Vor sechzig Jahren:
«Wer im Ausland wallfahrten geht . . .»
Schweizer Reaktionen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei
Im März 1939 zerschlug Hitler
die durch das Münchner Abkommen bereits amputierte
Tschechoslowakei endgültig. Ein berühmtes Zeugnis der Anteilnahme in der
Schweiz waren die Worte Bundesrat Obrechts, der den
Widerstandswillen bekundete, ohne den Aggressor beim
Namen zu nennen. Kommentatoren, die dies zu deutlich taten, hatten
Interventionen deutscher Diplomaten und der
Bundesbehörden zu gewärtigen.
tmn. Am 29. September 1938 sicherte
sich Hitler im Münchner Abkommen das Sudetenland, doch sein Ziel blieb
entgegen anderslautenden Beteuerungen nicht darauf beschränkt: Schon am
21. Oktober 1938 befahl er der Wehrmacht, die «Erledigung der
Rest-Tschechei» für eine günstige Gelegenheit vorzubereiten. Mitte
Februar 1939 beschloss der Reichskanzler den «Todesstoss», den er einen
Monat später zur allgemeinen Überraschung sehr schnell durchführte.
Slowakische und ungarische Hilfsdienste
Die autonomen Slowaken provozierten nach
deutscher Regie mit immer separatistischeren Forderungen eine
Staatskrise. Nachdem Hitler deren Anführer Josef Tiso nach Berlin
zitiert hatte, erklärte der slowakische Landtag am 14. März 1939 die
Unabhängigkeit. Im Osten marschierte gleichzeitig Ungarn in die Karpato-
Ukraine ein, während deutsche Truppen im Westen vorrückten, vorerst um
angeblich bedrohte Deutsche in Mähren zu beschützen, dann auf einen
angeforderten Hilferuf Tisos zum Schutz der Slowakei und schliesslich,
um Böhmen und Mähren auf ein Schutzgebiet zu reduzieren.
Als erste deutsche Truppen das Land bereits
betreten hatten, waren der tschechoslowakische Präsident Emil Hacha und
Aussenminister Chwalkowski überstürzt nach Berlin gefahren, um
wenigstens die Autonomie Tschechiens zu bewahren. Nach einem knapp
dreistündigen Gespräch kapitulierte Hacha jedoch am frühen Morgen des
15. März vor den massiven Drohungen des Reichskanzlers und legte «das
Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die
Hände des Führers». Damit begann der offizielle Einmarsch der Deutschen:
Noch am selben Abend erklärte Hitler in Prag Böhmen und Mähren zum
«Reichsprotektorat».
Die Westmächte reagierten zwar empört, aber
langsam, indem sie Hitlers gebrochene Zusagen und Widersprüche
hervorhoben. Chamberlain erklärte in Birmingham, dass er für den Frieden
beinahe alles opfern würde - aber nicht die Freiheit. England und
Frankreich anerkannten das Protektorat nicht und gaben
Garantieerklärungen ab: Ein deutscher Angriff auf Holland, Belgien oder
die Schweiz würde als Kriegsgrund angesehen. Ähnliche Bekundungen
zugunsten Polens, Rumäniens und Griechenlands folgten. Davon liess sich
die dynamische Achse allerdings nicht beeindrucken: Am 22. März trat
Litauen auf ein deutsches Ultimatum hin das Memelland ab, und im April
besetzte Mussolini Albanien.
Die Schweizer Presse deutete den «Blitzkrieg»
(«Volksrecht») eher fatalistisch als Konsequenz der Münchner Konferenz
und der wirtschaftlichen Engpässe in Deutschland. Wie ein Jahr zuvor in
Österreich habe sich das Dritte Reich durch einen militärischen Schlag
Bodenschätze, eine bedeutende (Rüstungs-)Industrie und frische
Arbeitskräfte erworben. Besonders hingewiesen wurde in allen Kommentaren
auf die erheblichen tschechischen Gold- und Devisenreserven im Wert von
angeblich 480 Millionen Franken. Um an diese Güter heranzukommen, habe
Hitler einen grundsätzlichen Kurswechsel vorgenommen: Berief er sich
bisher auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, erstrebte jetzt ein
nationalsozialistischer Imperialismus mit rücksichtsloser Konsequenz
eine andere Verteilung der Welt. Die NZZ sprach von einer «ganz und gar
nicht romantischen» «Reichsidee», die immer neue Eroberungen
rechtfertige, welche «zur Erhaltung des auf Machterweiterung und stete
Zufuhr frischer Kräfte angewiesenen Regimes notwendig» seien.
