Aleksandar Tišmas Romanzyklus:
Elend, das aus dem guten Willen wächst
Von Claus-Ulrich Bielefeld
Was geschieht nach der Apokalypse? Das Leben geht weiter.
Mit stoischer Ruhe und strenger Lakonie erzählt Aleksandar Tišma vom
Weiterleben, von Menschen, die als hoffnungslos Verstörte übriggeblieben
sind in einer Welt, in der dem vergangenen Unheil kein Sinn abgewonnen und
den Opfern kein Trost zugesprochen werden kann.
Einsam geht der überlebende Jude Blam in Tišmas Roman Das Buch
Blam nach dem Krieg durch die Stadt Novi Sad, in der einst Serben,
Kroaten, Ungarn, Deutsche, Juden und Griechen zusammenlebten, und in die
er als einer der wenigen, der die Massaker im Jahre 1942 und die
Deportationen überstanden hat, zurückgekehrt ist. Er erinnert sich und
kann doch nicht fassen, was geschehen ist. Eine andere unvergeßbare
Figur, die Tišma geschaffen hat: Vilko Lamian in dem Roman Kapo. Lamian
hat Auschwitz überlebt, weil er mit seinen Peinigern kollaboriert,
Mithäftlinge verraten und dem Tod ausgeliefert hat.
In fünf Romanen hat Tišma seine Geschichte vom Jahrhundert der
Wölfe, wie es Nadeshda Mandelstam in ihrem Lebensbericht genannt hat,
aufgeschrieben. Nun liegt der Zyklus mit dem Roman Treue und Verrat
geschlossen in deutscher Übersetzung vor.
Wir befinden uns Anfang der sechziger Jahre im sozialistischen
Jugoslawien, wieder in Novi Sad. Ein böser Bann scheint über der Stadt
zu liegen, in der sich die Menschen wie mürrische und unglückliche
Schlafwandler bewegen, die nicht wissen, was sie sich wünschen könnten
und die dennoch von Sehnsucht geplagt werden, von dem Begehren nach dem
ganz Anderen, das ihrem Leben wieder Licht und Farbe geben könnte. Zu
ihnen zählt auch Sergije Rudic, ein 38jähriger Jurist. In einem
Belgrader Winkelverlag lektoriert und korrigiert er Schundromane aus dem
Westen, die er den realsozialistischen Gegebenheiten anpaßt. Am
Wochenende fährt er zu seinen Eltern nach Novi Sad, die ihm auf die
Nerven gehen und deren Anhänglichkeit er sich doch nicht entziehen kann.
Was kann diesem alten, grämlichen Kind noch widerfahren? Die Liebe,
genauer: die Leidenschaft zu einer Frau.
Aus Österreich ist Inge gekommen, die in Novi Sad aufgewachsen
ist. Nun ist ihr, die 1945 mit den meisten anderen deutschen Bewohnern
Novi Sads aus ihrer Heimat vertrieben worden ist, nach langen
Rechtsstreitigkeiten die einstige Wohnung ihres Großvaters zugesprochen
worden, in der Sergijes Eltern wohnen. Sergije soll mit ihr und ihrem
Mann über eine Einigung verhandeln, eine Aufgabe, die er schnell aus den
Augen verliert, denn es gelingt ihm, Inge ohne Präliminarien ins Bett zu
bugsieren: ein Abenteuer, ein Triumph über eine durchaus willige Frau.
Doch für Sergije bedeutet das Zusammensein mehr. Aus einem
sinnlosen, autistischen Leben soll ihn diese Liebe reißen, "Läuterung"
soll sie ihm bescheren, einen Neubeginn ermöglichen – und bringt ihm
doch nur fünf romantische Tage in einem kleinen Hotel an der Donau, wo
die beiden ihre Sinnlichkeit ausleben. Mehr geschieht nicht, danach
kehrt Inge zu ihrem Mann zurück, der sich nicht von ihr trennt, obwohl
sie von Sergije schwanger ist.
Eine bittersüße Liebesgeschichte, die beschwert und letztlich
demoliert wird von all dem Vergangenen, das fortwirkt und immer wieder
siegen wird. Als Schriftsteller demonstriert Tišma konsequent und mit
radikaler Distanz den "gräßlichen Fatalismus der Geschichte". Keine
Erklärungen liefert er für all das Schreckliche, was sich die Menschen
antun und was ihnen angetan wird. Nur Bilder gibt es, quälend genaue
Beschreibungen von Gemeinheit, Mord und Verrat, die oft zeitlupenartig,
in sich verstrickenden Sätzen beschrieben werden. Treue, im Titel
beschworen, ist nur leerer Wahn in einem Geschehen, das sich wie eine
riesige Naturkatastrophe über die Menschen wälzt und sie tötet oder als
Versehrte zurückläßt.
