antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com
Search haGalil


Newsletter abonnieren
Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

Nr.12: Dezember'97 / Jänner'98 - Kislev / Teweth 5758

Die Grenzen des liberal-religiösen Judentums

Oft wird gegen liberale Juden eingewendet, sie seien "bequeme Juden", als ob es leichter wäre, ein liberaler staft ein orthodoxer Jude zu sein. Der letztere muss sehr viele Gebote und Verbote halten; darüber nachdenken, was er essen darf und was nicht, was kascher und was trejfe (taref=verboten) ist. Im Verlauf des Tages muß er die Forderung der Tradition erfüllen:

Dreimal täglich beten, lernen und sich bemühen, 100 Segensprüche pro Tag zu sprechen.

Liberale Juden dagegen stehen täglich am Sinai. Sie sagen nicht sofort: "Wir wollen tun und hören", sondern sie überlegen sich ihre Antwort auf die Frage, die ihnen Gott stellt: "Mensch, wo bist du?" (1.Mos.3,9). Sie bemühen sich, diese Frage von einem jüdischen und von einem universellen Standort aus zu beantworten. Sie leben unter dem prophetischen Motto: "Sucht mich und lebt (dadurch)" (Amos 5,4) Gerade der weltweite Widerstand der Orthodoxen gegen die Liberalen beweist, welch starke spirituelle und existenzielle Herausforderung diese darstellen.

Ohne Gesetze gibt es kein Judentum.

Es ist kein Zufall, daß das religiöse Gesetz "Halacha" heißt und von haloch, gehen, abgeleitet ist. Es ist das Gesetz, nach dem sich der Lebenswandel zu richten hat. Man kann sagen, das Leben sei der Weg, auf dem der Mensch wandelt; die Halacha weist den Weg des Lebens. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der letzte große Gesetzeskodex (verfaßt von Josef Karo, erstmals 1564 in Venedig gedruckt), der in der jüdischen Geschichte entstanden ist, Schulchan Aruch, "Gedeckter Tisch", heißt. Während sich der orthodoxe Jude an den gedeckten Tisch setzt, betrachtet der liberale Jude das gesamte Judentum aus einem entwicklungsgeschichtlichen Blickwinkel heraus und deckt sich - inspiriert vom Schulchan Aruch - seinen Tisch selbst.

Jede jüdische Strömung, die bewußt jüdisch lebt - selbst die säkulare beinhaltet Halacha, Aggada, Gebote und Verbote. Jene, die einen an der Halacha orientierten Lebenswandel führen, glauben an den halachischen Zugang, der besagt: "Das was Gott geredet durch Mosche (3 Mos.10,11), das ist die Halachah, das ist der Talmud. Das heißt die rabbinischen Satzungen, die durch Diskussionen entstanden sind.

Liberale Juden glauben an eine "inspirierte Offenbarung", sowohl in der heiligen Schrift als auch in den Worten unserer Weisen. Gott gab ihnen die Gnade mit Ausgewogenheit, mit der Einsicht, die Halacha nicht mit dem Schulchan Aruch abzuschließen, sondern die Halacha entsprechend den Bedürfnissen von Zeit und Ort weiter zu entwickeln.

Hier stellt sich nun die Frage: 'Wo liegen die Grenzen der Entwicklung?'

Jüdisches Denken ist dialektisches Denken. Daher haben wir große Erfahrung darin, Gegensätze auszugleichen. Das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen; die Ausgewogenheit zwischen den Extremen charakterisierf die Halachah. Neben Verbotenem gibt es Erlaubtes, neben Heiligem Profanes und neben Reinem Unreines. Diese Tradition des Denkens macht sich das liberale Judentum stärker zu eigen als andere Strömungen.

Wenn man sich von einem liberalen Standpunkt aus in so existenzielle Fragen vertieft wie unsere Beziehungen zu einer permissiven Gesellschaft, Abtreibung, Gleichberechtigung der Geschlechter, muß man versuchen, die Dinge entsprechend den oben erwähnten Kriterien zu ordnen.

