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Dieser Artikel aus der Berliner Zeitung gehört unserer Meinung nach zum Besten, was seit Sachsen-Anhalt zu diesem Thema geschrieben wurde.

Rechtsradikalismus mit Zukunft

Noch einmal zu Sachsen-Anhalt:
Über die sozialen Ursachen einer neuen Bewegung

von Artur Meier

Der Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt hat auch sein Gutes. Anders als bei den rechtsextremen Gewalttaten auf offener Straße oder den rechtsradikalen Exzessen hinter Kasernenmauern, die sich meistens noch als Einzelereignisse besorgt kommentieren und von interessierter Seite herunterspielen ließen, wird hier eine Strömung erkennbar, die eine tiefergehende Erklärung fordert. Vor allem schon deshalb, weil zu befürchten ist, daß sie seit längerem untergründig existiert und sich fortan immer stärker öffentlich artikulieren wird.

Die Politiker zeigen sich überrascht und bestürzt. Die Sozialwissenschaftler verbergen ihre Ratlosigkeit hinter zumeist oberflächlichen Erklärungsversuchen, wobei besonders die Geschichte herhalten muß, oft die Sozialisation in der DDR. Das gilt auch für einige Literaten, so etwa, wenn der hochgeschätzte Stefan Heym beim Nachdenken über die Wahl in Sachsen-Anhalt "die Rückkehr der Gespenster" sieht, verwurzelt im braungetönten Ungeist, der in West- und Ostdeutschland nie eliminiert worden sei. Solche Erklärungen greifen zu kurz, weil sie so stark auf die Vergangenheit und auf mentale Faktoren rekurrieren. Die Ursachen für das Erstarken des Rechtsradikalismus sind weitaus mehr in der Gegenwart zu suchen. Sie sind in erster Linie nicht ideologischer, sondern sozialer Natur.

Keine Gesinnungstäter

Die Rechtsradikalen-Wähler in Sachsen-Anhalt sind keine Gesinnungstäter. Bei den Wahlen, dem "Rummelplatz des kleinen Mannes" (Tucholsky), konnten sie hingegen endlich einmal ihrem aufgestauten Unmut Ausdruck verleihen. Ihr Rechtsruck ist ein Zeichen der Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen. Wohin auch sollten sie rücken, wenn sie den etablierten Parteien, die PDS im Osten ebenfalls schon längst dazugehörig, einen Denkzettel verpassen wollten? Ihr legales Verhalten ist mehr als nur eine politische Provokation. Es ist der unüberhörbare soziale Protest infolge einer lang anhaltenden Krisensituation.

Regional ist die Arbeitslosigkeit auf 25-30 Prozent gestiegen. "Arbeitsmarktentlastende" Maßnahmen können nichts daran ändern, daß fast schon die Hälfte der ehedem Erwerbstätigen nicht mehr regelmäßig in Lohn und Brot ist. Ganze Landstriche veröden. Die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, steigt enorm. Das Ausbildungsrisiko ist trotz sozialstaatlicher Gegensteuerung ebenfalls dramatisch angewachsen. Und von den Ausgebildeten wird einem immer größer werdenden Teil von Jugendlichen der Eintritt in den Arbeitsmarkt verwehrt. Kein Wunder, daß sich bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern, besonders unter der Jugend, Hoffnungslosigkeit und eine kollektive Proteststimmung breitmachen.

Wir verfügen über zuverlässige Daten über Landjugendliche und deren Familien in typischen Regionen Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommerns. Anders als bei demoskopischen Umfragen erlauben sie tiefe Einblicke in Lebensbedingungen, Wertvorstellungen und Lebenspläne, in unseren soziologischen Untersuchungen sogar einen historisch-kulturellen Vergleich zwischen der Lage in den gleichen Landkreisen in den Jahren 1980 und 1995. Im Vergleich zur DDR-Vergangenheit geht es den Jugendlichen heute viel stärker ums Geldverdienen. Dagegen hat ihr politisches Interesse nachweisbar abgenommen. Auf die neuen, veränderten Lebensumstände reagieren sie nach einem überkommenen Muster: möglichst guter Schulabschluß, zügige Fachausbildung als Lehrling oder Student, frühzeitige Ausübung eines qualifizierten Berufes. In der DDR waren Lebenswege hochgradig vorgeschrieben, aber auch sozial gesichert und mit gesetzlichen Garantien ausgestattet. Heute sind die sozialen Risiken viel zu groß. Die Enttäuschung ist programmiert. Ein großer Teil der interviewten Eltern hat sie schon erfahren. Von fünf Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft sind innerhalb von nur drei Jahren vier vernichtet worden; außerdem im industriellen Gewerbe jeder zweite. Gefragt nach den stärksten Einschnitten in ihr Familienleben nach der Wende, nennen die Erwachsenen an erster Stelle den Verlust oder die ständige Sorge um den Arbeitsplatz und an zweiter Stelle die rapide Abnahme ihrer sozialen Kontakte.

Kürzlich haben wir eine Untersuchung unter arbeitslosen Fortbildungs- und Umschulungsteilnehmern abgeschlossen, repräsentativ für alle neuen Bundesländer. Die Weiterbildung genießt eine überraschend breite soziale Akzeptanz, aber die Teilnehmer verlieren immer mehr den Glauben an ihre Arbeitsmarktchancen. Dennoch halten sie hartnäckig an ihrem Kernanspruch auf eine Erwerbsarbeit fest - ob Alt oder Jung, ob Mann oder Frau. Es ist intellektueller Hochmut, den Ostdeutschen nachzusagen, sie hätten ja so ziemlich alles, nur nicht das nötige Selbstbewußtsein, wie Monika Maron es in ihrem Beitrag für die "Berliner Zeitung" getan hat.

