Victor Karadys Studie:
Die Geschichte der Juden in ganz Europa
HILTRUD HÄNTZSCHEL
In den Jahrhunderten von der Christianisierung
Europas bis zur Aufklärung sind die jüdischen Minderheiten – wohin auch
immer es sie verschlagen hat – durch immer wiederkehrende Merkmale
charakterisiert: Sie leben in der Diaspora und beziehen gerade durch diese
Existenz ihre kollektive Identität. Nirgendwo streben sie politische Macht
an, vielmehr unterwerfen sie sich in der Regel den politischen Systemen und
herrschenden Mächten. Sie neigen weit stärker als die Bevölkerung ihrer
Aufnahmeländer zur Verstädterung und zeichnen sich aus durch eine auffällige
soziale Mobilität nach oben. Fast immer sind sie von Gewalt bedroht, von
Gewalt – oft tödlicher – getroffen. Dennoch haben sie "praktisch niemals
versucht, auf die gegen sie verübte Gewalt mit den Waffen ihrer Gegner zu
antworten".
Diese Konstanten stellt der ungarische Soziologe Victor
Karady seiner "Sozialgeschichte der Juden in Europa" voran – sie finden sich
in Variationen oder Abweichungen überall in Europa, liefern die Grundlagen
und Bedingungen für Emanzipation und Ausgrenzung, für Assimilation und
Antisemitismus gleichermaßen, vor allem aber für den unverhältnismäßig
starken und wirkungsvollen Anteil der Juden an dem, was der Autor ins
Zentrum seiner Darstellung rückt: am "Abenteuer der Moderne".
Für uns, die wir uns der jüdischen Geschichte fast immer
von der grausamen Attacke durchs "Dritte Reich" her nähern, ist es höchst
lehrreich, den germanozentrischen Brennpunkt aufzugeben und die Geschicke
der europäischen Juden (sie stellten 90 Prozent der jüdischen
Weltbevölkerung) unter den jeweiligen nationalstaatlichen Bedingungen in ein
Puzzle zerlegt zu sehen aus sozialen, politischen, religiösen,
demoskopischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Faktoren. Am Ende fügt
es sich wieder zu einem Ganzen zusammen, verbunden vom weiter dominierenden
Antisemitismus.
Gerade soziale Ausgrenzung und die berufliche
Beschränkungen in Verbindung mit dem religiösen Habitus der Juden vor den
Emanzipationsbewegungen zwangen zum Erwerb von "protokapitalistischen
Kompetenzen" und schufen die Bedingungen für den späteren außergewöhnlichen
Erfolg. Von Handwerk und Produktion weitgehend ausgeschlossen, blieben den
Juden nur Dienstleistungen um Geld und Kapitalvermittlung, die aber bei
gleichem Zeitaufwand offensichtlich einträglicher als produzierende Berufe
waren. Zugleich galten diese Tätigkeiten in den christlich geprägten
Mehrheitsgesellschaften als nicht standesgemäß, wenn nicht gar schmutzig.
Als dann mit dem Industrialisierungsprozess und der Auflösung zunächst der
Feudal-, dann auch der Ständeordnung der Kapitalverkehr immer stärker
dominierte, waren die Juden, erfolgreich und vermögend, an den
einflussreichen Schaltstellen überall bereits präsent.
Das zweite Kapital, das die Juden mitbrachten, war ihr
intellektuelles. Sie waren die einzige religiöse Gruppe im vormodernen
Europa, deren erwachsene männliche Mitglieder durchgehend alphabetisiert
waren und zwei oder mehr Sprachen beherrschten, deren Schriftkultur die
große Ausnahme darstellte, zumal in den osteuropäsichen Ländern, wo die
Eliten nur wenig gebildet waren. Entsprechend hoch war denn der Anteil der
Juden an den intellektuellen Berufen, in den Künsten und Wissenschaften,
sobald ihnen der Zugang dazu geöffnet wurde.
In welches Spannungsfeld nun dieser vorzeitige jüdische
Modernisierungsprozess mit dem Assimilationsdruck und also mit der jüdischen
Identität ihrer Träger, mit der Frage ihrer Nationalisierung geriet, zeigte
Karady an zahlreichen Berufen und Ländern, und er beschreibt die
Konsequenzen der Konflikte etwa in den europäischen Wanderungsbewegungen.
Nur kurz war der Traum eines idealen und befruchtenden Zusammenlebens in
Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts – symbolisiert in Rahels
Berliner Salon, der ja nur ein Dachstübchen war: er setzte eine Kultur
voraus, die es ein Jahrhundert später nicht mehr gab, und er kostete die
Juden den Preis ihrer Identität. Was folgt, ist der Neid auf den
erfolgreichen Anteil an der Moderne oder, für konservative Gesellschaften
wie das wilhelminische Deutschland, die Identifizierung jenes Übels
"Moderne" mit den Juden – und damit ein dramatisch zunehmender Hass bis zur
Vernichtung. Der Jude wird zur Negation des Deutschen, eine Form von
Antisemitismus, der dieser Nation vorbehalten blieb.
Der Shoa gilt in dieser materialreichen Gesamtgeschichte
nur ein kleines Kapitel, und es ist nicht das letzte. Ein Epilog schildert
die Über- und Wiederlebensanstrengungen jüdischer Gruppen in den
Gesellschaften der europäischen Länder, besonders der osteuropäischen, und
die Rolle des Staates Israel.
VICTOR KARADY:
Gewalterfahrung und Utopie
Juden in der europäischen Moderne.
Aus dem Französischen von Judith Klein.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1999 (Reihe Europäische Geschichte).
Euro 12,45.
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