Von Anton Legerer, jr. /
anton@hagalil.com
Ein bislang ungeschriebenes Kapitel
jüdischer Geschichte nach der Verfolgung durch den Nationalsozialismus wird
durch das Buch der Wiener Historikerin Christine Oertel, Mitarbeiterin Simon
Wiesenthals und Mitglied einer privaten Historikerkommission zur Erforschung
von Zwangsarbeit - wissenschaftlich aufgerollt: jüdische Heimatlose -
sogenannte Displaced Persons (DPs) - in der amerikanischen Besatzungszone
des Nachkriegsösterreich.
Was sich wie ein winziges Detail der
nationalsozialistischen Nachwirkungen ausnimmt, erstreckte sich über
neun Jahre und hat Schätzungen zufolge - genaue Zahlen sind nicht mehr
eruierbar - mehr als zweihunderttausend Juden betroffen. Oft waren es
aus heutiger Sicht unvorstellbare Erfahrungen, die selbst nach der
nationalsozialistischen Verfolgung auf die Überlebenden warteten. Die
ersten jüdischen DPs waren 1700 ehemalige Häftlinge aus dem KZ Dachau,
die Ende April 1945 nach Tirol "evakuiert" und dort am 1. Mai von der
amerikanischen Armee befreit wurden. Drei Tage später waren es mehr als
16000 aus Ungarn stammende Häftlinge des Nebenlagers des KZ-Mauthausen,
Gunskirchen in Oberösterreich. Unmittelbar nach der Befreiung der
Konzentrationslager änderte sich zunächst nur die Uniform der Bewacher
und die notwendigste medizinische Versorgung. Hinsichtlich
Bewegungsfreiheit, Ernährung oder Kleidung brachte die Befreiung
zunächst keine Änderung ihrer Lage. Erst nach und nach wurden die
Vertriebenen in Schulen, Spitälern und eigenen Flüchtlingslagern
untergebracht und die Bewachung eingestellt. Die Versorgungslage blieb
bis zum "Harrison-Report" im August 1945 mangelhaft.
Im allgemeinen Nachkriegs-Tohuwabohu mangelte es
allerdings nicht nur an Resourcen zur Betreuung und Verpflegung der
jüdischen DPs, mangelndes Verständnis für deren Lage - oft von
Antisemitismus begründet bzw. begleitet - erschwerten das Leben für die
traumatisierten Überlebenden zusätzlich. So war es anfangs üblich, die
Flüchtlinge insgesamt nach staatlicher Nationalität zu betreuen, was
dazu führen konnte, dass Juden aus Polen mit polnischen Antisemiten
zusammen leben mussten, und das auf engstem Raum. Nach der Einrichtung
jüdischer Flüchtlingslager wurden deren Bewohner von der
österreichischen Bevölkerung mit nahezu unveränderten antisemitischen
Stereotypen begegnet wie unter der nationalsozialistischen Propaganda.
Das Herumirren von DPs verlief in alle Richtungen,
zunächst zurück in die ursprünglichen Länder, vor allem nach Osten in
der Hoffnung, Familie und Freunde wiederzufunden, danach - gefördert
durch den postnazistischen Antisemitismus der kommunistischen Regime -
Rückkehr Richtung Westen, wo sie eher wohlgelitten denn willkommen
waren. Diese Situation entspannte sich erst mit der Gründung des Staates
Israel und mit der Änderung der Einwanderungsbestimmungen in die USA
1950.
Christine Oertel hat die Situation der jüdischen
DPs in der amerikanischen Besatzungszone in Österreich vor allem in den
National Archives in den USA penibel erforscht - alleine die Anmerkungen
des Bandes machen rund ein Sechstel des Umfanges aus. In ihrer
detailgetreuen Beschreibung der Lebenssituation und Lebensumstände ist
Oertel sachlich und zugleich einfühlsam. Unbestechlich zeigt Oertel das
Verhaltens der österreichischen Bevölkerung, dem sie ein eigenes Kapitel
widmet, und das politische Fehlverhalten der Regierungen potentieller
Zielländer der DPs, die durch Restriktionen hinsichtlich Herkunft, Beruf
oder sonstige auf jüdische Flüchtlinge zugeschnittene
Einwanderungshürden das Leid der Juden verlängerten, auf. Das trotz der
wissenschaftlichen Herangehensweise gut lesbare Buch enthält zudem die
erstmals veröffentlichte Fotodokumentation des einstigen
DP-Lagerfunktionärs Benjamin Bohrer.