  • Auf drei Gebieten können wir uns frei bewegen. Solange wir uns innerhalb dieser drei Themenkreise bewegen, bleibt nicht nur die jüdische Identität erhalten, sondern der föderative Zusammenhalt wird weiter eniwickelt. Das erste Gebiet betrifft das Lernen, im Sinne von "das Studium der Tora ist gleich gewichtet wie alle (Mizvoth) zusammen". (Mishnah Pea 1,1). Ein Judentum, das sich nur auf Rituelles konzentriert und das Lernen von Thorah und Profanem nicht pflegt, kann nicht liberal sein.
    Wenn wir von Lemen der Thorah sprechen, schließt dies das gesamte jüdische Schaffen in all seinen Strömungen bis auf den heutigen Tag ein. Das Lernen beeinflußt und ermöglicht die Wahl des jüdischen Weges jedes einzelnen. Während beim halachischen Zugang der Einzelne aufgefordert wird, zugunsten der Allgemeinheit - zumindest in der Art, das Judentum zu leben - auf einen Teil der Selbstverwirklichung zu verzichten, schafft die Gemeinde im liberalen Weg einen Rahmen, der es dem Einzelnen ermöglichen soll, verstärkt einen persönlichen Ausdruck zu finden. Der Diskurs um Meinungen und ihre Verwirklichung ist ein konstinuierlicher Prozeß. Liberal-religiöse Juden bleiben der Bedeutung der Bezeichnung "Jisrael'' treu.
    Das Lernen, sich mit dem Text auseinanderzusetzen, mit dem Glauben und mit Menschen, garantiert eine gemeinsame Sprache mit allen Teilen des Judentums. Auch wenn wir Quellen aus dem biblischen oder rabbinischen Schrifttum oder aus der modemen hebräischen Literatur unterschiedlich interpretieren, bleibt uns die gemeinsame Sprache, und eine gegenseitige Kommunikation ist möglich. Erst wenn jemand entscheidet, ausschließlich seine Ansichten seien gültig, während jene der anderen wertlos seien, wird die Verbindung unterbrochen. Es gibt keine absolute Wahrheit! Auch wenn wir im Sch'ma sagen: "Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einer", gibt es eine philosophische und theologische Diskussion über das, was das "Eine" ist. Solange die Diskussion geführf wird, leben alle Teile zusammen, inklusive jenes Teils, der sich gegen den religiösen Glauben abgrenzt. Auch er hat Platz im liberalen Judenium, wenn er sein Judesein im Rahmen einer jüdischen Gemeinde zum Ausdruck bringen möchte.
  • Der zweite Bereich ist eng mit "jüdischem Tun" verbunden. Liberale Juden leben bewußt mit dem jüdischen Kalender, sie wissen um Schabbat und Feiertage. In welcher Form sie diesem Bewußtsein Ausdruck geben, ist ihre persönliche Entscheidung, solange sie als Privatpersonen handeln. Jede Gemeinde entscheidet autonom, wie sie ihren Weg festlegen möchte.
    Liberale Juden unterscheiden zwischen wichtigen und weniger wichtigen Mizwot. Sie betonen die Mizvoth mit zwischenmenschlichem Inhalt und ermutigen die Freiheit der Wahl bei denjenigen Mizvoth, welche die Beziehung zu Gott betreffen. Wer einem anderen die Ausführung solcher Mizvoth vorschreiben will, ist bei fortschrittlichen Juden am falschen Ort.
    Die Grenzen zwischen Veränderung und Erneuerung auf der einen und Bewahrung der Tradition auf der anderen Seite sind ein Ausdruck für "du hast mit Gott und Menschen gekämpft und du hast obsiegt". Das Judentum ist lebenskräftig, solange es von Männem, Frauen und Kindem getragen wird. Wir müssen den Tenach nicht verändern. Aber wenn wir den Midraschim folgen, und allgemein den Spuren unserer Weisen, ihren Interpretationen und ihrer Forfführung bis zum heutigen Tag, obliegt es uns, diesen Prozeß in Gedanken und Tat fortzusetzen. "Die Ausführung einer Tat ist in ihrem gedanklichen Anfang begründet."
  • Der dritte und letzte Bereich ist "Z'dakah", die ausgleichende Wohltätigkeit, die Sensibilität für menschliches Leiden im Sinne des Verses "denn Fremdlinge wart ihr im Lande Ägypten". (2.Mos.22,20). Die GIeichwertigkeit der Menschen und die Unterstützung und Hilfe für Bedürftige sind Teil unseres Wesens als Juden und Menschen. Wenn wir von Bedürftigen sprechen, denken wir nicht nur an wirtschaftliche Probleme, die sehr wichtig sein können, wie die Weisen sagten: "Wo kein Mehl ist, gibt es keine Tora." Mishnah, Awot 4,21).

Ich glaube, wir alle brauchen Gesprächspartnerlnnen, um gehörf zu werden, und um zuhören zu können, zum Lernen und zum Lehren. Der Dialog und die Diskussion zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb und außerhalb des Judentums sind aus liberaler Sichtweise sehr wichtig.

In diesem Artikel versuchte ich, drei Wesenszüge herauszuarbeiten, die den religiösen Liberalismus charakterisieren: Das Lernen und die Wahrnehmung der beständigen Wahlfreiheit; ihre Realisierung mittels des jüdischen Kalenders, durch Mizvoth, welche die Beziehungen der Menschen untereinander und jene zwischen Gott und dem Menschen betreffen, Sensibilität für menschliches Leiden; das Pflegen des interreligiösen Dialogs und der Wunsch nach offener innerjüdischer Diskussion.

RABBINER TOVIA BEN CHORIN, ZÜRICH (Luchoth: November 1997)


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved