Nachrichten
SS-Mord in Litomerice:
Der mutmaßliche Kriegsverbrecher
aus dem Allgäu
Bericht: Eric Friedler, Stephan
Schlentrich
Kamera: Thomas Schäfer, Vlastimil Zan
Schnitt: Matthias Stein
S Ü D W E S T R U N D F U N K // F S
- I N L A N D
REPORT MAINZ //
11.10.1999
Moderation Bernhard Nellessen:
Guten Abend zu REPORT Mainz. Drei Männer stehen im Zentrum unseres ersten
Beitrags heute Abend, einer wahrhaft beklemmenden Geschichte. Ein
81-jähriger Rentner aus Wangen im Allgäu, ein Wirtschaftsprofessor aus
Kanada und ein Top-Detektiv aus New York. Das Ereignis, das die drei jetzt
zusammenführt, liegt 54 Jahre zurück. Ein Massaker an jüdischen Häftlingen
in Leitmeritz, in der Nähe von Theresienstadt.
Dank der Recherchen meiner Kollegen
Eric Friedler und Stephan Schlentrich kommt nun möglicherweise endlich Licht
in die Vorgänge von damals. Alle Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu
ziehen, waren bislang an einer Mauer des Schweigens oder an fehlenden
Augenzeugen gescheitert.
Bericht: Steven Rambam,
US-Amerikaner aus Brooklyn/New York. Alter: 41 Jahre. Beruf: Privatdetektiv.
Einer der 25 besten dieses Jahrhunderts, so die anerkannte National
Association of Investigative Specialists. Rambam operiert weltweit. Seine
Spezialität: die Suche nach Vermissten oder Kriminellen, die irgendwann
irgendwo untergetaucht sind. Die berufliche Erfahrung aus 20 Jahren nutzt
der Detektiv auch bei der Ausübung seiner Freizeitbeschäftigung. Rambams
Leidenschaft: die Jagd nach NS-Verbrechern.
O-Ton, Steven Rambam,
Nazi-Jäger: »Als Jude versuche ich, ein Exempel zu statuieren.
Ermordest du einen Juden, musst du damit rechnen, auch von einem Juden
verfolgt zu werden, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geboren ist. Du
wirst gejagt bis zu dem Tag, an dem du stirbst. Dann stehst du ohnehin vor
dem höchsten Richter. Ich gebe mit meiner Jagd auf Kriegsverbrecher quasi
eine Warnung. Die nächste Generation potentieller Judenmörder soll wissen,
dass - wenn sie in diesem Sinne agiert - ihr Leben nicht so einfach wird.
Ich versuche, ein Stück verlorene jüdische Ehre wiederherzustellen.«
Dafür scheut Rambam weder Kosten noch
Mühe. Mehrmals ist er um die Welt gereist auf der Suche nach ehemaligen
SS-Soldaten, KZ-Schergen oder deren Opfer. Stundenlange Gespräche mit
Zeitzeugen hat Rambam protokolliert. Jede Spur, auch wenn sie im Nichts
endet. Vor zwei Jahren in Kanada beim Interview mit einem ehemaligen
Soldaten der Waffen-SS erfährt Rambam von einem Verbrechen, das bis heute
ungesühnt ist. In Montreal treffen wir den Mann, der nach eigener Aussage im
Frühjahr 1945 Zeuge mehrerer Morde wurde. Adalbert Lallier, 74 Jahre,
ehemaliger Universitätsprofessor. Als 19-jähriger Offiziersanwärter erlebte
er die Bluttat. Durch Rambam hat er erfahren: Der Täter lebt. Deshalb bricht
er sein Schweigen.
O-Ton, Prof. Adalbert
Lallier, Augenzeuge: »Auf einmal ging mein eigener
Inspektionsführer, den ich eigentlich als Soldaten hoch zu schätzen
gelernt habe - er war immer für uns da - auf einmal ging er zu den
Gewehren, schnappt sich das Gewehr, dreht sich um, schaut sich da den
kleinen Haufen Juden an und schnappt einen Schuss hinein, ein Geschoss
hinein und fängt an zu schießen...
Es fällt mir nicht leicht, den
Namen des Mannes wieder einmal in die Öffentlichkeit zu bringen. Die
übrig gebliebenen Waffen-SS-Mitglieder, ehemalige Waffen-SS-Mitglieder
halten es nach dem Motto: Alle Brüder. Wenn alle Brüder schweigen, noch
immer treu! Aber ich hab’ doch seit Jahren darunter gelitten. Es ist ja
bekannt, dass der Name des Inspektionsführers Julius Viel war.«
Julius Viel - vor Kriegsende
Lehrgangsleiter an der Nachrichtenschule der Waffen-SS in Leitmeritz im
Protektorat Böhmen und Mähren. Vorbild und direkter Vorgesetzter des jungen
Adalbert Lallier.
Stuttgart vor zwei Wochen. Der
Nazi-Jäger aus den USA zu Besuch bei der Staatsanwaltschaft. Steven Rambam
hat seine Informationen über den Mordfall von Leitmeritz Ende 1997 den
deutschen Behörden gemeldet und die Ermittlungen in Gang gesetzt.
Oberstaatsanwalt Schrimm ist überzeugt, dass der kanadische Professor die
Wahrheit sagt. Eine außergewöhnliche Situation: Ein ehemaliger SS-Soldat
klagt seinen Vorgesetzten an.
