Richten wir unser Augenmerk einmal nicht so
sehr auf die unterschiedliche Bewertung der jüngsten deutschen
Vergangenheit, sondern auf das Bild der Juden, wie es unlängst bei
Rudolf Augstein und bei Martin Walser gezeichnet wurde. Die Ausführungen
von Augstein und Walser, die heute auf den ersten Blick als eine
gemeinsame Seite der Debatte betrachtet werden, entpuppen sich bei
näherem Hinsehen als zwei unterschiedliche deutsche Traditionen: auf der
einen Seite eine, auch in der Wortwahl, wenig verhüllte Abneigung
gegenüber den Juden, auf der anderen Seite eine Abneigung gegen das
Jüdische als eigenständiges Kulturelement. Im Berliner
Antisemitismusstreit standen sich vor über hundert Jahren zwei der
berühmtesten deutschen Historiker gegenüber, um eine wenig historische
Frage zu erörtern. Auf der einen Seite goß der nationalgesinnte
Historiker Heinrich Treitschke frisches Öl in die vom Hofprediger
Stöcker geschürten Flammen des politischen Antisemitismus. In seinem
Aufsatz in den „Preußischen Jahrbüchern“, in dem erstmals das Schlagwort
„Die Juden sind unser Unglück“ zu lesen war, bezichtigte er die
„hosenverkaufenden Jünglinge“ aus dem Osten, zur Überfremdung der
deutschen Kultur beizutragen. In einer entschiedenen Erwiderung ließ
sein Kollege Theodor Mommsen keinen Zweifel an seiner grundsätzlich
liberalen Einstellung, die sich gegen jeglichen Versuch verwahrte,
deutschen Juden ihre Rechte zu schmälern oder ihr Deutschtum zu
bestreiten. Gleichzeitig fühlte sich Mommsen jedoch auch verplichtet,
den deutschen Juden Mitverantwortung am aufflammenden Antisemitismus
zuzuschreiben.
Nach all den Worten der Entrüstung über die
antisemitischen Töne seines Historikerkollegen Treitschke kam Mommsen im
Schlußwort seiner Entgegnung zu der Erkenntnis, daß die Juden sich
außerhalb der modernen Zivilisation befänden, wenn sie schließlich nicht
doch die Wahrheit des Christentums erkannten; so sei die beste Art der
Integration immer noch die Taufe. Gewiß lagen die Vorstellungen
Treitschkes und Mommsens meilenweit auseinander, doch in einem waren sie
sich einig: die Juden als Juden würden aus der Gesellschaft verschwinden
müssen.
Selbst Treitschke, der wesentlich dazu
beitrug, den Antisemitismus im Kaiserreich hoffähig zu machen, hütete
sich wohl, die Juden als Juden allzu direkt anzugreifen. Im erwähnten
Pamphlet, „Unsere Aussichten“ warnt er vor „der Schaar hosenverkaufender
strebsamer Jünglinge, deren Kinder und Kindeskinder dereinst
Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen“ – das
verhängnisvolle Wort „Die Juden sind unser Unglück“ schreibt er dem
Volksmund zu. Auch Augstein schafft es, einen Kommentar über die Juden
zu schreiben, ohne sich aber des Ausdrucks „Jude“ zu bedienen.
Deutschlands Börsen und Zeitungen werden die Juden wohl nicht mehr
beherrschen, dafür gibt es „die New Yorker Presse und die Haifische im
Alltagsgewand“, und Augstein zitiert nur Adenauer, wenn er behauptet:
„Das Weltjudentum ist eine große Macht.“
Auch der kommunistische Antisemitismus
richtet sich nicht gegen „die Juden“ (Antisemitismus war immerhin in der
Verfassung der Sowjetunion verboten), sondern gegen „Kosmopoliten“ und
„Zionisten“. Man fragt sich am Ende nur noch, ob tatsächlich, wie
Augstein freudig konstatiert, bereits alle Tabus gebrochen sind. Oder
sollte es etwa immer noch ein Tabu in Deutschland sein, es offen zu
bekennen, wenn man die Juden nicht so gerne mag?
Augstein wollte Walser zu Hilfe eilen. Ob
dieser sich dafür bedanken wird oder über die Geister, die er rief, zu
reflektieren beginnt, mag dahingestellt bleiben. Denn bei aller
berechtigten Kritik ist seine Sichtweise doch eine unterschiedliche, muß
das Problemtische an seinen Äußerungen auf anderer Ebene gesucht werden.
Von Haifischen im Anwaltsgewand zu sprechen ist seine Sache nicht.
