Die Politiker zeigen sich überrascht und bestürzt.
Die Sozialwissenschaftler verbergen ihre Ratlosigkeit hinter zumeist
oberflächlichen Erklärungsversuchen, wobei besonders die Geschichte
herhalten muß, oft die Sozialisation in der DDR. Das gilt auch für
einige Literaten, so etwa, wenn der hochgeschätzte Stefan Heym beim
Nachdenken über die Wahl in Sachsen-Anhalt "die Rückkehr der Gespenster"
sieht, verwurzelt im braungetönten Ungeist, der in West- und
Ostdeutschland nie eliminiert worden sei. Solche Erklärungen greifen zu
kurz, weil sie so stark auf die Vergangenheit und auf mentale Faktoren
rekurrieren. Die Ursachen für das Erstarken des Rechtsradikalismus sind
weitaus mehr in der Gegenwart zu suchen. Sie sind in erster Linie nicht
ideologischer, sondern sozialer Natur.
Keine Gesinnungstäter
Die Rechtsradikalen-Wähler in Sachsen-Anhalt
sind keine Gesinnungstäter. Bei den Wahlen, dem "Rummelplatz des kleinen
Mannes" (Tucholsky), konnten sie hingegen endlich einmal ihrem
aufgestauten Unmut Ausdruck verleihen. Ihr Rechtsruck ist ein Zeichen
der Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen. Wohin auch sollten
sie rücken, wenn sie den etablierten Parteien, die PDS im Osten
ebenfalls schon längst dazugehörig, einen Denkzettel verpassen wollten?
Ihr legales Verhalten ist mehr als nur eine politische Provokation. Es
ist der unüberhörbare soziale Protest infolge einer lang anhaltenden
Krisensituation.
Regional ist die Arbeitslosigkeit auf 25-30 Prozent
gestiegen. "Arbeitsmarktentlastende" Maßnahmen können nichts daran
ändern, daß fast schon die Hälfte der ehedem Erwerbstätigen nicht mehr
regelmäßig in Lohn und Brot ist. Ganze Landstriche veröden. Die Zahl der
Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, steigt enorm. Das
Ausbildungsrisiko ist trotz sozialstaatlicher Gegensteuerung ebenfalls
dramatisch angewachsen. Und von den Ausgebildeten wird einem immer
größer werdenden Teil von Jugendlichen der Eintritt in den Arbeitsmarkt
verwehrt. Kein Wunder, daß sich bei vielen Menschen in den neuen
Bundesländern, besonders unter der Jugend, Hoffnungslosigkeit und eine
kollektive Proteststimmung breitmachen.
Wir verfügen über zuverlässige Daten über
Landjugendliche und deren Familien in typischen Regionen Sachsen-Anhalts
und Mecklenburg-Vorpommerns. Anders als bei demoskopischen Umfragen
erlauben sie tiefe Einblicke in Lebensbedingungen, Wertvorstellungen und
Lebenspläne, in unseren soziologischen Untersuchungen sogar einen
historisch-kulturellen Vergleich zwischen der Lage in den gleichen
Landkreisen in den Jahren 1980 und 1995. Im Vergleich zur
DDR-Vergangenheit geht es den Jugendlichen heute viel stärker ums
Geldverdienen. Dagegen hat ihr politisches Interesse nachweisbar
abgenommen. Auf die neuen, veränderten Lebensumstände reagieren sie nach
einem überkommenen Muster: möglichst guter Schulabschluß, zügige
Fachausbildung als Lehrling oder Student, frühzeitige Ausübung eines
qualifizierten Berufes. In der DDR waren Lebenswege hochgradig
vorgeschrieben, aber auch sozial gesichert und mit gesetzlichen
Garantien ausgestattet. Heute sind die sozialen Risiken viel zu groß.
Die Enttäuschung ist programmiert. Ein großer Teil der interviewten
Eltern hat sie schon erfahren. Von fünf Arbeitsplätzen in der
Landwirtschaft sind innerhalb von nur drei Jahren vier vernichtet
worden; außerdem im industriellen Gewerbe jeder zweite. Gefragt nach den
stärksten Einschnitten in ihr Familienleben nach der Wende, nennen die
Erwachsenen an erster Stelle den Verlust oder die ständige Sorge um den
Arbeitsplatz und an zweiter Stelle die rapide Abnahme ihrer sozialen
Kontakte.
Kürzlich haben wir eine Untersuchung unter
arbeitslosen Fortbildungs- und Umschulungsteilnehmern abgeschlossen,
repräsentativ für alle neuen Bundesländer. Die Weiterbildung genießt
eine überraschend breite soziale Akzeptanz, aber die Teilnehmer
verlieren immer mehr den Glauben an ihre Arbeitsmarktchancen. Dennoch
halten sie hartnäckig an ihrem Kernanspruch auf eine Erwerbsarbeit fest
- ob Alt oder Jung, ob Mann oder Frau. Es ist intellektueller Hochmut,
den Ostdeutschen nachzusagen, sie hätten ja so ziemlich alles, nur nicht
das nötige Selbstbewußtsein, wie Monika Maron es in ihrem Beitrag für
die "Berliner Zeitung" getan hat.
