen Bewohner, daß Sie Rabbinerin
sind?
N. Kogan:
Ja, sie wissen, daß ich Rabbinerin bin, und was die Mesusa betrifft, das ist
interessant, weil ich mir tatsächlich überlegt habe, ob ich an der
Wohnungstür eine anbringen soll oder nicht. Okay, ich riskiere nichts, habe
ich mir gedacht, wenn ich eine da anbringe, ich probiere es mal aus. Gut,
und wenn Leute zu mir kommen, zum Beispiel, um das Telefon zu reparieren,
oder wegen des Fernsehers, da fragen sie mich, was das ist, und ich erkläre
es ihnen. Ich hatte schon ein Jahr lang dort gewohnt, und da passierte
nichts, gar nichts, die Mesusa war noch dran, keiner hatte sie angefaßt,
keiner hatte was damit gemacht, obwohl sehr viele Menschen in diesem
Wohnblock wohnen. Und dann unterhielt ich mich eines Tages mit meiner
Nachbarin, die gleich nebenan wohnt, sie ist keine Jüdin, aber sie weiß
Bescheid. Ich hatte ihr erklärt, was die Mesusa bedeutet und alles, und ich
sagte nur ganz flüchtig, nebenbei: Ich wundere mich, daß niemand meine
Mesusa jemals angefaßt hat, und sie sagte zu mir: Ach, wissen Sie, warum das
so ist? Ich sagte, nein, das weiß ich nicht, und sie sagte: Na, ich habe all
diesen Leuten gesagt, daß wenn sie dieses kleine Ding an Ihrer Tür da
anfassen, werfen Sie auf sie den Bösen Blick. Ich sagte, vielen Dank, Sie
haben mir wirklich einen Gefallen getan! (lacht) Und tatsächlich, sie
ist siebzig Jahre alt, sie ist Russin, und sie hat wirklich allen erzählt,
diesen Babuschkas, den alten Omas, die unten im Hof hocken: "Sie hat dieses
Dingelchen an ihrer Tür, und wenn ihr es auch nur mit eurem Finger berührt,
dann wirft sie auf euch den Bösen Blick." Eigentlich ist es antisemitisch,
aber es ist witzig. Ich habe mich bei ihr bedankt, sie hat mir wirklich
einen Gefallen getan. Keiner faßt meine Mesusa an. Der ganze Wohnblock hat
Angst vor dem kleinen Ding an meiner Tür.
Übersetzt aus dem Englischen von Ruth
Fruchtman
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