Meinungsforscher sagen weitere Wahlerfolge der Rechtsradikalen voraus. Wahlforscher beschreiben den Prototyp des Wählers, der sich von den plumpen, aber griffigen Parolen rechtsextremistischer Parteien leicht einfangen läßt: jung, männlich, zumeist wenig qualifiziert und arbeitslos, auf dem Lande oder in städtischen Wohnsilos zu Hause. Manche Politiker halten das Ganze nur für einen vorübergehenden Trend. Derartige "Wellen" hätte es ja in der alten Bundesrepublik schon des öfteren gegeben. Diese Selbstgefälligkeit signalisiert einen bedenklichen Realitätsverlust. Der heutige Rechtsextremismus droht sich immer mehr in unseren Alltag einzunisten. Fast 50 000 Rechtsextremisten in 1997, Tendenz steigend, das kann sich sehen lassen. Vorneweg die Neonazis, gewiß noch ohne eigene Massenbasis, aber allen Verboten trotzend, kampfstark und tatsächlich: jung, männlich, wenig qualifiziert und häufig arbeitslos. Dazu noch mit Wut im Bauch, Kameraderie im Herzen und dem Glauben an ein besseres, ein sauberes Deutschland im vernebelten Gehirn. Aufgewachsen und politisch aktiv geworden, das verdient festgehalten zu werden, in der neuen Bundesrepublik.

Nicht nur Neonazis

Dennoch, der heutige Rechtsradikalismus läßt sich nicht auf seine neonazistischen Auswüchse reduzieren. Die Psychologie des Kampfes gegen soziales Unrecht und ausländische Überfremdung, letztere mehr in wirtschaftlicher als in kultureller Hinsicht verstanden, hat eine viel breitere Basis unter den Neu- und Altbundesbürgern, als man gemeinhin annimmt. Aus den 70er und 80er Jahren kennen wir die Neuen Sozialen Bewegungen, beispielsweise die Friedens- oder Antiatomkraftbewegung, mehr oder weniger auf der Linken. Heute steht zu befürchten, daß sich angesichts der neuen sozialen Frage eine solche auf der Rechten zu bilden im Begriff ist. Weil die bürgerliche Mitte sich mit den sozialen Krisenopfern abgefunden hat und es an wirksamen linken Alternativen fehlt, vermag der Rechtspopulismus sich der massenhaft vorhandenen Sehnsucht nach einfachen Lösungen zu bedienen. Themen und Aufputz dieser schillernden Bewegung mögen althergebracht erscheinen oder auch von Fall zu Fall wechseln; ihr schnelles Ende zu erhoffen aber könnte sich als ein verhängnisvoller Irrtum erweisen.

Unsere nächsten Nachbarn Frankreich und Österreich sind da nicht besser dran, eher sogar schlechter. Die Analogien zu Frankreich liegen auf der Hand: Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus gehören zum Standardrepertoire der "Nationalen Front", ohne die heute schon ganze Landesteile und einzelne Großstädte nicht mehr regiert werden können. Es gibt aber einen großen Unterschied zu uns: Frankreichs Intellektuelle ergreifen Partei und können sich auf demokratische Gegenbewegungen stützen. Mein alter Lehrer und Freund Pierre Bourdieu, heute wohl der bedeutendste Soziologe weltweit, solidarisierte sich mit den streikenden Arbeitern und unterstützt tatkräftig die Arbeitslosenbewegung. Von den sozialen Bewegungen auf der "wirklichen Linken" erhofft er die wahren Antworten, wie ein "wilder, ursprünglicher Kapitalismus im neuen Gewand" wieder sozialpolitisch in die Schranken gewiesen werden kann. Andere Intellektuelle appellieren an die Regierung und erwarten vom Staat eine wirkungsvolle Politik zugunsten der sozial Benachteiligten.

Es gehört zur Verantwortung des Intellektuellen, die sozialen Folgen des heutigen globalen Modernisierungsschubs nicht kritiklos hinzunehmen. Dessen soziale Kosten sind viel zu hoch, als daß man ihnen gegenüber unaufgeregt bleiben und den rechten Radikalismus nur als Kinderkrankheit der Globalisierung abtun könnte. Vom gegenwärtigen internationalen Kapitalismus gehen Gefahren für die soziale Marktwirtschaft und am Ende auch für die zivile Gesellschaft aus. Letztlich erzeugt er die sozialen Probleme, von denen ein rechter Radikalismus so stark profitiert. Das Soziale der Marktwirtschaft und das Zivile der Gesellschaft verdienen, auch mit geistigen Waffen verteidigt zu werden - und dies gleichfalls im internationalen Maßstab.

Der Autor lehrte bis 1997 Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin. Die erwähnten Forschungen wurden in den Büchern "Die letzte Generation?" und "Weiterbildungsnutzen" (trafo Verlag Berlin) publiziert.

Zum Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt sind in der bz.gif (874 Byte) bisher Beiträge von Stefan Heym (6. Mai), Monika Maron (9. Mai) und Jan Roß (11. Mai) erschienen.

haGalil onLine: Dezember 2013

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