Aus dem Mitteilungsblatt Nr.11
der Jüdisch-Liberalen Gemeinde Wien
Or Chadasch - Bewegung für progressives Judentum
Haidgasse 1 - A-1020 Wien - Tel.: 214 90
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Welches Judentum ist authentisch?
Mit diesem Aufsatz möchte ich der Frage nachgehen, ob es heute
noch so etwas wie ein ''authentisches Judentum'' gibt.
Diese Fragestellung ergibt sich aus der Tatsache, daß viele
Menschen (Juden wie auch Nichtjuden) in der heutigen Orthodoxie das ''einzig
wahre, authentische Judentum" sehen, ohne zu bedenken, daß das Judentum seit
Anbeginn und zu allen Zeiten immer pluralistisch, meist entwicklungsfähig und
niemals ein unveränderlicher moralischer Block war.
Denken wir an die vielen bekannten und weniger bekannten
Gruppierungen wie: Pharisäer - Sadduzäer - Essener, Aschkenasim - Sephardim,
Chassidim - Mitnagdim, Reformjuden - Neoorthodoxe und viele mehr. Wenn heute
einzelne Gruppen im Judentum (und natürlich auch im Christentum und Islam)
von sich behaupten, die ''Wahrheit" gepachtet zu haben und den "einzig
wahren Glauben" zu repräsentieren, dann ist immer Vorsicht geboten, denn das
ist die Sprache der Fundamentalisten und Extremisten. Betrachtet man den
Istzustand im heutigen Judentum, dann kann leicht festgestellt werden, daß
die Tendenz zum Pluralismus im Judentum immer noch vorhanden ist, ja immer
ausgeprägter wird. Einer großen Zahl säkularer (=nichtpraktizierender) Juden
steht die immer kleiner werdende Gruppe der praktizierenden Juden gegenüber.
Das praktizierende Judentum besteht einerseits aus nichtorthodoxen
Gruppierungen (reform, liberal, konservativ, rekonstruktionistisch) - die
weltweit gesehen zahlenmäßig weitaus am stärksten repräsentiert ist - und
andererseits der Orthodoxie. Diese Orthodoxie spaltet sich allerdings
wiederum in zahlreiche Gruppen und Grüppchen, die untereinander tief
zerstritten sind und sich oft gegenseitig erbittert bekämpfen.
Gäbe es so etwas wie Zeitreisen, dann würde ein
wagemutiger Zeitgenosse aus biblischen Zeiten, der unsere Welt heute
bereisen würde, mit Sicherheit nur wenig von seiner gewohnten Welt wieder
entdecken, möglicherweise auch einen tiefen Schock erleiden. Das meiste von
dem, was ihm einst bekannt und vertraut war, würde er nicht mehr vorfinden:
kein zentrales Heiligtum, keine Priester, keine blutigen Tieropfer an Gott;
eine Gesellschaft ohne Sklaven (zumindest in der westlichen Welt), ohne
Polygamie (sie wurde im Mittelalter durch Rabbi Gershom verboten), ohne
Kapitalstrafen für Vergehen wie Ehebruch, Homosexualität oder
Gotteslästerung, ohne der berüchtigten Schwagerpflicht (Leviratsehe) und
ohne den Schuldenerlaß im 7. Jahr (dieser wurde schon durch Rabbi Hillel
außer Kraft gesetzt).
Alle diese, meist biblisch fixierten Gesetze und Praktiken
könnte unser Besucher aus der Vergangenheit nicht mehr vorfinden und er
würde wahrscheinlich in gut "jüdischer Tradition" alle "schlechten,
reformierten" Juden verfluchen, die es wagten, alle "göttlichen Gesetze"
außer Kraft zu setzen.
Er würde auch mit Sicherheit über die ''neumodische"
Bekleidung mancher Juden staunen. Denn Juden mit einer Kipah am Kopf - (das
Tragen einer Kipah ist weder biblisch noch talmudisch gefordert; diese
Gewohnheit entstand erst im Mittelalter und war bis zum 17. Jahrhundert
umstritten) - wären ihm genauso fremd und unheimlich wie die Bekleidung der
Chassidim (langer schwarzer Mantel, Pelzmütze = Strejml; alles Relikte einer
von Juden übernommenen polnisch-christlichen Tradition) oder die Sitte
orthodoxer Jüdinnen, die eigenen Haare unter einer Perücke zu verbergen.