Opfer als Täter, Täter als Opfer
Und so wären denn alle unschuldig schuldig? Das klingt banal,
wird aber durch die Schilderungen des pessimistischen Anthropologen
Tišma beunruhigend glaubwürdig. Das Elend des Menschen, entnehmen wir
seinen Schilderungen, wächst nicht nur aus seinen bösen, aggressiven
Impulsen, sondern auch aus seinem guten Willen, der oft mit
Fahrlässigkeit und Eitelkeit verbunden ist. Als junger Mann hat Sergije
gegen die deutschen und ungarischen Besatzer seiner Heimat aufbegehrt
und ein Getreidefeld in Brand gesetzt. Eine mutwillige Aktion, für die
er ins Gefängnis geworfen wird und später ins Arbeitslager. Mit geradezu
provozierendem Gestus verweigert Tišma das Hohe Lied des Widerstands.
Statt dessen läßt er Sergije zwei Jahrzehnte später, nach einem guten
Essen in einem Gartenrestaurant unter einer Kastanie, über die Gefahren
sinnieren, "die in irgend einem Winkel unserer eigenen Natur lauern, um
alles zu zerstören, was mit guten Absichten und Vorzeichen errichtet
wurde. Wir handeln, und dann bemerken wir, daß wir nichts geschaffen
haben, daß sich die Wirklichkeit in ganz anderer Richtung bewegt, und
wir müssen hinterherlaufen, um sie zu verteidigen, obwohl sie uns schon
fremd ist und wir nicht daran schuld sind."
Ein zentraler Satz, der über Tišmas gesamtem Werk stehen könnte,
und der nur schwer zu ertragen ist, denn er beharrt auf Relativierung
und Nicht-Eindeutigkeit. Die Opfer sind bei diesem Autor auch als Täter
denkbar und vice versa. Der Widerstandskämpfer Sergije erschießt nach
dem Krieg aus Eifersucht und Ekel einen Nebenbuhler. Er vernachlässigt
seine Frau und seine behinderte Tochter, er verachtet seine Eltern. Und
nährt sich seine Liebe zu Inge nicht aus Eigennutz und moralischer
Indifferenz? Dennoch, und darin besteht die große Kunst Tišmas, spüren
wir weder Verachtung noch Mitleid für Sergije. Was bleibt und lange
nachwirkt: Unruhe.
Sie wird auch nicht gemindert durch die fast idyllisch anmutende
Darstellung einer Familie mit vier Kindern, die Sergije, Inge und ihren
Mann um sich schart und mit ihrer naiven Lebenslust anzustecken sucht.
Ein verführerisch ausgemaltes Gegenbild, in das Sergije gerne eingehen
würde: "Ist dies nicht das wahre Leben?", fragt er sich einmal
sehnsuchtsvoll.
Nichts da, sagt uns aber Tišmas Roman und widerspricht mit einer
Schlußszene, die an Grausen und Shakespearscher Tragik und Komik kaum zu
überbieten ist: Als Sergije erfährt, daß Inge von ihm schwanger ist,
will er ihren Mann umbringen. Und um nicht selbst in Verdacht zu
geraten, drängt er seinen Freund Eugen Patak, die Tat für ihn zu
begehen. Patak, der mit Sergije im Gefängnis gesessen hat und sich nach
seiner Rückkehr nach Novi Sad hinter Büchern versteckt und in der
Lektüre vergraben hat, weigert sich. Doch dann teilt ihm Sergije mit,
daß er Pataks Geheimnis kennt: Patak, um seine eigene Haut zu retten,
die Genossen im Gefängnis bei ihrem Ausbruchsversuch an die
Wachmannschaften verraten. Tišma treibt seinen Stoff in eine letzte
Kehre der Hoffnungslosigkeit und läßt ihn fürchterlich enden.
Fünf Bände hat Tišma über den Gebrauch des Menschen, so ein
anderer Titel aus dem Zyklus, geschrieben. Das ist ein langer,
waghalsiger Gang ins Herz der Finsternis, eine rücksichtslose
Selbstprüfung des Autors und eine Prüfung des Lesers. Wer sich ihr
aussetzt, erhält eine so bittere wie unvergeßbare Lektion: über
Verblendung und Verrat, über Unschuld und Schuld menschlicher Existenz.
Romanzyklus von Aleksandar Tišma
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Dienstag 23-03-99 |