Zentrale Forschungsstelle Nachkriegsjustiz in
Wien eröffnet
von Anton Legerer, Jr. -
anton@hagalil.com
Wien, 14. Dezember 1998 - In Anwesenheit von Justizminister Nikolaus
Michalek wurde am Montag im österreichischen Staatsarchiv die zentrale
österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz gegründet. Wesentlichste
Aufgabe der Forschungsstelle ist die zentrale Dokumentation aller
Gerichtsakten über die gerichtliche Ahndung von nationalsozialistischen
Verbrechen in Österreich. Alle staatsanwaltschaftlichen und richterlichen
Verfahren sollen entsprechend katalogisiert und die Akten mikroverfilmt
werden. Computer-Abfragen sollen dann beim Auffinden von Akten in ganz
Österreich möglich sein, ein langfristiges Ziel ist die Vernetzung der
Computerkataloge aller europäischen Gerichtsverfahren von NS-Verbrechen. Die
Akten selbst bleiben in den Landesgerichten bzw. nach Ablauf der 50jährigen
Sperrfrist in den Landesarchiven verwahrt. Aufgrund unterschiedlicher
Register und Kataloge in den einzelnen Gerichten und Archiven gestaltet sich
die österreichweite Erforschung der Verfolgung von NS-Verbrechen bisher
schwierig bis unmöglich.
Die
Recherche- und Erschließungsarbeiten der Prozeßakten erfolgen im
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), dort bestehen
derzeit auch Zugangsmöglichkeiten zu Datenbanken und Papierkopien für
Betroffene und Forscher. Die zentrale Lagerung der mikroverfilmten
Aktenbestände übernimmt das Staatsarchiv. Die ersten drei Kartons mit
Mikrofilmen wurden dem Staatsarchiv bei der Gründungsveranstaltung
überreicht.
Die Aktenbestände umfassen aus heutiger Sicht überraschend viele Verfahren:
Allein zwischen 1945 und 1955 führten 136 829 gerichtliche
Ermittlungsverfahren nach dem Kriegsverbrechergesetz oder dem
NS-Verbotsgesetz zu 28 148 Anklagen bei den Volksgerichten, die in Wien,
Graz, Linz und Innsbruck eingerichtet waren. Die Zahl der Schuldsprüche
beträgt 13 607, davon waren 43 Todesurteile und 29 lebenslängliche
Freiheitsstrafen (die Strafen selbst wurden freilich nicht immer
urteilsgemäß vollzogen). Nach 1955 wurden gegen rund 5 000 Personen
einschlägige Ermittlungen angestrengt, der letzte Kriegsverbrecherprozeß
gegen ein im Konzentrationslager Mauthausen tätiges SS-Mitglied endete im
Dezember 1975 - mit einem Freispruch. Die Akten der gerichtlichen und
polizeilichen Erhebungen sind in vielen Fällen - unabhängig vom
Urteilsspruch - mit ihren vielen Querverweisen, Dokumenten und
Zeugenaussagen einziges Quellenmaterial für Historiker.
Das Kuratorium der neu gegründeten Forschungsstelle wird vom ehemaligen
Bundeskanzler Franz Vranitzky geleitet, wissenschaftlich wird die Stelle von
den Historikern Winfried Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider betreut. Eine
enge Zusammenarbeit wurde auf internationaler Ebene mit Jad Vaschem, der
Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in
Ludwigsburg, der polnischen Hauptkommission zur Untersuchung von
NS-Verbrechen, dem U.S. Holocaust Memorial Museum, dem Institut d'Historie
du Temps Présent in Paris sowie der Arbeitsstelle "Demokratie und Diktatur"
an der Freien Universität Berlin vereinbart.
Der zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz wird neben der
wissenschaftlichen Dokumentation der juristischen Aufarbeitung auch eine
gesellschaftspolitische Funktion bei der Bewußtseinsmachung über einerseits
die begangenen Verbrechen selbst sowie andererseits deren erfolgte bzw.
unterbliebene Ahnung zugeschrieben. Seitens der Zentralen Stelle
Ludwigsburg, die am 2. Dezember ihr 40jähriges Bestehen beging, und deren
Zukunft derzeit Gegenstand von Diskussion und Verhandlungen ist, wird der
dokumentarische Ansatz der österreichischen Institionen als beispielhafte
Anregung verstanden.
Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
Postanschrift:
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