Die
erhobenen Zahlen sind beeindruckend: 225.000 bis 250.000 Juden reisten
zwischen 1945 bis 1949 in drei großen Emigrationswellen aus Polen,
Rumänien und Ungarn gegen den Willen Grossbritanniens, einer der vier
Besatzungsmächte in Österreich, über Österreich nach Palästina. Eine
Zeitlang diente Österreich sogar als sichere Drehscheibe in beide
Richtungen: Rückkehrer und Auswanderer machten Zwischenstation in
Österreich, mit Wien als Hauptknotenpunkt und den in der US-Zone
liegenden Bundesländern Oberösterreich und Salzburg als Basen für die
Weiterreise nach Palästina. Als "Ironie der Geschichte" bezeichnet
Herausgeber Thomas Albrich, Assistenzprofessor am Institut für
Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, die Erkenntnis, daß
ausgerechnet jenes Land Österreich, aus dem ein großer Teil der
nationalsozialistischen Mörder stammte, zum ersten sicheren Asyl und zum
Ausgangspunkt für einen "Neuanfang nach den Schrecken der NS-Zeit"
wurde.
Einen entscheidenden Anteil am Gelingen der
langen und nur in den seltensten Fällen legalen Reise in die britische
Mandatszone hatte neben dem Joint und anderen Hilfsorganisationen die
Fluchthilfeorganisation "Bricha", die entlang der Flüchtlingsrouten ein
Netzwerk von Stützpunkten geschaffen hatte. Zahlreiche der vertriebenen
und entwurzelten Juden konnten nicht weiterreisen und verbrachten die
Zeit bis zu ihrer legalen Einwanderungsmöglichkeit ab Staatsgründung
Iraels als "Displaced Persons" (DPs) in DP-Camps. Die letzten jüdischen
Flüchtlinge haben Österreich erst Mitte der 50er Jahre, mit dem Ende der
Besatzung Österreichs durch die Allierten, verlassen.
Der Sammelband gibt einen umfassenden
Einblick in die vielfältigen Aspekte jüdischer Schicksale nach 1945, in
den makropolitischen Kontext der mitunter divergierenden amerikanischen,
britischen und sowjetischen Interessen, in die innenpolitischen
Vorgängen der Fluchtländer Polen, Ungarn und Rumänien, in die
ambivalente österreichische Position, in innerjüdische Konflikte sowie
in Auseinandersetzungen zwischen jüdischen DPs und der teilweise
antisemitischen lokalen Bevölkerung. Ebenso werden die Zusammenhänge und
das Funktionieren der zahlreichen zusammenwirkenden jüdischen
Organisationen aufgezeigt. Ein Beitrag über die Lager der Flüchtlinge in
Italien, der letzten Zwischenstation vor dem Ziel Palästina, rundet den
Rückblick auf diese für die Staatswerdung Israels so entscheidende
Epoche ab.
Die Geschichte des Exodus ist von vielen
individuellen Einzelschicksalen, von Verzweiflung, Krankheit, Abenteuer,
Hoffnung, und Neubeginn in Eretz Israel geprägt, viele der
Einzelschicksale sind aus Erzählungen längst bekannt. Das Verdienst der
Autorinnen und Autoren dieses Buches - unter ihnen auch der Kommandant
der Bricha in Österreich von 1945 - 1947 und spätere Generaldirektor im
Verteidigungsministerium, Asher Ben-Natan - ist es, diese Schicksale in
ihrer Vielfalt in den historischen Kontext einzubetten und die
vergessene jüdische Geschichte in der Zwischenphase - nach dem
Zusammenbruch des Nationalsozialismus und vor Gründung des Staates
Israel - ins Bewußtsein zu rücken. Eine Reihe von Photoabbildungen -
darunter Herzls posthumer "Exodus" nach Israel 1949 - illustrieren die
wissenschaftlichen und aus der persönlichen Erinnerung verfaßten
Beiträge. Der Sammelband zur Bricha ist zugleich der erste Band der
Österreich-Israel-Studien, die von den Leitern des Instituts für
Zeitgeschichte (Universität Innsbruck), des Institut für deutsche
Geschichte (Universität Tel Aviv) sowie des Koebner-Zentrums für
deutsche Geschichte (Hebräische Universität Jerusalem) herausgegeben
werden.