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Europa

Rabbinerin in Minsk

Ein Interview mit Nelly Kogan
Von Ruth Fruchtman

Wie in den meisten Großstädten Weißrußlands hat die Reformgemeinde von Minsk (Cheled Simcha) eine Synagoge, einen Cheder und einen Kindergarten: Simcha. Ausflüge und Sommerlager werden für jüdische Jugendliche organisiert. Anders als in Westeuropa erhalten die jüdischen Gemeinden Weißrußlands keine staatliche Unterstützung, sie sind auf Hilfe aus der restlichen jüdischen Diaspora und auf eigene Reserven angewiesen.

Ruth Fruchtman: Wieviele Juden leben jetzt in Weißrußland? Wieviele von ihnen sind Progressive Reform-Juden?

Nelly Kogan: In ganz Weißrußland leben 70,000 Juden. Es gibt im Lande zwölf Reform (Progressive) Gemeinden, eine in jeder wichtigen Großstadt; die Anzahl von Menschen, die in der Progressiven Bewegung engagiert sind, beläuft sich auf 7.000. Als die Reformbewegung sich hier etablierte, wollte man in jeder Großstadt, in der eine beträchtliche Anzahl von Juden lebte, eine Gemeinde gründen. Selbstverständlich gibt es auch die orthodoxen Gemeinden; in jeder Stadt, in welcher mehr als zwei- bis dreihundert Juden wohnen, gibt es normalerweise eine orthodoxe Gemeinde, einen orthodoxen Minjan und eine egalitäre oder Progressive Gemeinde.

R.F: Wieviele Mitglieder hat Ihre Gemeinde?

N. Kogan: Nach der Mitgliedsliste, das heißt, alle, die Mitgliederbeiträge zahlen, sind es ungefähr vierhundert. Wenn wir chagim - Feste - feiern, dann kommen zwischen vier- bis fünfhundert Leute. Also, es ist fließend, es gibt Leute, die einfach rein und raus gehen.

R:F: Erzählen Sie mir von sich – wie war Ihr Leben?

Ich bin in St. Petersburg geboren, auch mein Vater ist dort geboren, aber meine Mutter kommt aus Tiflis, aus Georgien, im Süden. 1987, als ich sechzehn war, gründeten einige Leute in St. Petersburg eine Gesellschaft für jüdische Kultur. Sie war säkular, rein kulturell, mit Vorträgen, Workshops und Diskussionen zur Geschichte der jüdischen Institutionen in Petersburg, zur jüdischen Musik und zur Literatur. Die Mehrheit der Leute von damals lebt heute in Israel oder in den USA. Also, ich ging hin zu den Treffen, und nach einer Weile haben sie mich gefragt: Willst du für uns arbeiten? Ich sagte ja. Ich war noch an der Oberschule, machte gerade meine Abschlußprüfung, und ich habe angefangen, für sie zu übersetzen. Ich übersetzte Artikel aus den West-Zeitungen ins Russische usf. Also, ich war mit der jüdischen Bewegung als solcher noch nicht involviert und ich war nicht religiös, es war ein Prozeß. 1990 kamen die Lubavicher nach Petersburg und gründeten für Jungen und Mädchen eine Jeshiwa, mit Kursen in der Synagoge. Ich besuchte einen Kurs, er war interessant, die Organisation Chabad Lubavich ist sehr interessant, ich wollte mehr darüber wissen und ich war acht Monate lang sehr involviert. Ich besuchte die Kurse und studierte gleichzeitig an der Uni, der normalen, säkularen Universität. Dann bin ich weggegangen, weil es doch nichts für mich war.

R.F: War es zu mystisch?

N. Kogan: Nein, es war einfach – wie soll ich das erklären? Vielleicht würde ich jetzt, mit achtundzwanzig, anders reagieren. Damals, mit achtzehn, war es für mich zu eng. Ich wollte weiter studieren, ich wollte nicht damit aufhören, ich wollte mein Diplom erhalten, auch das war für die Lubavicher problematisch. Ich wollte nicht sofort nach Israel ziehen, und ich war für einen bestimmten Lebensstil, den sie von mir erwarteten, einfach noch nicht reif.

