Dr. Ariel Muzicant beantwortet einige "frequently asked questions",
für all jene, die am 4. Juni 2003 nicht in die Seitenstettengasse
kommen konnten.
• Wieso ist die Kultusgemeinde jetzt in einer so kritischen
Lage?
Die Kultusgemeinde versucht seit 1945 erfolglos, ihr
zerstörtes und geraubtes Gemeindevermögen zurückzubekommen bzw.
entschädigt zu erhalten. Zwischen 1945 und 1980 hat die
Kultusgemeinde 170 ihrer 230 Liegenschaften verkauft, um die
jährlichen Budgetdefizite abzudecken. 1981 wurden die Verkäufe
gestoppt, und Bankkredite haben die jährlichen Fehlbeträge
abgedeckt. Wir haben in den letzten fünf Jahren wiederholt auf
unsere finanzielle Lage hingewiesen und alles versucht, um mit den
österreichischen Bundesregierungen zu einer Lösung zu kommen. Nun
sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir keine Reserven mehr
haben.
• Konnte man nicht mit der Regierung "im Guten" eine Lösung
finden?
Ich habe versucht, mit der Regierung und mit allen Parteien ein
gutes Verhältnis herzustellen. Ich habe nichts unversucht
gelassen, um eine Lösung zu finden, ohne dass es zu
Auseinandersetzungen, Schuldzuweisungen etc. kommt.
Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel hat weder meinen Brief vom 24.
Jänner 2001 beantwortet noch war er bereit, mich in den letzen
zwei Jahren persönlich zu treffen. Er hat Frau Bundesministerin
Gehrer beauftragt, Gespräche mit der Kultusgemeinde zu führen. In
den letzten zwei Jahren war ich wiederholt bei Bundesministerin
Gehrer, Bundesminister Strasser, Bundesminister Haupt - leider
vergeblich. Man hat zwar Verständnis gezeigt, doch war man nicht
bereit, konkrete Lösungen anzubieten. („Man
wäre bereit, Projekte zu finanzieren, wie z.B. Panzerglastüren
...") Immer wieder hieß es, ich müsse nochmals mit dem einen
oder anderen Minister sprechen; ich wurde im Kreis geschickt, und
die finanzielle Situation der Kultusgemeinde wurde immer
schwieriger. Durch meine wiederholten Besuche und Anrufe habe ich
meinerseits den guten Willen bewiesen, doch wenn die andere Seite
anscheinend kein Interesse, keine Verpflichtung sieht, muss ich
wohl andere Schritte und Taten setzen.
• muss jetzt so aggressiv vorgegangen werden?
Wie bereits oben erwähnt, habe ich, haben das Präsidium und
der Kultusvorstand nichts unversucht gelassen, um eine aggressive
Vorgangsweise zu vermeiden. Wir haben uns ruhig verhalten, wir
sind nicht an die Öffentlichkeit gegangen - aber es hat uns nichts
genützt. So sehe ich mich nun gezwungen, durch das mediale
Aufzeigen der Ungerechtigkeit gegenüber der Kultusgemeinde, die
österreichische Bundesregierung zu Gesprächen zu bewegen.
• Wie ernst sind die Ankündigungen?
Die Kultusgemeinde hat dieser Tage beim AMS (Arbeitsmarktservice)
die Kündigung von bis zu 35 Mitarbeitern bekanntgegeben. Wenn es
im Juni 2003 keine Bewegung in unserer Angelegenheit gibt, muss
die Kultusgemeinde schweren Herzens dramatische Schritte
durchführen.
• Was wird wirklich zugesperrt?
In den letzten Wochen hat die Finanzkommission Vorschläge
erarbeitet, die beim nächsten Plenum am 3. Juni 2003 dem
Kultusvorstand zur Beschlussfassung vorgelegt werden. (Näheres
berichteten wir am 4. Juni im Stadttempel). Am 24. Juni 2003
findet ein weiterer Kultusvorstand statt, um die endgültige
Umsetzung zu beschließen (falls bis dahin kein Entgegenkommen der
Republik vorliegt).
• Warum stellt die Kultusgemeinde Anträge an den
Entschädigungsfonds, obwohl wir doch immer gesagt haben, dass dies
unmoralisch ist?
Wie oben berichtet, kämpft die Kultusgemeinde seit 1945 erfolglos
um Restitution. Bei den Verhandlungen zum Entschädigungsfonds
wurde das „jüdische Gemeindevermögen" bewusst ausgelassen. Legal
haben wir die Möglichkeit, Anträge an den Entschädigungsfonds zu
stellen. Tun wir das nicht fristgerecht (28.5.2003), verzichten
wir auf unsere Ansprüche. Unsere Einstellung hat sich natürlich
nicht geändert: Es ist nach wie vor unmoralisch. Denn wir nehmen
damit den Opfern einen Teil des Fonds weg, es werden also deren
Zahlungen um unsere Ansprüche reduziert. Genau diesen Zustand
wollte man aber offenbar haben, nämlich dass wir Juden
untereinander um das ohnehin schon geringe Geld streiten. Die
österreichische Bundesregierung hat jedoch nach wie vor die
Möglichkeit, zu einer Einigung mit der Kultusgemeinde zu kommen.
Sobald es zu dieser Einigung kommt, würden wir selbstverständlich,
wie immer gegenüber allen Politikern und wie auch in der Presse
betont, unsere Anträge sofort zurückziehen.
• Wäre es nicht besser gewesen, dass wir keine Anträge gestellt
hätten?
Hätten wir keine Anträge gestellt, hätten wir unsere Ansprüche
nicht dokumentiert, hätten wir für alle Zukunft auf unsere
gerechten Forderungen verzichtet. Ich glaube nicht, dass dies im
Interesse der Gemeindemitglieder ist.
Forum: Wiens jüdische Gemeinde - pleite?
Quelle: DIE GEMEINDE / Juni 2003 - Sivan 5763
hagalil.com
22-06-03