Noch immer keine Klarheit:
Pogrom von Kielce ist auch nach 52 Jahren ungeklärt
Am 4. Juli 1946 wurden in der polnischen Stadt Kielce über vierzig
polnische Juden ermordet und weitere achtzig Überlebende des Holocaust
verletzt. Unter den Opfern waren auch zwei nichtjüdische Polen, die den
Angegriffenen zur Hilfe geeilt waren. Das Pogrom von Kielce gilt als der
bekannteste Übergriff von Zivilisten auf jüdische Personen nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs und hatte eine massive jüdische Emigrationswelle
aus Polen zur Folge.
Die Rolle der staatlichen kommunistischen Stellen bei diesem Pogrom ist
bis zum heutigen Tage nicht geklärt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs
lebten in Kielce keine Juden mehr. Die jüdischen Einwohner der Stadt
waren entweder von den Deutschen in Konzentrationslager verschleppt
worden oder geflohen. Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee kehrten nach
und nach etwa zweihundert jüdische Einwohner nach Kielce zurück. Die
meisten von ihnen lebten nach ihrer Rückkehr in einem einzigen Gebäude.
Am 4. Juli 1946 kam es zu anti-jüdischen Protesten vor dem Haus.
Auslöser dafür waren judenfeindliche Gerüchte eines Ritualmords, die auf
jahrhundertelang propagierte
Ritualmord-Legenden des christlichen Antijudaismus im
Mittelalter Bezug nahmen. Angehörige der Polizei betraten unter
Waffengewalt das Gebäude. Als die Bewohner auf die Straße flüchteten,
wurden sie vom polnischen Mob angegriffen. Zwei Polen, die ihnen zur
Hilfe eilten, wurden ebenfalls ermordet.
Die Überlebenden des Pogroms flohen zum Teil nach Westdeutschland in die
Amerikanische Besatzungszone, wo sie als so genannte Displaced Persons
(DPs) vorübergehend Aufnahme in amerikanischen DP-Camps fanden. In den
nachfolgenden Monaten verließen mehrere zehntausend Juden das Land.
Die Ereignisse wurden im Film "Von Hölle zu Hölle" thematisiert.
Nach dem Mord machten es sich die damaligen kommunistischen
Machthaber einfach. In einem Schnellprozeß ließen sie neun willkürlich
herausgegriffene Personen für den schlimmsten antijüdischen Pogrom nach
dem Zweiten Weltkrieg zum Tode verurteilen. Doch auch die seit der Wende
von 1989 demokratische Justiz tut sich bis heute schwer damit, eines der
dunkelsten Kapitel der polnischen Nachkriegsgeschichte aufzuklären. 52
Jahre nach dem Massaker ist ein Ende der Ermittlungen nicht abzusehen.
Dabei hatte die zuständige «Hauptkommission zur Aufklärung von
Verberechen gegen die polnische Nation» in Warschau nach fünfjähriger
Arbeit im vergangenen Herbst einen Abschlußbericht vorgelegt. Der
Staatsanwaltschaft in Kielce empfahl die Einleitung von Verfahren gegen
vier damalige Funktionäre der Sicherheitsorgane.
Ihnen wirft die Kommission vor, das Blutbad in krimineller
Passivität nicht verhindert zu haben. Doch statt die Beschuldigten vor
Gericht zu bringen, schickte der Staatsanwalt in Kielce die Unterlagen
zurück nach Warschau.
Die Begründung: Nicht alle Spuren und möglichen Hintergründe
des Pogroms seien von der Hauptkommission untersucht worden. Sechs
Varianten sollen nach dem Willen der Staatsanwaltschaft nun geprüft
werden. Dabei soll auch die Möglichkeit untersucht werden, ob die
blutigen Ereignisse nicht von Juden selbst provoziert wurden, um die 200
000 Holocaust-Überlebenden in Polen zur Ausreise nach Palästina zu
bewegen.
Der Leiter der Hauptkommission, Witold Kulesza, findet solche
Spekulationen empörend. «Das ist ein großer Blödsinn. Das kann man nur
mit einer Psychose erklären», sagte er der Deutschen Presse-Agentur
(dpa).
Was am 4. Juli 1946 im bis dahin so unauffälligen
Provinzstädtchen Kielce geschah, das halten viele Polen bis heute nur
mit Verschwörungstheorien für erklärlich: Ein als vermißt gemeldeter
achtjähriger Junge taucht nach einigen Tagen wieder auf. Offenbar von
seinem Vater angestiftet, erzählt er der Miliz die Lüge, er sei von
Juden in der Planty-Straße in einem Keller festgehalten worden.
Die Ordnungshüter halten das für glaubwürdig, machen sich mit dem Kind
auf den Weg zu einem Haus in der Planty-Straße, in dem etwa 100 Juden
wohnen. Unterwegs erzählen sie Passanten, Juden hätten das Kind
entführt.
Vor Ort stellen die Polizisten fest, dass das Haus gar keinen
Keller hat.
Doch da hat sich vor dem Gebäude schon eine große Menschenmenge
versammelt, die den Juden Ritualmorde an christlichen Kindern vorwirft.
Schließlich fallen Schüsse, der Mob stürmt ungehindert ins
Haus. Die Bewohner, alle gerade dem Holocaust entronnen, werden
erschossen, erschlagen und aus den Fenstern geworfen. An dem mehrere
Stunden dauernden Massaker beteiligen sich auch Soldaten. Weltweit wird
Kielce zum Symbol für Antisemtismus, der den nationalsozialistischen
Völkermord überdauert hat.
Die kommunistische Propaganda verbreitete zunächst,
nationalistische Gruppen hätten den Pogrom angezettelt, erklärte das
heikle Thema aber rasch zum Tabu. Erst nach der Wende von 1989 wurden
wieder Ermittlungen aufgenommen.
Diese sollten vor allem der Vermutung nachgehen, daß der
kommunistische Staatsapparat das Massaker inszenierte, um daraus
politisches Kapital zu schlagen. Nach der Befragung von 130 Zeugen
konnte die Hauptkommission aber keine Beweise für eine Provokation durch
den sowjetischen oder polnischen Geheimdienst finden.
Die Vorstellung, das Pogrom von Kielce könnte ganz einfach das
Werk der einfachen Leute der Stadt gewesen sein, schien nicht nur der
dortigen Staatsanwaltschaft unakzeptabel.
Die national-konservative Zeitung «Zycie» veranlaßte das
Untersuchungsergebnis zur Vermutung, da habe wohl jemand Angst vor der
Aufklärung der wahren Hintergründe. Das katholische «Radio Maryja»
setzte gar das Gerücht in die Welt, in einigen der Särge der
Kielce-Opfer sei in Wirklichkeit nur Sand gewesen.
Für die nicht enden wollende Suche nach Verschwörern und
Provokateuren hat die angesehene polnische Historikerin Krystyna Kersten
kein Verständnis. In «antijüdischen Vorurteilen, Phobien und
Ressentiments» sieht sie den wirklichen Hintergrund des Pogroms.
«Damit es zu einem Ausbruch der Agression und Gewalt in diesem
Ausmaß kommen konnte, mußte ein entsprechendes gesellschaftliches Klima
herrschen. Aus dieser Sicht ist es zweitrangig, ob die erfundene
Geschichte von der Entführung eines Jungen durch die Juden im Kopf des
Vaters, der Nachbarn oder aufgrund irgendeiner Anweisung entstanden
ist.»
wiki-dpa
haGalil onLine - 07-98 |