R.F.: Das heißt, einen sehr orthodoxen Lebensstil?

N. Kogan: Ja. Ich war einfach noch nicht reif genug für so etwas. Ich wollte nicht da bleiben. Ich meine, ich hätte bleiben können, es ausprobieren, um einfach herauszukriegen, ob ich dazu gehöre, oder ob ich gehen wollte. Vielleicht war ich einfach zu ungeduldig und ich ging. Sie haben mich rausgeschmissen! (lacht) Also, das war 1991 und ein Jahr lang war ich in der jüdischen Bewegung aktiv, hier und da, ein wenig überall, ich interessierte mich immer noch für jüdische Kultur, und für meine Diplomarbeit (B.A.) an der Universität habe ich über die Geschichte der Jüdischen Gemeinde in St. Petersburg vor 1917 geschrieben. Dann im Herbst 1992 rief mich ein Freund an und sagte: Hör‘ mal, möchtest du mich am Freitag abend besuchen? Wenn es orthodox ist, auf keinen Fall, habe ich geantwortet. Er sagte: Es ist nicht orthodox. Naja, was ist es denn, wenn es nicht orthodox ist? habe ich gefragt. Er sagte: Wart‘ mal ab. Du wirst mal sehen: Na gut, habe ich geantwortet, dann komm‘ ich und guck‘ ich mir das an. Er hatte recht, es war sehr interessant, für mich und auch für die anderen Menschen, die auch mit dabei waren und die anschließend die Progressive Gemeinde mit aufgebaut haben. Menschen wie ich, die schon eine Art von orthodoxem "Lehrgang" hinter sich hatten. Wir waren von unschätzbarem Wert: wir konnten Hebräisch lesen, wir kannten den Gottesdienst und die Struktur der Liturgie, die Feiertage undsoweiter. Und so bin ich zu der Progressiven Bewegung gekommen. Ich war eine der fünfzig Menschen, die im Herbst 1992 die St. Petersburger Progressive Gemeinde ins Leben gerufen haben. Ich war ein Jahr lang Laienleiterin. Ich wohnte bis 1993 in St. Petersburg, und danach - irgendwie - landete ich in London, im Leo Baeck College. Eines Tages haben sie mich gefragt, ob ich zu einem Vorstellungsgespräch hingehen will und mich um einen Studienplatz bewerben möchte: für das Rabbinat. Ich bin zum Vorstellungsgespräch gegangen – ja, wissen Sie, ich wollte es schon, aber ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, daß sie mich nehmen würden! Das konnte ich wirklich nicht. Und dann bin ich den Sommer über nach Israel gefahren, und habe es völlig vergessen. Im August kurz vor Rosh Hashana kam ich zurück nach St. Petersburg, und da lag schon ein Brief für mich: sie haben mich für die Rabbinerausbildung akzeptiert. Also, dann bin ich nach London gefahren, und das war der Anfang.

R:F: Aber wie wußten Sie, daß Sie jüdisch waren – überhaupt?

N. Kogan: Es stand in meinem Paß. (schrilles Gelächter) Du kommst nicht darum herum! Jedes Mal, wenn ich meinen Ausweis öffne, da steht es, auf der zweiten Seite. Es ist da!

R.F: Wie alt waren Sie, als Sie gewußt haben, was es heißt? Wann haben Sie den Unterschied gemerkt, zwischen Ihrem Paß und den Pässen der anderen Menschen?

N. Kogan: Ich wußte seit meinem dritten, vierten Lebensjahr, daß ich Jüdin bin, verstehen Sie, und als ich meinen Paß erhalten habe, war ich sechzehn. Ich meine, ich wußte schon, daß ich Jüdin bin; also, ich habe nicht erwartet, daß man bei der Polizei etwas anderes in meinen Paß eintragen würde, und das durfte man auch nicht, weil, wenn du in Rußland deinen Paß erhältst, du deine Geburtsurkunde vorzeigen mußt, und in deiner Geburtsurkunde steht, ob deine Mutter Frau Sowieso Jüdin ist, ob dein Vater Herr Sowieso jüdisch oder russisch ist oder wie auch immer: deine Nationalität wird durch die Nationalitäten deiner Eltern festgelegt. Wenn einer deiner Eltern nicht jüdisch ist, da hast du die Wahl, ob du dich als jüdisch eintragen läßt oder als russisch. Aber wenn deine beiden Eltern Juden sind, dann wirst du’s nicht mehr los! Du kannst nicht sagen: ich will Russe werden, das geht nicht.

R.F: Können Sie denn sagen, es gebe so etwas wie eine jüdische Nationalität?

N. Kogan: Die frühere Sowjetunion hat uns gesagt, daß es eine gibt, und wir mußten es glauben, weil wir keine andere Wahl hatten. In der kommunistischen Zeit war nämlich nur eine winzige Minderheit jüdisch und gläubig, nur ganz wenige Juden praktizierten. Ich rede jetzt von den aschkenasischen Juden, weil die georgischen und Bucharianjuden, das ist etwas ganz anderes, sie sind sefardisch und sie sind anders. Gut, für die Mehrheit der Menschen was hat das Jüdischsein überhaupt bedeutet? Es hieß, du ißt vielleicht Sachen, die ein wenig anders sind als das, was die anderen essen, zum Beispiel an Pessach ißt du Mazza und Brot gleichzeitig, zwei verschiedene Dinge. Du ißt Brot weiterhin, aber du gehst in die Synagoge; vor Pessach kaufst du Mazza, weil man das tut, wenn man Jude ist. Dein Bekanntenkreis besteht meistens aus Juden; das ist allerdings unterschiedlich, ich kenne viele Juden, die nur mit nicht-Juden zu tun haben, aber normalerweise lernst du andere Juden kennen, du triffst dich mit Juden, du heiratest jüdisch, in der Gemeinde, obwohl es sehr viele gemischte Ehen gibt. Das heißt, deine Kultur ist ein wenig anders als die Kultur der anderen Menschen in deiner Umgebung, und deshalb in den wichtigsten Großstädten – ich komme aus der zweitgrößten Stadt in Rußland, aus St. Petersburg, - in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg ist die Assimilationsrate viel höher als in der Provinz, besonders in Weißrußland und in der Ukraine. Ich arbeite jetzt in Minsk und ich sehe den Unterschied.

R.F: Warum haben Sie sich mit sechzehn entschieden, jüdisch zu sein und nicht russisch? War das für Sie ein ganz klarer Fall?

N. Kogan: (erstaunt) Naja! Warum sollte ich um Himmels willen russisch werden? (lacht) Mein Vater war der Sohn einer gemischten Ehe; sein Vater war Russe und seine Mutter, meine Großmutter, ist Jüdin. Gut, als sie 1944 geheiratet haben, waren sie beide noch in der Armee, sie waren Kommunisten, und es war ihnen überhaupt nicht wichtig, daß er Russe war und sie Jüdin. Meine Großmutter sagte immer zu mir, daß das Wichtigste an einem Menschen seine Meinungen seien, und ob er Kommunist sei. Seine Hautfarbe spielt überhaupt keine Rolle. Okay. Mein Vater ist in einer sehr assimilierten Familie aufgewachsen, in einer äußerst assimilierten, und er hat sich nur ganz zufällig in meine Mutter verliebt, die Jüdin ist. Er hätte auch eine Russin heiraten können, aber er verliebte sich ausgerechnet in eine Jüdin. Und ich teile den jüdischen Hintergrund meiner Mutter, ich habe ihren Anteil an jüdischem Bewußtsein, das sehr stark ist. Ich fühlte mich immer viel mehr zu ihrer Familie hingezogen; sie waren traditioneller, ich kann nicht sagen praktizierend, aber sie sind ihres Judentums viel mehr bewußt. Ich wußte, daß ich lieber mit der Familie meiner Mutter zu tun hätte, als mit der meines Vaters – eine völlig assimilierte Herkunft aus einer gemischten Ehe.

R.F: Aber Sie haben nie im Traum gedacht, daß Sie Rabbinerin werden würden? Kam das nicht einfach ganz zufällig zustande?