Vielmehr fühlt er sich als Anwalt der Juden, zumindest der assimilierten
deutschen Juden, die er posthum von den im osteuropäischen Schicksal
verhafteten Juden selektiert. Vieles aus der Sonntagsrede wurde wieder
und wieder zitiert, kaum aber jene Episode, mit der sich Walser gegen
den Vorwurf der Verharmlosung von Ausschwitz zu wehren versucht: „Ich
stellte das Schicksal einer jüdischen Familie von Landsberg an der
Warthe bis Berlin nach genauester Quellenkenntnis dar als einen fünfzig
Jahre lang durchgehaltenen Versuch, durch Taufe, Heirat und Leistung dem
ostjüdischen Schicksal zu entkommen und Deutsche zu werden, sich ganz
und gar zu assimilieren.“
Hat man ihn auch hier wieder mißverstanden?
Kaum, denn wer sich an Walsers Laudatio auf den posthum mit dem
Geschwister-Scholl-Preis geehrten Viktor Klemperer erinnert, dem wird
diese These bekannt vorkommen. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte
damals: „Tote können sich ihre Laudatoren nicht aussuchen, und sie
können auch keinen Einfluß mehr darauf nehmen, für was ihr Werk Zeugnis
ablegen soll.“ Unter anderem stellte Walser damals dem getauften und
deutsch-patriotischen Juden Klemperer den Zionisten Gersh Schober als
Negativbeispiel gegenüber. Es erstaunt, daß Walser nicht einmal auf die
Idee zu kommen scheint, hinter diesem beständigen Lob für jene Juden,
die ihrem Jüdischsein „entkommen“, könnte man ein durchaus
problematisches Konzept der Integration durch völlige Assimilation
erkennen.
Hier scheint mir das Kernproblem nicht nur
Walsers, sondern auch vieler Reaktionen auf seine Rede zu liegen. Der
nahezu selbstverständlichen Weigerung, das Eigene, sagen wir ruhig das
Fremde in den deutschen Juden anerkennen zu können. Sie sind so manchem
auch heute noch nur als völlig assimilierte, ja christlich getaufte
Deutsche vorstellbar. Als Menschen mag man sie wohl tolerieren, nicht
jedoch als Juden. Es waren eben gerade nicht die Antisemiten, sondern
die gutmeinenden Liberalen à la Mommsen, die im Kampf gegen den
Antisemitismus dieses Argument einsetzten.
In der Verteidigungsschrift für die deutschen
Juden hieß es bei Mommsen: „Außerhalb dieser Schranken (des
Christentums) zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich,
aber schwer und gefahrvoll. Wem sein Gewissen, sei es positiv oder
negativ, es verbietet dem Judentum zu bekennen, der wird dem
entsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen.“ Daß die Juden sich
gegen eine so verstandene Integration bei gleichzeitiger Aufgabe des
Judentums wehrten, und ein jüdischer Publizist verzweifelt ausrief,
„Gott schütze uns vor unseren Freunden,“ kümmerte sie auch damals recht
wenig.
Trotz gegenwärtiger Zweifel – die „seriöse
Diskussion über das Judentum betreffende Fragen“ wird auch nach dem
Abkühlen dieser Debatte weitergehen. Doch mehr als die vorigen
Diskussionen hat sie die Fronten geklärt. Es ist nicht nur legitim,
sondern mehr denn je notwendig, von Deutschen und Juden zu sprechen,
wenn es um Fragen der kollektiven Erinnerung geht. In dieser Beziehung
kann es auch nach fünfzig Jahren keine Annäherung in Form einer
deutsch-jüdischen Bindestrichidentität geben. Anstatt immer wieder eine
„Normalität“ (gemäß welcher Norm eigentlich) einzufordern, wie sie
Dohnanyi in seinem Lapsus vom „Zentralrat der deutschen Juden“ bereits
konstatieren will, und wie sie Walser recht unbedarft mit seinem Ideal,
„sich ganz und gar zu assimilieren“ beschreibt, wäre es geraten, die
Juden auch als Juden zu akzeptieren.
Wenn man als Normalität auch ein Stück
bleibender Verschiedenheit akzeptieren kann, die nicht nur wie bei
Augstein in negativen Stereotypen ausgedrückt wird, dann würden
zumindest einige Mißverständnisse der gegenwärtigen Debatte aus dem Weg
geräumt. Sollte dies nicht gelingen, so wäre man wohl kaum weiter als
die Treitschkes und Mommsens vor über hundert Jahren.