Unser Freund würde seine Glaubensbrüder, wegen ihres "Abfalles" vom "rechten
Glauben" (zwei Drittel der biblisch fixierten Gesetze sind längst
undurchführbar geworden und selbst die Frömmsten sind nicht mehr in der Lage
sie einzuhalten), vermutlich verfluchen. Es ist aber ebenfalls
wahrscheinlich, daß auch er wegen seines "unjüdischen" Auftretens (kein
Tragen einer Kipah, Nichtkennen vieler Vorschriften des Talmud - der
mündlichen Überlieferung - die erst nach seiner Zeit niedergeschrieben wurde
und vieles beinhaltet, was zu seiner Zeit noch völlig unbekannt war)
beschimpft werden würde.
Es könnte aber auch geschehen, daß unser Freund von
anderen jüdischen Gruppierungen (so zum Beispiel von progressiven Juden)
freundlich aufgenommen und behandelt werden wird, vielleicht würde er auch
einige ihrer Sitten als für ihn nicht ganz fremd empfinden, so unter
anderen: den Gebrauch von Musikinstrumenten während des Gottesdienstes, ihre
offene, zuvorkommende Einstellung Konvertiten zum Judentum gegenüber, die
Ablehnung der Diskriminierung von Frauen in religiösen und sozialen Belangen
(die frauenfeindliche Einstellung einzelner jüdischer Gruppierungen
entwickelte sich erst in Europa unter dem Einfluß des aufkommenden Islams;
so darf zum Beispiel noch heute eine Frau laut orthodox-rabbinischen
Vorschriften nicht vor einem rabbinischen Gericht a1s Zeugin aussagen), und
ihre Überzeugung, daß (in der Tradition der Vorfahren) Gesetze und Sitten
den Notwendigkeiten der Zeit angepaßt werden müssen.
Was ich mit dem Beispiel eines Zeitreisenden zeigen will,
ist die einfache und wissenschaftlich belegbare Tatsache, daß keine der
heute existierenden jüdischen Strömungen das Recht für sich in Anspruch
nehmen darf allein "authentisch" zu sein; und selbst die Neoorthodoxie
unterscheidet sich sehr wesentlich vom toleranten und flexiblen Judentum
eines Rabbi Hillel.
Er und viele Rabbiner vor und nach ihm waren, im Gegensatz
zur heutigen Orthodoxie, durchaus bereit Gesetze falls sich die zwingende
Notwendigkeit ergab - außer Kraft zu setzen oder abzuändern.
Denn wäre das nicht geschehen, dann würden heutige Juden
(falls so ein Judentum überhaupt überlebt hätte) noch Tieropfer darbringen,
in Polygamie leben, alle sieben Jahre die Schulden erlassen (was für ein
verlockender Gedanke) und ein rebellierendes Kind steinigen. (Dtn 21, 18)
Ein statisches, unbewegliches Judentum, das nur auf einem
Bein hopsen kann ohne sich fortbewegen zu können, ist eine neumodische
Erscheinung des 19./20. Jahrhunderts und in Hinblick auf zukünftige
Überlebensstrategien des Judentums nicht unproblematisch. Die Bereitschaft
nichtorthodoxer Juden (progressiv/konservativ) Gesetze, vorwiegend aus
ethischen Überlegungen, in bestimmten Bereichen zum Wohle des Judentums
abzuändern, erfolgt stets im Geiste der Forderungen der Propheten ("Ethik
ist wichtiger als ein leeres Ritual"), im Sinne der Schule des Hillel und
nicht aus "reiner Bequemlichkeit" wie immer wieder von wenig Informierten
behauptet wird. Unser Besucher aus vergangenen Tagen würde, in Anbetracht
all dieser für ihn schmerzlichen und unverständlichen Veränderungen im
Judentum, sich höchstwahrscheinlich sehr rasch entscheiden, diese ihm so
fremde Welt zu verlassen, um in seine eigene Welt, in seine Zeit
zurückzukehren.
Uns bleibt nur festzustellen, daß keine der heutigen
Gruppierungen im Judentum das Recht für sich beanspruchen kann das
"authentische" Judentum alleine zu repräsentieren und alles, was der eigenen
Linie nicht entspricht, zu verdammen.
Theodor Much
Unser Präsident
hat ein Buch geschrieben: Theodor Much präsentiert eine klare,
übersichtliche Darstellung der wichtigsten allgemeinen Grundzüge des Judentums
und beschreibt zugleich eine Vielzahl aktueller, oft falsch interpretierter
Fragen und Strömungen, die in der bisherigen Literatur nur marginal behandelt
wurden.
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