N. Kogan: Nein, das war überhaupt nicht zufällig, weil ich wußte, daß ich mich für Judaistik ganz besonders interessiere, und wenn ich nicht Rabbinerin geworden wäre, wäre ich Historikerin gewesen, von Beruf bin ich Historikerin, ich hätte also eine akademische Laufbahn gehabt. Ich habe immer wahnsinnig gern mit Menschen zusammengearbeitet, und ich liebte die Arbeit in der Jüdischen Gemeinde, so daß es für mich ist wie eine gute Ehe – es verbindet die zwei Seiten meiner Persönlichkeit.

R.F: Wie sind Sie nach Minsk gekommen?

N. Kogan: Das letzte Jahr am Leo Baeck College ist ein praktisches Jahr. Man muß praktische Rabbiner Arbeit leisten. Man ist immer noch Student, aber im Grunde genommen ist man schon Rabbiner: du tust die Arbeit eines Rabbiners. Dir wird eine Gemeinde zugeteilt, normalerweise in London oder irgendwo sonst in Großbritannien, oder wenn du Europäer bist, kannst du in Europa arbeiten. Na gut, ich war in London, es war das letzte Jahr, das vierte Jahr, und ich saß da und überlegte und es fiel mir auf, daß es sehr viele Menschen, massenweise Studenten gibt, die in Großbritannien arbeiten könnten, aber nur sehr wenige, die in der ehemaligen Sowjetunion arbeiten können, eben nur weil kaum jemand fließend Russisch spricht, wissen Sie, und ich fühlte mich irgendwie – nicht verpflichtet, sondern – ich hatte das Gefühl, daß ich dort sehr viel beitragen könnte, - daß ich in der ehemaligen Sowjetunion wirklich sehr viel nützlicher sein würde als jemals in Großbritannien. Und die Menschen in den Progressiven-Gemeinden in der früheren Sowjetunion, sie brauchen wirklich einen starken Rabbiner-Einsatz, irgendein professionelles jüdisches Engagement, ob es im Bildungsbereich ist, oder im rabbinischen oder im sozialen Bereich, wie auch immer, weil wir hochqualifizierte jüdische Mitarbeiter dringend nötig haben – wir haben so wenige. Ja, und deshalb habe ich gesagt: ich gehe nach Minsk.

R.F: Lieber nach Minsk, Weißrußland, als nach Rußland?

N. Kogan: Ich konnte einen Ort wie St. Petersburg nicht frei aussuchen, weil ich eine Frau bin ...

R.F: Weil Sie eine Frau sind?

N. Kogan: Ja, wegen der gegenwärtigen politischen Lage, wissen Sie, und wegen der orthodoxen Bewegung in der ehemaligen Sowjetunion. Es ist zur Zeit nicht politisch klug, in Moskau oder St. Petersburg eine Frau zu engagieren.

R.F: Warum?

N. Kogan: Beide Großstädte haben ein hartes, politisches Profil – man muß überall dabeisein, man ist ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit ...

R.F: Ist es für eine Frau gefährlicher?

N. Kogan: Nein, es geht nicht um irgendeine Gefahr, es heißt nur, daß ein Mann als Reformrabbiner viel leichter akzeptiert wird, vom orthodoxen Establishment als eine Frau. Mir macht es nichts aus. Ich möchte keine ständige Konfrontation mit den Orthodoxen. Und ich verstehe, warum es so ist. Moskau und Petersburg sind die größten Städte in der früheren Sowjetunion und wegen der Glaubwürdigkeit der Bewegung muß es ein Mann sein. Ich habe nichts dagegen.

R.F: Und in Minsk werden Sie von den Orthodoxen akzeptiert?

N. Kogan: (seufzt) Wir leben nach dem Motto: Leben und leben lassen. Ich habe mein eigenes Publikum, meine Betergemeinde, sie haben die ihrige. Und wir teilen sie, das weiß ich, weil Leute aus meiner Gemeinde die orthodoxe Synagoge besuchen und Leute aus der orthodoxen zu mir kommen. Es macht nichts: wir sind eine Gemeinde, eine Gemeinschaft; in Minsk gibt es zwei orthodoxe Rabbiner, weder der eine noch der andere hat Schwierigkeiten für mich gemacht, und ich auch nicht für sie.

R.F: Wie viele Juden wohnen jetzt in Minsk?

N. Kogan: Ungefähr 25.000.

R.F: 25.000 Juden, nur in Minsk?

N. Kogan: Ja, aus eineinviertel Million, so etwa ...

R.F: Gut, wir werden jetzt nicht anfangen, Weißrußland mit Polen zu vergleichen ...

N. Kogan (heftig) Nein, weil die Menschen eine Chance hatten, 1968 in Polen wegzugehen - in Weißrußland hatten sie keine! Und die große Alija, die Massenauswanderung nach Israel hat erst Ende der achtziger Jahre begonnen, Anfang der neunziger ...

R.F: Und es gibt trotzdem noch 25.000 Juden – Und sie gehen nicht weg?

N. Kogan: Nein, die Mehrheit von ihnen ist älter, über sechzig. Es ist eine alternde Gemeinde, sie ziehen nicht weg.

R.F: Und die jüngeren?

N. Kogan: Die jüngeren werden irgendwann mal weggehen, irgendwohin. Wir haben ziemlich viele junge Leute. Mindestens ein Drittel der Gemeinde ist unter dreißig. Das sind die Leute, die letztendlich weggehen werden ... Zehn oder fünfzehn wandern jedes Jahr aus. Nach Israel, nach Deutschland oder in die Vereinigten Staaten.

R.F: Und feiern Sie Bar Mizwa, Bat Mizwa, Brit Mila? Wie steht es mit dem Brit Mila?

N. Kogan: In den letzten fünf Jahren gab es gar keine Babys. Weder männlich noch weiblich. Wir feiern Bar Mizwa und Bat Mizwa, und baruch ha’schem, wenn ein Baby zur Welt kommen sollte, dann würden wir sicher ein Brit Mila machen. Aber es gibt keine jungen Paare. Es gibt bei uns niemanden, der Kinder in die Welt setzt – leider!

R. F: Haben Sie vor, in Minsk zu bleiben?

N. Kogan: Auf jeden Fall die nächsten zwei, drei Jahre ...

R.F: Und dann? Wollen Sie bis Lebensende da bleiben?

N. Kogan: Nein, das würde ich wahrscheinlich gar nicht aushalten, nicht mein ganzes Leben! Die Stadt ist nicht besonders schön. Leider ist die Gemeinde wirklich eine alternde Gemeinde, und in zehn bis fünfzehn Jahren wird es beträchtlich dahinschwinden, die jungen Menschen werden weggehen ...

R.F: Gibt es für die Progressive Gemeinde einen eigenen jüdischen Friedhof?

N. Kogan: Es gibt gar keinen jüdischen Friedhof. Wir werden alle zusammen begraben.

R.F: Es gibt keine jüdischen Friedhöfe mehr?

N. Kogan: Die gab es vor dem Krieg, aber sie wurden alle zerstört ...

R.F: Sie gehören zur Progressiven Reformbewegung, und was das Jüdischsein und das Nicht-Jüdischsein betrifft, halten Sie sich an die Regeln der Halacha. Sind Sie der englischen Progressiven Bewegung angegliedert oder der amerikanischen?

N. Kogan: In der ehemaligen Sowjetunion sind wir mit der europäischen und israelischen Progressiven Bewegung enger verbunden als mit der amerikanischen. Zum Beispiel: in Amerika werden die Kinder jüdischer Väter als Juden akzeptiert. In Israel und in Europa werden sie nicht akzeptiert, und von uns auch nicht. Für jemanden, der nur einen jüdischen Vater hat, und nach der Halacha nicht jüdisch ist, werden wir kein chupa machen. In diesem Fall würden wir auf Übertritt bestehen.

R.F.: Und wie stehen die Leute dazu? Wollen sie übertreten oder nicht?

N. Kogan: Für sie ist es kein wesentliches Problem, weil sie nach dem Rückkehrrecht sowieso nach Israel einwandern können, und bei uns in der Synagoge, in der Gemeinde genießen sie sonst alle Rechte. Weil die Mehrheit sowieso über sechzig ist, steht Ehe nicht unbedingt jetzt an. Es wird nur zum Problem, wenn jemand heiraten möchte, der nicht halachisch jüdisch ist, aber in den letzten paar Jahren gab es keine Hochzeiten. Früher gab es einige aber schon seit zwei Jahren nicht mehr.

