Seit dem 24. März bombardieren Nato-Einheiten Ziele in
Jugoslawien. Ein schnelles Ende ist nach wie vor nicht in Sicht. Das
Risiko der Eskalation und der Ausweitung ist nach wie vor groß. In den
letzten Tagen wird verstärkt über einen Einsatz von Bodentruppen
debattiert. Aus unserer Sicht ist es höchste Zeit - ohne Besserwisserei
und moralisierende Vorwürfe - kritisch Bilanz zu ziehen. Unsere Sorge
wächst, daß sich alle Beteiligten in ihrem Reden und Handeln immer mehr
in eine militärische Eskalationslogik hineinbegeben und der notwendige
Ausstieg aus der Gewaltspirale immer schwieriger wird.
Wir haben in den letzten Jahren militärische Kampfeinsätze der
Bundeswehr - aus guten Gründen, wie wir auch heute noch glauben, -
abgelehnt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über den Vertragsentwurf
von Rambouillet haben jedoch auch wir vor dem Hintergrund der
Erfahrungen mit dem Regime Milosevic und den aktuellen Entwicklungen im
Kosovo Ende März keine Alternative zu einem militärischen Vorgehen mehr
gesehen und dieses mitgetragen oder toleriert. Nach der fast
dreiwöchigen Bombardierung fällt unsere Zwischenbilanz kritisch aus:
- Die humanitäre Katastrophe konnte nicht verhindert werden.
Der serbische Vertreibungsterror nahm unvorstellbare Ausmaße an.
- Milosevic konnte nicht zur Unterzeichnung des
Rambouillet-Friedensabkommens gezwungen werden. Dieses ist ganz
offensichtlich obsolet geworden.
- Die innenpolitische Stellung des Regimes Milosevic wurde
bislang durch den Krieg eher gestärkt. Nicht klar ist bisher, inwieweit
seine militärische Macht geschwächt wurde.
- Die Beziehungen zu Rußland befinden sich in einer tiefen
Krise.
- UNO und OSZE werden weiter politisch marginalisiert.
- Das völkerrechtliche Legitimationsdefizit der Luftangriffe
droht dauerhaft das System internationaler Organisationen und die
völkerrechtliche Ordnung zu gefährden.
- Die Begrenzung der Luftangriffe auf ausschließlich
militärische Ziele erweist sich in der Realität als undurchführbar. Die
Schäden und Opfer der Luftangriffe werden "immer ziviler".
- Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß angesichts der
kritischen Zwischenbilanz die Unterstützung für das militärische
Eingreifen in Teilen der Bevölkerung schwindet.
Die Antwort der Nato auf diese Entwicklung scheint allein in der
Intensivierung der Luftangriffe zu bestehen. Die Dementis eines
angeblich unausweichlichen Einsatzes von Bodentruppen haben in diesen
Tagen an Überzeugungskraft verloren. Am Ende dieser Sackgasse
militärischer Eskalation droht nur die Alternative von Sieg oder
Kapitulation zu stehen, das heißt der umfassende Bodenkrieg.
Für uns steht die moralische Legitimation des Handelns gegen das
Regime Milosevic außer Zweifel. Die Glaubwürdigkeit der moralischen
Überzeugung unserer Bundesregierung von der Notwendigkeit einer
militärischen Option gegen ein die Menschenrechte in unvorstellbarem
Ausmaß verletzendes Regime in Belgrad hat viele Menschen bewegt und zur
Unterstützung veranlaßt. Doch die Gewißheit von der moralischen
Legitimation des Handelns darf den Blick auf dessen unmittelbare und
mittelbare Folgen und auf politische Möglichkeiten nicht trüben.
Wir sind deshalb in Sorge:
- Das Reden vom Krieg als ultima ratio weckt die
Illusion, das letzte Mittel sei auch das letztlich effektive, es müsse
nur konsequent und lange genug angewendet werden. Allein die
militärische Logik droht das Handeln zu bestimmen.
- Die unmißverständliche politische und moralische Bewertung
von Milosevic und seiner Politik darf eine Verhandlungslösung nicht
unmöglich machen.
- Die rasche Zurückweisung bisheriger Waffenstillstandsangebote
erweckte den Eindruck, als seien Chancen einer "Nachbesserung" durch
weitere Verhandlungen nicht ausreichend ausgelotet wurden.