Zurückhaltende offizielle Reaktion
Positiv vermerkt wurden die deutlichen
Kommentare in der welschen Presse, deren Mässigung der Bundesrat den
Deutschschweizern bis dahin oft als Vorbild empfohlen hatte. Die
offizielle Erklärung von Bundespräsident Philipp Etter blieb dagegen bei
aller Sympathie für die heftigen Gefühle des Volkes zurückhaltend, wobei
er weiterhin enge wirtschaftliche Kontakte mit dem betroffenen
Territorium erhoffte: «In politischer Hinsicht werden durch die
Veränderungen im Osten unsere traditionellen Beziehungen zum Ausland
nicht betroffen.» Die gefährliche internationale Lage habe das Volk,
unzertrennlich durch eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte der
Freiheit, aufgerufen «zur Besinnung auf seine providenzielle Sendung,
auf seine innere Kraft und Grösse und auf seine stete Bereitschaft auch
zum letzten Opfer!»
Zu deutlicheren Worten benutzte Etters
Kollege Hermann Obrecht am 16. März die offiziöse Gelegenheit eines
Vortrags bei der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Basel: «Man muss es
im Ausland wissen: Dem, der uns angreift und unsere Unabhängigkeit und
Unversehrtheit verletzen will, wartet der Krieg. Es wird in der Schweiz
nicht vorkommen, dass wir zuerst ins Ausland wallfahrten gehen.» Die
Anspielung auf die vergeblichen, demütigenden Reisen der
österreichischen und tschechoslowakischen Staatsspitzen zu Hitler wurde
vom Publikum mit stürmischem Beifall aufgenommen und umgehend, oft gar
mehrmals in den Zeitungen abgedruckt. Die katholischen «Neuen Zürcher
Nachrichten» sprachen von einem «mannhaften Wort aus dem Herzen des
gesamten Schweizervolkes» und «gegen die Angstmeier». Auch die NZZ
forderte Entschlossenheit: «Der Bürger unseres Kleinstaates weiss, dass
er auf sich selbst gestellt ist, dass, sollte es einmal zum Äussersten
kommen, für ihn mit aller Konsequenz gilt: Lieber den Tod als in der
Knechtschaft leben.»
Undiplomatischer Kommentar aus Genf
Weder Hysterie noch Sorglosigkeit, sondern
«ruhige Besinnung, ungeminderte Wachsamkeit und nationale Disziplin»
waren laut Regierung die Gebote der Stunde. Damit verbaten sich die
bürgerlichen Parteien auch «klassenkämpferische, das Volk zersplitternde
parteipolitische Zänkereien», die das Vertrauen in die Landesbehörde
untergraben könnten. Gemeint waren damit Reden wie diejenige des
Linkssozialisten Léon Nicole, der im Genfer Grossen Rat die Einberufung
des Völkerbunds verlangt und dabei Aussenminister Motta vehement
angegriffen hatte.
Der Genfer Staatsratspräsident Adrien
Lachenal wies diese Attacke zurück, bedauerte aber dabei im Namen der
Genfer Regierung und unter Beifall aller Parteien, dass ein souveräner
Staat «durch die Anwendung brutaler Gewalt» vernichtet worden war.
Unbeabsichtigt wurde er so zum Ausgangspunkt einer Intervention des
deutschen Botschafters gegen «solche Ausfälle». Der zuständige Beamte im
Politischen Departement erwiderte ihm, dass der verwendete Ausdruck
«gegenüber einer befreundeten Regierung in der Tat sehr bedauerlich
erscheine», zumal allein die eidgenössischen Behörden aussenpolitische
Erklärungen abgeben dürften. Ein zerknirschter Lachenal versprach
darauf, von solchen nutzlosen Bekundungen («manifestations inutiles»)
fortan abzusehen.
Ähnlich reagierte der deutsche Gesandte auf
einen Kommentar im sozialdemokratischen «Volksrecht» vom 27. März, der
maximale Kriegsbereitschaft und höchste Wachsamkeit forderte. «Wer im
sogenannten ‹Volks- oder Lebensraume› des grossdeutschen Reiches lebt,
der wird nur so lange unabhängig und selbständig leben, als er sich
nicht willig oder unter Drohungen verschlucken lässt. Man muss ein
harter und stachliger Bissen sein in diesen Zeiten!» Generalstabsoberst
Hans Frick nannte diese Formulierung «in der Tat unglaublich» und hielt
den Bundesrat an, gegen das Blatt vorzugehen, da die Linkspresse mit
solchen Äusserungen neutralitätswidrig handle und dem Land einen Krieg
bescheren könne.
Die Kommentare von Obrecht, Lachenal und des
«Volksrechts» zeigen mit ihren Nuancen den Spielraum, den die Deutschen
und die schweizerischen Behörden der freien Meinungsäusserung
zugestanden: Wen Obrecht meinte, war allen klar, doch verzichtete er
darauf, Namen zu nennen, wodurch seine Worte pauschal an «das Ausland»
gerichtet blieben und als legitimes Bekenntnis zu Neutralität und
Unabhängigkeit nicht zu beanstanden waren. Empfindlich reagiert wurde
dagegen, sobald das Dritte Reich selbst genannt und wegen seiner
barbarischen Methoden kritisiert wurde.
NZZ / Neue Zürcher Zeitung
AUSLAND Nr. 61 7
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