R.F: Während Sie noch in St. Petersburg gewohnt haben - , und ich weiß, daß es auch in Weißrußland Antisemitismus gibt -, muß das gerade mitten in dieser ganzen Pamjat-Affäre gewesen sein. Wie haben Sie alles damals erlebt?

N. Kogan: Das war 1990, ich erinnere mich, das war sehr beunruhigend. Ich wollte damals nach Israel auswandern, meine Mutter auch. Aber es hört sich fürchterlich an, wenn ich sage, man kann sich an vieles gewöhnen. Und ich weiß, was die Menschen in Minsk betrifft, die ich kenne, daß die wirtschaftlichen Probleme in ihrem Leben viel gravierender sind; auf der Liste der Prioritäten stehen sie weiter oben als der Antisemitismus. Es gibt jetzt keinen staatlichen Antisemitismus. Was es gibt, das ist ein Alltagsantisemitismus, der leider in Deutschland existiert, in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien auch. Ich bin diesem Alltagsantisemitismus begegnet – und sogar auf der Straße - nicht bloß in Moskau und St. Petersburg, sondern in London und Paris. Wenn ich in St. Petersburg bin, und auch sonstwo in Rußland, trage ich in der Öffentlichkeit nie ein Magen David, ich will keine Probleme haben. In Minsk werden manchmal an der Haustür Graffiti gekritzelt, wie ab und zu bei mir im Wohnblock, wo ich wohne. Alle wissen, was ich dort mache, weil ich häufig Besuch bekomme, und am Türpfosten habe ich auch eine Mesusa.

R.F: Aber kann man eine Mesusa an die Tür dort anbringen? Wissen die anderen Bewohner, daß Sie Rabbinerin sind?

N. Kogan: Ja, sie wissen, daß ich Rabbinerin bin, und was die Mesusa betrifft, das ist interessant, weil ich mir tatsächlich überlegt habe, ob ich an der Wohnungstür eine anbringen soll oder nicht. Okay, ich riskiere nichts, habe ich mir gedacht, wenn ich eine da anbringe, ich probiere es mal aus. Gut, und wenn Leute zu mir kommen, zum Beispiel, um das Telefon zu reparieren, oder wegen des Fernsehers, da fragen sie mich, was das ist, und ich erkläre es ihnen. Ich hatte schon ein Jahr lang dort gewohnt, und da passierte nichts, gar nichts, die Mesusa war noch dran, keiner hatte sie angefaßt, keiner hatte was damit gemacht, obwohl sehr viele Menschen in diesem Wohnblock wohnen. Und dann unterhielt ich mich eines Tages mit meiner Nachbarin, die gleich nebenan wohnt, sie ist keine Jüdin, aber sie weiß Bescheid. Ich hatte ihr erklärt, was die Mesusa bedeutet und alles, und ich sagte nur ganz flüchtig, nebenbei: Ich wundere mich, daß niemand meine Mesusa jemals angefaßt hat, und sie sagte zu mir: Ach, wissen Sie, warum das so ist? Ich sagte, nein, das weiß ich nicht, und sie sagte: Na, ich habe all diesen Leuten gesagt, daß wenn sie dieses kleine Ding an Ihrer Tür da anfassen, werfen Sie auf sie den Bösen Blick. Ich sagte, vielen Dank, Sie haben mir wirklich einen Gefallen getan! (lacht) Und tatsächlich, sie ist siebzig Jahre alt, sie ist Russin, und sie hat wirklich allen erzählt, diesen Babuschkas, den alten Omas, die unten im Hof hocken: "Sie hat dieses Dingelchen an ihrer Tür, und wenn ihr es auch nur mit eurem Finger berührt, dann wirft sie auf euch den Bösen Blick." Eigentlich ist es antisemitisch, aber es ist witzig. Ich habe mich bei ihr bedankt, sie hat mir wirklich einen Gefallen getan. Keiner faßt meine Mesusa an. Der ganze Wohnblock hat Angst vor dem kleinen Ding an meiner Tür.

Übersetzt aus dem Englischen von Ruth Fruchtman

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