Christian Semler
Inge Deutschkron, israelisch-deutsche
Schriftstellerin und Journalistin, steckt uns mit ihren 75 Jahren, was
Vitalität und Geistesgegenwart anlangt, lässig in die Tasche. "Uns", das
sind die Achtundneunziger, Gymnasiasten der Tegeler Humboldt-Schule, und
zwei Achtundsechziger, nämlich der geschätzte Altersgenosse Peter Brandt
und ich.
Frühjahr 1998. Wir sind zusammen mit Inge
Deutschkron eingeladen worden, um das Generationsknäuel zu entwirren.
Gerade werden die üblichen Mißverständnisse über die Frage ausgetauscht,
wie revolutionär die Achtundsechziger waren und wie reaktionär die
Achtundneunziger eigentlich sind, als Inge Deutschkron ihren
Überraschungsangriff startet. Ganz nüchtern, ohne jeden Anflug von
Selbstmitleid, stellt sie fest, "wir" hätten damals den letzten Anstoß
dafür gegeben, daß sie Deutschland Richtung Israel verließ.
Vor einer erschrockenen Zuhörerschaft berichtet Inge
Deutschkron von einem Teach-in in Frankfurt 1967, kurz nach dem für
Israel erfolgreich verlaufenen Sechstagekrieg. Zwei Stunden lang sei der
israelische Botschafter Ben Nathan von einem 1.500köpfigen aufgewühlten
Auditorium daran gehindert worden, Israels Standpunkt darzulegen. Der
Sprechchor "Zionisten raus aus Israel" gab ihr, die die linke
Studentenbewegung in Deutschland von Anfang an unterstützt hatte, den
Rest. Sie packte die Koffer.
Die Umkehr der Fronten
Wie sollen wir, die beiden Achtundsechziger, auf
diese Erinnerung reagieren? Fest steht, daß der Sechstagekrieg im Laufe
weniger Monate das politische Terrain Westdeutschlands umgepflügt hatte.
Die radikale Linke schwenkte von vormals dezidiert proisraelischen
Positionen zu ebenso entschieden propalästinensischen. Die Konservativen
aber, die großen Verdränger und Verharmloser deutscher Schuld an dem
Judenmord, entdeckten ihr Herz für die siegreichen israelischen Krieger.
Diese Verkehrung der Fronten hat niemand mit
größerer Schärfe gebrandmarkt als die Journalistin Ulrike Meinhof. Im
für die Studentenbewegung wichtigen Blatt Konkret formulierte sie: "Bild
gewann in Sinai endlich, nach 25 Jahren, doch noch die Schlacht von
Stalingrad... Hätte man die Juden, statt sie zu vergasen, mit an den
Ural genommen, der Zweite Weltkrieg wäre anders ausgegangen."
Für die linken Studenten verschmolz ihr eigener
Kampf gegen die Notstandsgesetze und gegen den Springer-Konzern, ihre
Solidarität mit der vietnamesischen Befreiungsfront, ihre Unterstützung
der antikolonialen Kriege in Afrika zu einem einzigen, weltweiten
Szenario mit festgefügter Rollenverteilung. Die arabischen Völker und
ihre Befreiungsorganisationen (nicht ihre Regierungen) wurden in dieses
Koordinatensystem auf der revolutionären Kurve eingetragen.
Der Zusammenhang zwischen der Gründung des Staates
Israel und der Shoa, seine Rechtfertigung aus eben dieser Katastrophe,
war der Linken viele Jahre lang präsent gewesen. Jetzt, 1967, erklärte
der Sozialistische Deutsche Studentenbund: "Die Anerkennung des
Existenzrechts der in Israel lebenden Juden durch die
sozialrevolutionären Bewegungen in den arabischen Ländern darf nicht
identisch sein mit der Anerkennung Israels als Brückenkopf des
Imperialismus und als zionistisches Staatsgebilde."
Im Denken der Linken wurden die realen Probleme der
Juden in Israel weggespült von der imaginierten Welle weltweiter
sozialrevolutionärer Erhebungen. Das Problem Israel als konkreter
Widerspruch miteinander rivalisierender Rechte auf Selbstbestimmung
wurde in den weltrevolutionären Kontext katapultiert, quasi
exterritorialisiert. Damit war das Leitmotiv vorgegeben.
Heute hat Inge Deutschkron zwei Wohnsitze, einen in
Berlin, den anderen in Tel Aviv. Auch andere, die in späteren Jahren
verletzt und verzweifelt der Bundesrepublik gen Israel den Rücken
kehrten, sind wieder hier, munter und streitlustig.
Die bedingungslose Identifikation mit
palästinensischen Befreiungsbewegungen ist verschwunden. Bist du für
oder gegen das Oslo-Abkommen, für oder gegen den Verständigungskurs
"Land gegen Frieden", für oder gegen die Perspektive zweier Staaten,
Israel und Palästina - diese Fragen sind heute umstritten, aber nur in
Israel, nicht bei uns.
Ob Israel weiterhin ein exklusiv jüdisch
beherrschtes Unternehmen sein soll - eine Existenzfrage des politischen
Zionismus -, wird heute nicht mehr von deutschen Linksradikalen, sondern
von jüdischen "Postzionisten" diskutiert. Noch zu Anfang der achtziger
Jahre war der deutsch-israelische Philosoph Dan Diner ziemlich isoliert
gewesen, als er die Instrumentalisierung des Holocaust in Israel
verantwortlich machte dafür, daß die Machtelite jedem konkreten
Lösungsversuch des israelisch-palästinensischen Komplexes auswich.