- Eine Waffenruhe über die orthodoxen Osterfeiertage in Serbien
und Montenegro - unter Fortführung der militärischen Aktionen, die dem
unmittelbaren Schutz der albanischen Bevölkerung im Kosovo dienen sollen
- hätte ein wichtiges Zeichen an das serbische Volk darstellen können.
- Die bislang von westlicher Seite formulierten
Waffenstillstandsbedingungen nehmen Elemente einer Friedensregelung
vorweg und rücken deshalb eine Waffenruhe in weite Ferne.
- Die unzureichende Informationspolitik der Nato macht eine
realistische Beurteilung der militärischen und politischen Ergebnisse
und Perspektiven des Krieges immer schwieriger.
Für uns war in den vergangenen Wochen die Einsicht in die
Grenzen gewaltfreien oder pazifistischen Handelns in dieser historischen
Situation sehr schmerzlich. Hinweise auf viele politische Versäumnisse
und Fehler in der Vergangenheit und Verhandlungsappelle können
untaugliche Mittel sein, um in einer konkreten Situation Völkermord und
Vertreibung zu verhindern und einen verhandlungsunwilligen Diktator zu
stoppen. Diese Einsicht in die Grenzen gewaltfreien Handelns begründet
für uns jedoch kein Vertrauen in die unbegrenzten Möglichkeiten des
Militärischen. Viele von uns haben dem Beschluß des Bundestages vom 16.
Oktober 1998 nicht zugestimmt, doch Ende März 1999 nach dem Scheitern
des Rambouillet-Prozesses den Luftangriffen der Nato als ultima ratio
zur Vermeidung von Massenmord und Massenvertreibung im Kosovo die
Zustimmung nicht entzogen. Wir haben dies in der Hoffnung getan, daß in
dieser historischen Situation gezielte Luftanschläge eine positive
Lösung erzwingen könnten und ein weiteres Warten nicht verantwortbar
sei. Unsere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, unsere Befürchtungen
haben sich eher bestätigt.
Politisches wie militärisches Handeln bedürfen
selbstkritischer Distanz und muß sich an seinen Wirkungen messen lassen.
Das Dilemma zwischen "Nie wieder Krieg!" und "Nie wieder Auschwitz!"
darf weder zu einer politischen noch militärischen Alternativlosigkeit
führen. Für uns heißt das jetzt: Der politische Ausweg aus der drohenden
militärischen Sackgasse muß oberste Priorität genießen. Dringender denn
je müssen wir darüber nachdenken, wie die Politik wieder ihre
Handlungsmacht zurückgewinnt und neue Perspektiven für eine Politik der
Konfliktlösung auf dem Verhandlungsweg eröffnet werden können.
Der Ausweg aus der militärischen Eskalationsspirale macht eine
definitive Absage an den Einsatz von Bodentruppen notwendig. Der Einsatz
von Bodentruppen mag militärisch als konsequent erscheinen. Trotzdem ist
die Besetzung des Kosovo, gar die Niederwerfung des Milosevic-Regimes
mit Bodentruppen abzulehnen. Die Opfer eines Bodenkrieges, der
höchstwahrscheinlich auch ein Partisanenkrieg würde, wären nicht zu
verantworten. Die politischen und militärischen Eskalationsrisiken in
der Region und im Hinblick auf Rußland wäre unabsehbar. Wir fordern die
Bundesregierung deshalb auf, sich innerhalb der Nato weiterhin gegen den
Einsatz von Bodentruppen einzusetzen. Einer Beteiligung der Bundeswehr
an Bodentruppen werden wir nicht zustimmen.
Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung um
eine Balkan-Konfe-renz. Die notwendige Beschäftigung mit einem
Stabilitätskonzept für Südosteuropa darf nicht davon ablenken, daß die
kriegerischen Auseinandersetzungen unverzüglich eingestellt werden
müssen. Deshalb erscheinen uns folgende Elemente für das weitere
Vorgehen notwendig:
- Oberstes politisches Ziel allen Handelns bleibt es, die
ethnischen "Säuberungen" zu stoppen, humanitäre Hilfe im Kosovo und die
Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen. Unabdingbare Voraussetzung ist
dafür ein Waffenstillstand. Die laufenden Bemühungen um eine
internationale Vermittlung für einen Waffenstillstand
sind zu intensivieren - ob durch VertreterInnen internationaler
Organisationen wie der UNO oder der OSZE; z.B. Kofi Annan, oder durch
beiderseits anerkannte, unabhängige Persönlichkeiten wie z.B. Mandela
oder Peres - und durch die Nato zu unterstützen. Ein sofortiger,
durch internationale Truppen überprüfbarer Waffenstillstand ist
anzustreben. Der Einstieg in Verhandlungen über einen derartigen
Waffenstillstand könnte durch die kurzfristige einseitige Einstellung
der Bombardements von Zielen in Serbien und Montenegro ermöglicht
werden. Auf diese Weise wird der serbischen Bevölkerung die
Bereitschaft zum Waffenstillstand signalisiert. Während dieser
begrenzten Waffenpause könnten die Waffenstillstandsverhandlungen
durchgeführt werden. Die Bedingungen für einen Waffenstillstand und für
ein Friedensabkommen müssen getrennt werden, damit nicht - wie bisher -
ein möglicher Waffenstillstand durch die Uneinigkeit über ein
Friedensabkommen blockiert wird. Voraussetzung für einen
Waffenstillstand ist deshalb - gemäß internationalen Gepflogenheiten -
das überprüfbare Ende aller militärischen Auseinandersetzungen und von
Vertreibung und Mord im Kosovo. Eine Überwachung des Waffenstillstands
erfolgt durch eine internationale Friedenstruppe unter dem Mandat der
UNO/OSZE, wenn nötig ohne Beteiligung der an dem Konflikt beteiligten
Parteien.
- Eine umgehend einzuberufende Friedenskonferenz für den
Balkan muß sich unter dem Dach von UNO und/oder OSZE zunächst um
eine Lösung für den Kosovo und Jugoslawien bemühen. Sodann sind die
Verhandlungen über eine umfassende Friedensstruktur für den Balkan
aufzunehmen. Die Nato als Kriegspartei kann keine
Konfliktmoderationsrolle mehr spielen. Am geeignesten erscheint uns als
Rahmen für die Konferenz die OSZE, da sie einerseits alle Beteiligten
umfaßt (auch Rußland und die USA), jedoch außerregionale
Interessenseinflüsse (z.B. China) minimiert.
- Für eine dauerhafte Befriedung des Balkans muß sich die
internationale Gemeinschaft vor allem mit vier Problemkörben
beschäftigen:
- Versorgung und Rückführung der Flüchtlinge
- Erarbeitung einer politische Lösung für den Kosovo zumindest
als Interimsregelung
- Schaffung einer Friedensordnung auf dem Balkan mit der
Perspektive einer Einbindung in die Europäische Union
- Entwicklung eines ökonomischen und politischen
Wiederaufbauprogramms (finanzielle Unterstützung, Hilfe zum Aufbau
demokratischer Strukturen und Stärkung der Zivilgesellschaft, Förderung
der regionalen Zusammenarbeit etc.)
- Die Entwicklung in den letzten Wochen gebietet ein intensives
Nachdenken nicht etwa nur über die Grenzen gewaltfreier
Konfliktintervention, sondern auch über Folgen und Wirkungen
militärischen Krisenreaktion. Wir halten angesichts des Krieges auf dem
Balkan die Durchführung des geplanten Gipfeltreffens der Nato in
Washington zur Feier des 50-jährigen Jubiläums und zur Beratung über ein
neues strategisches Konzept für nicht angemessen. Wir bitten die
Bundesregierung deshalb mit Nachdruck, sich für eine Verschiebung des
Nato-Gipfels auszusprechen.
- Der Verlauf des
Kosovo-Konfliktes und das – wieder einmal – zu späte Eingreifen der
internationalen Gemeinschaft sowie die Erfahrungen mit der OSZE-Mission
machen deutlich: Die von der rot-grünen Koalition vereinbarte
Förderung der Instrumente der Krisenprävention und zivilen
Konfliktbearbeitung muß erheblich intensiviert werden, damit wir
nicht immer wieder auf die schiefe Ebene einer militärischen
"Krisenreaktion" geraten. Nächste Schritte könnten z.B. sein:
- Schaffung eines Katalogs positiver und negativer Sanktionen
zur Durchsetzung von Menschenrechten sowie die Errichtung eines
Sanktionshilfefonds
- Internationale Kooperation bei der Ausbildung von
Friedensfachkräften
- Stärkung der Kompetenzen und Fähigkeiten von UNO und OSZE zur
Krisenprävention.
Christian Sterzing
Winfried Hermann
Winni Nachtwei
Claudia Roth
Hans-Josef Fell
Klaus Müller
Bonn, im April 1999