O-Ton, Kurt Schrimm,
Staatsanwaltschaft Stuttgart: »Eine Zeugenaussage kann durchaus
ausreichen, wenn dieser Zeuge glaubhaft ist und dem Gericht bzw. zunächst
einmal der Staatsanwaltschaft und dem Gericht eben diese Aussage glaubhaft
übermitteln kann.«
Fast 300 potentielle Zeugen -
allesamt ehemalige SS-Soldaten aus der Nachrichtenschule Leitmeritz - hat
der Stuttgarter Oberstaatsanwalt bislang vernehmen lassen. Keiner der
Kameraden hat die Aussage Lalliers bestätigt. Keiner will etwas vom Mord
gehört, geschweige denn gesehen haben...
Dabei muss es Zeugen geben. Ab Mitte
März 1945 mussten rund 2000 Häftlinge des Gestapo-Gefängnisses "Kleine
Festung Theresienstadt" einen Panzergraben entlang der Elbe ausheben.
Bewacht wurden sie auch von SS-Einheiten der Nachrichtenschule. Unter ihnen:
der junge Rottenführer Adalbert Lallier.
Mit uns kehrt er im Herbst 1999
zurück an den Ort der Tragödie. Der Tragödie seines Lebens. Fünf Jahrzehnte
hat Adalbert Lallier versucht zu vergessen. Es ist ihm nicht gelungen.
Frage: »Was geht in diesem Moment in
Ihnen vor?«
Die Erinnerungen sind wieder da. Erinnerungen an die Häftlinge, die mit
Schaufel und Hacke bis zur Erschöpfung arbeiten mussten. Erinnerungen an den
kilometerlangen Panzergraben, den Ort des Mordes.
Adalbert Lallier führt uns dorthin.
O-Ton, Adalbert Lallier,
Augenzeuge: »Auf einmal Karabinergeräusch. Laden. Schuss. So eine
Gruppe von vielleicht sieben jüdischen Häftlingen, die abseits arbeiteten
von der Masse. Fiel einer plötzlich um. Und dann die Tragödie, bis alle
sieben weg waren. Tragödie. Ich schaute mir den Offizier an, meinen eigenen
Inspektionsführer. Tat aber nichts. Ich tat nichts! Aus Angst. Ich schaute
mir den nächsten Kameraden an. Der war auf der anderen Seite, er tat auch
nichts! Schaute mir den Kommandanten an. Der stand nur da. Er kam einige
Schritte näher, um hier nachzuschauen, was sich da im Graben vor sich ging,
im Panzergraben. Und den Karabiner leer geschossen, stellte ihn dazu, ging
zu den anderen. Bis dahin waren wir eigentlich gedankenlos. Ganz so...
I believe, my first commitment
today with possibly their ashes in my hand is to give them my hommage
and to tell them: I’m sorry. I’m so sorry, so sorry!..
Ich musste hierher kommen. Mit
ihrer Asche in meiner Hand verneige ich mich und möchte ihnen sagen: Es
tut mir so leid...«
Wangen im Allgäu. In diesem Haus lebt
der mutmaßliche Mörder Julius Viel zurückgezogen mit seiner Frau. Nach dem
Krieg sah er offenbar keinen Grund, seine Identität zu verbergen, arbeitete
als Zeitungsredakteur in Stuttgart. 1983 bekam Julius Viel das
Bundesverdienstkreuz - für seine publizistischen Verdienste um die Heimat
und das Wandern. Beim Spaziergang auf der Schwäbischen Alb steht Julius Viel
plötzlich dem Nazi-Jäger aus Amerika gegenüber.
O-Ton, Steven Rambam:
»You never shot anyone? Stimmt
das?«
»Nee.«
»You never shot anyone?«
»Nee.«
»Haben Sie nie jemanden
umgebracht?«
»Nee.«
»Ach was! Were you in
Theresienstadt? Waren Sie in Theresienstadt?«
»Nein.«
»You weren’t in Theresienstadt? You
weren’t with the Nachrichtenschule?«
Julius Viel leugnet die Tat. Er fühlt
sich sicher, bei nur einem Belastungszeugen. Zu sicher, wie sich am
vergangenen Mittwoch herausstellt. Viel, ehemaliger SS-Untersturmführer,
Journalist und Bundesverdienstkreuzträger wird in Wangen von der Polizei
festgenommen.
O-Ton, Sabine Mayländer,
Staatsanwaltschaft Stuttgart: »Wir haben erst in den letzten Tagen
wichtige, uns bislang unbekannte Dokumente vom ARD-Magazin REPORT Mainz zur
Verfügung gestellt bekommen, die die Aussage des bislang einzigsten
Augenzeugen derart untermauern, dass wir Anlass hatten, jetzt Antrag auf
Erlass eines Haftbefehls wegen Fluchtgefahr zu stellen.«
Das sind die brisanten Dokumente. Wir
fanden sie im Archiv der heutigen Gedenkstätte Theresienstadt. Für
Oberstaatsanwalt Schrimm neue Indizien im Fall Viel, er fühlt sich damit
einen Riesenschritt weiter. Detaillierte Lagepläne und Fotos des
Panzergrabens und diese Aufzeichnungen aus dem Gestapo-Gefängnis "Kleine
Festung Theresienstadt". Peinlich genau führte die SS Buch über die
Todesfälle am Panzergraben. Zur fraglichen Zeit: die Namen von sechs Toten
mit dem Vermerk "Erschossen"!
Stuttgart. Steven Rambam auf dem Weg
zum Flughafen. Er verlässt Deutschland - der nächste Job wartet. Der Fall
Julius Viel ist für ihn abgeschlossen. In ein paar Wochen wird Rambam, der
Nazi-Jäger aus Brooklyn, wiederkommen. Er ist einem weiteren NS-Verbrecher
auf der Spur.
haGalil 10-99