Heute hat der israelische Historiker Moshe
Zuckermann keine Bedenken, eben diese Indienstnahme während des
Golfkriegs anzugreifen. Und Inge Deutschkron trägt ihren Abscheu vor der
Unerbittlichkeit des religiösen Zionismus auch beim Gespräch in
Berlin-Tegel vor. Also: Haben die verbliebenen Linken aus ihren
Irrtümern gelernt? Ist das Problem dort gelandet, wo es hingehört? Ist
also alles normalisiert?
Nicht ganz.
Denn eine wichtige Frage bleibt ungeklärt. War der linke Antizionismus vom
Antisemitismus angekränkelt? Und, falls ja, haben sich die Linken über
diese Gefahr so verständigt, daß ein erneuter Rückfall unwahrscheinlich
erscheint? Natürlich waren selbst die militantesten Aktivisten der
Palästina-Solidarität nicht antisemitisch in dem Sinne, daß sie die
immerwährenden Vorurteile aufgenommen und transportiert hätten.
Sie glaubten weder an eine jüdische Weltverschwörung
noch an den "zersetzenden" Geist jüdischer Intellektueller, noch an ihre
überwältigende Geschäftstüchtigkeit oder an welches der Stereotypen auch
immer. Es geht vielmehr um eine Gedankenwelt, die den Mord an den
europäischen Juden auslöscht durch die Inflationierung und
Trivialisierung der Begriffe, die ihn benennen und erklären.
Schon auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung hatte
ein gänzlich entleerter, weil inflationär benutzter Faschismusbegriff
die spezifische, mörderische Bedeutung des deutschen Nationalsozialismus
verdunkelt.
Libanon
Ähnlich erging es, zuletzt während des israelischen
Angriffs auf den Libanon 1982, diesem Völkermord selbst. Schon zu Beginn
der Invasion trug beispielsweise der Fachredakteur der taz keine
Bedenken, von einem "Vernichtungskrieg der Israelis gegen die
Palästinenser" im Libanon zu sprechen, ganz als habe er die
Kriegsmaschine des Deutschen Reiches nach dem Überfall auf die
Sowjetunion vor Augen. Vom "Ausrottungsfeldzug" war einen Tag später die
Rede und davon, daß sich die Absicht der Israelis zum Völkermord kaum
noch verbergen lasse.
Ihre Apotheose fand diese Art von Einschätzungen im
Kommentar des gleichen Autors mit dem signifikanten Titel "Umgekehrter
Holocaust", in dem dargelegt wurde, daß Millionen von Israelis den mit
"rassistischer Perfektion" verübten "Völkermord" an den Palästinensern
billigten.
An dem hier nachgezeichneten Syndrom ist
dreierlei bemerkenswert: Die angreifenden Israelis werden als Nazis
kostümiert, durch welche Verschiebung der Mord an den Juden zu einem
bloßen Ereignis in der Nachtgeschichte des Imperialismus herabgedrückt
wird. Das Resultat ist das ersehnte Entlastungserlebnis.
Damit aber dieses Manöver funktionieren kann, muß
jeder politische Differenzierungsprozeß in Israel angesichts des
Überfalls auf den Libanon geleugnet werden, damit die Gleichung
"Jude=Israeli=Nazi" funktioniert. Zur Ehre dieser Zeitung muß
klargestellt werden, daß in den folgenden Wochen um diese Positionen ein
breiter Meinungskampf ausgefochten wurde, dessen aufklärerische Wirkung
über den Leserkreis der taz hinausreichte. Worüber aber keine Klarheit
erzielt werden konnte, ist jene entlastende Psychodynamik, mit deren
Hilfe man die Opfer zu Tätern machte und sich selbst von Verantwortung
freisprach.
Gas
Der Golfkrieg im Januar 1991 stellte die
Traditionslinke und die junge Friedensbewegung erneut auf den Prüfstand.
Wieder wurde gegen einen hochstilisierten, imaginären Feind gestritten:
die "Neue Weltordnung" unter Führung der USA. Diesmal erscheint Israel
nicht als aggressiver Juniorpartner, das ist vorbei. Aber seine Rolle
als potentielles Opfer der Raketen Saddams wird großzügig übersehen -
wie auch die (illegale) Ausrüstung irakischer Fabriken zur Herstellung
von Giftgas nur pflichtschuldigen Protest auslöst. An die Stelle
früherer Leidenschaftlichkeit treten kaltes Vernünfteln und Vorsicht bei
der Wortwahl.
Engagement am falschen Ort hat sich in
Überdruß gewandelt - und in Desinteresse. Insofern unterscheiden sich
die Linken, Alternativen und Grünen heute nicht mehr von der
Bevölkerungsmehrheit in Deutschland.
Lektürehinweise:
Martin W. Kloke: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines
schwierigen Verhältnisses. Verlag Haag & Herchen, Frankfurt a. M. 1994;
Dietrich Wetzel (Hrsg.): Die Verlängerung von Geschichte. Deutsche Juden
und der Palästinakonflikt, Verlag Neue Kritik, Frankfurt a. M. 1983;
Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen
Kulturen Israels und Deutschlands, Wallstein-Verlag, Göttingen 1998;
Ästhetik und Kommunikation: Deutsche, Linke, Juden, Heft 51, Berlin 1983;
die tageszeitung - Ausgaben vom Juni bis August 1982 (nachlesbar im
taz-Archiv)
50 Jahre Israel Magazin - TAZ-Bericht
Christian Semler
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