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Jüdische Weisheit
 
 
'Was ist Progressives Judentum?
Was wollen die europäischen Juden?'

Von Eleonore Lappin

Die jährliche Konferenz der europäischen Mitglieder der Weltunion für Progressives Judentum fand heuer in Lyon statt. Fünf Tage lang wurden Erfahrungen ausgetauscht, diskutiert und gelernt. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der Zukunft des Progressiven Judentums an der Jahrtausendwende.

Selbst ihre geistigen Väter wie Rabbiner Jonathan Magonet, Leiter des Leo Baeck College in London, und Rabbiner Richard Hirsch, der scheidende Präsident der Weltunion für Progressives Judentum, zeigten sich freudig überrascht über die Dynamik, welche gerade die neuentstehenden europäischen Gemeinden in den letzten Jahren in die progressive Bewegung brachten. Während die amerikanischen progressiven Juden, wie Rabbiner Hirsch es formulierte, als die zahlenmäßig stärkste jüdische Gruppierung des Kontinents "triumphieren" und daher möglicherweise zur Selbstzufriedenheit neigen könnten, stellen die Europäer, die ihre Gemeinden aufbauen und erweitern wollen, die religiös relevanten Fragen. Dazu kommt noch der "europäische Traditionalismus", welcher diesen Fragen eine größere Tiefe gibt. Natürlich sind die große amerikanische und die wohletablierte britische progressive Bewegung die Vorbilder und die geistigen Stützen der europäischen Gemeinden. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Leo Baeck Gollege in London, wo die fundierte Ausbildung des Rabbiner-Nachwuchses erfolgt. Aber gerade die Notwendigkeit, sich auf die spezifischen Umstände in den verschiedenen europäischen Ländern einzustellen, zwingt die Bewegung immer wieder, neue Antworten zu suchen.

Dementsprechend stand im Mittelpunkt der heurigen Vorträge und Diskussionen die Frage nach der Entwicklung und Deutung der Halacha, des jüdischen Gesetzes, in einer säkularisierten Welt. Es ging dabei um die sehr wesentlichen Fragen der Weiterentwicklung der Halacha bei gleichzeitigem Festhalten am Wesen des jüdischen Gesetzes, um die Integration der jüdischen Tradition in unser modernes Leben. Rabbiner Tony Bayfield brachte das Problem auf den Punkt, wenn er betonte, man müsse den Juden klar machen, daß Halacha mehr als Ritual ist, daß sie das Leben bestimmt und daß viele Menschen sich gar nicht bewußt sind, wie viele Mizwot sie eigentlich ohnehin erfüllen. Als Beispiele für diese Mizwot seien hier Wohltätigkeit, jüdisches Lernen und die Erziehung der Kinder zur Tradition genannt. Die höhere Wertschätzung der Tradition als möglicher Teil auch des modernen Lebens, die sich aus dieser Auffassung von Mizwot ergibt, kann in der Folge zur Einhaltung von Kaschrut und einer Intensivierung der Schabbatruhe führen. Rabbiner Tuvia Ben Chorin meinte dazu treffend, daß liberales Denken nicht im Widerspruch zur Orthopraxie steht.

Die Vorträge und Workshops der Konferenz behandelten daher eine Vielfalt von Aspekten, wie den Gemeindemitgliedem das Judentum nahegebracht werden kann: Durch vermehrte Einbeziehung der Mitglieder in die Gemeindeaktivitäten, durch die Integration von interkonfessionellen Familien, durch formales und informelles Lernen mit Kindern und Erwachsenen. Letzterer Aspekt erschien den Konferenzteilnehmern besonders wichtig, da gerade das Vorbild der Erwachsenen die Entwicklung der Kinder entscheidend beeinflußt. Jüdische Erziehung kann und darf, soll sie Erfolg haben, nicht ausschließlich auf die Religionslehrer und Rabbiner abgewälzt werden. Daher befaßte sich ein Block mit der Frage nach jüdischer Tradition in der Familie. Eng verbunden damit ist natürlich auch die Frage nach der Stellung sowie den Aufgaben der Frauen, die ebenfalls diskutiert wurden. Eine erfolgreiche Erziehung zur Tradition muß aber auch innovative Wege gehen, so zum Beispiel durch die Beschäftigung mit jüdischer Musik und Kunst.

Die Dynamik der progressiven Bewegung geht nicht zuletzt auf die erfreuliche Entwicklung in Europa zurück. Ein Beispiel, daß sich liberale Gemeinden auch unter scheinbar schwierigen Voraussetzungen entwickeln können, waren unsere Gastgeber, die progressive Gemeinde von Lyon. 90 Prozent der Juden Lyons stammen aus Nordafrika und haben daher eine eigenständige Tradition, die sich sehr weitgehend von der liberalen unterscheidet. Dennoch umfaßt die erst vor acht Jahren gegründete Gemeinde heute 85 Familien und besitzt ein schönes, neuadaptiertes Gemeindezentrum am Ufer der Rhone, wo wir einen wunderbaren Schabbatgottesdienst, einen großzügigen Kiddusch und danach überaus instruktive Lernstunden verbrachten.

Aber auch die deutschen liberalen Gemeinden - allen voran Berlin und München - haben sich in den letzten Jahren sehr gut etabliert. Die große Herausforderung für die progressive Bewegung ist Rußland, wo ebenfalls neue progressive Gemeinden ins Leben gerufen werden. Noch werden diese Gemeinden von ausländischen Rabbinern betreut, doch ein junger russischer Rabbiner hat sein Studium am Leo Baeck College abgeschlossen und kehrt in seine alte Heimat zurück, von wo er vor neun Jahren nach Israel emigriert war. Auch die Budapester Gemeinde hat nun eine eigene Rabbinerin. Katalin Kelemen schloß ihre Ausbildung zur Rabbinerin in London vor wenigen Monaten ab und leitet nun mit großem Engagement die Gemeinde "Sim Schalom" in ihre Heimatstadt Budapest. Ein Besuch in unserer "Nachbargemeinde" wäre sicher ein schönes Erlebnisnis für die Mitglieder von Or Chadasch.

Der Staat Israel gewinnt für die progressive Bewegung zunehmend an Bedeutung. Wie Rabbiner Richard Hirsch betonte, können Juden nur dort Kontakt zum jüdischen Volk finden, die notwendige Ergänzung zur religiösen jüdischen Identität. Deshalb verbringen progressive Rabbinatsstudentlnnen bereits seit längerer Zeit ein Jahr ihrer Ausbildung in Israel. Aber auch die Zahl der progressiven Gemeinden in Israel nimmt zu. Deshalb bewertet Rabbiner Hirsch die Ergebnisse der Neeman-Kommission keineswegs negativ. Zwar werden nichtorthodoxe Rabbiner auch weiterhin in Israel nicht als gleichwertig akzeptiert, dürfen keine Trauungen oder Konversionen vornehmen. Doch die Tatsache, daß sich orthodoxe und nichtorthodoxe Rabbiner in einer Kommission zusammensetzten und diskutierten, bedeutet bereits so etwas wie einen Durchbruch. Das große Medienecho in Israel bewirkte, daß nun auch säkuläre Juden in Israel wissen, daß es in ihrem Land nichtorhtodoxe Strömungen gibt, und was deren Ziele sind. Eines der Ziele der progressiven Bewegung ist die Fortführung und Intensivierung des Dialogs mit orthodoxen Juden, um die Einheit des jüdischen Volkes wieder herzustellen.


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