Meinungsforscher sagen weitere Wahlerfolge der
Rechtsradikalen voraus. Wahlforscher beschreiben den Prototyp des
Wählers, der sich von den plumpen, aber griffigen Parolen
rechtsextremistischer Parteien leicht einfangen läßt: jung, männlich,
zumeist wenig qualifiziert und arbeitslos, auf dem Lande oder in
städtischen Wohnsilos zu Hause. Manche Politiker halten das Ganze nur
für einen vorübergehenden Trend. Derartige "Wellen" hätte es ja in der
alten Bundesrepublik schon des öfteren gegeben. Diese Selbstgefälligkeit
signalisiert einen bedenklichen Realitätsverlust. Der heutige
Rechtsextremismus droht sich immer mehr in unseren Alltag einzunisten.
Fast 50 000 Rechtsextremisten in 1997, Tendenz steigend, das kann sich
sehen lassen. Vorneweg die Neonazis, gewiß noch ohne eigene Massenbasis,
aber allen Verboten trotzend, kampfstark und tatsächlich: jung,
männlich, wenig qualifiziert und häufig arbeitslos. Dazu noch mit Wut im
Bauch, Kameraderie im Herzen und dem Glauben an ein besseres, ein
sauberes Deutschland im vernebelten Gehirn. Aufgewachsen und politisch
aktiv geworden, das verdient festgehalten zu werden, in der neuen
Bundesrepublik.
Nicht nur Neonazis
Dennoch, der heutige Rechtsradikalismus läßt
sich nicht auf seine neonazistischen Auswüchse reduzieren. Die
Psychologie des Kampfes gegen soziales Unrecht und ausländische
Überfremdung, letztere mehr in wirtschaftlicher als in kultureller
Hinsicht verstanden, hat eine viel breitere Basis unter den Neu- und
Altbundesbürgern, als man gemeinhin annimmt. Aus den 70er und 80er
Jahren kennen wir die Neuen Sozialen Bewegungen, beispielsweise die
Friedens- oder Antiatomkraftbewegung, mehr oder weniger auf der Linken.
Heute steht zu befürchten, daß sich angesichts der neuen sozialen Frage
eine solche auf der Rechten zu bilden im Begriff ist. Weil die
bürgerliche Mitte sich mit den sozialen Krisenopfern abgefunden hat und
es an wirksamen linken Alternativen fehlt, vermag der Rechtspopulismus
sich der massenhaft vorhandenen Sehnsucht nach einfachen Lösungen zu
bedienen. Themen und Aufputz dieser schillernden Bewegung mögen
althergebracht erscheinen oder auch von Fall zu Fall wechseln; ihr
schnelles Ende zu erhoffen aber könnte sich als ein verhängnisvoller
Irrtum erweisen.
Unsere nächsten Nachbarn Frankreich und Österreich
sind da nicht besser dran, eher sogar schlechter. Die Analogien zu
Frankreich liegen auf der Hand: Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus
gehören zum Standardrepertoire der "Nationalen Front", ohne die heute
schon ganze Landesteile und einzelne Großstädte nicht mehr regiert
werden können. Es gibt aber einen großen Unterschied zu uns: Frankreichs
Intellektuelle ergreifen Partei und können sich auf demokratische
Gegenbewegungen stützen. Mein alter Lehrer und Freund Pierre Bourdieu,
heute wohl der bedeutendste Soziologe weltweit, solidarisierte sich mit
den streikenden Arbeitern und unterstützt tatkräftig die
Arbeitslosenbewegung. Von den sozialen Bewegungen auf der "wirklichen
Linken" erhofft er die wahren Antworten, wie ein "wilder, ursprünglicher
Kapitalismus im neuen Gewand" wieder sozialpolitisch in die Schranken
gewiesen werden kann. Andere Intellektuelle appellieren an die Regierung
und erwarten vom Staat eine wirkungsvolle Politik zugunsten der sozial
Benachteiligten.
Es gehört zur Verantwortung des Intellektuellen, die
sozialen Folgen des heutigen globalen Modernisierungsschubs nicht
kritiklos hinzunehmen. Dessen soziale Kosten sind viel zu hoch, als daß
man ihnen gegenüber unaufgeregt bleiben und den rechten Radikalismus nur
als Kinderkrankheit der Globalisierung abtun könnte. Vom gegenwärtigen
internationalen Kapitalismus gehen Gefahren für die soziale
Marktwirtschaft und am Ende auch für die zivile Gesellschaft aus.
Letztlich erzeugt er die sozialen Probleme, von denen ein rechter
Radikalismus so stark profitiert. Das Soziale der Marktwirtschaft und
das Zivile der Gesellschaft verdienen, auch mit geistigen Waffen
verteidigt zu werden - und dies gleichfalls im internationalen Maßstab.
Der Autor lehrte bis 1997 Soziologie
an der Humboldt-Universität Berlin. Die erwähnten Forschungen wurden in
den Büchern "Die letzte Generation?" und "Weiterbildungsnutzen" (trafo
Verlag Berlin) publiziert.
Zum Wahlerfolg der DVU in
Sachsen-Anhalt sind in der
bisher Beiträge von Stefan Heym (6. Mai), Monika Maron (9. Mai) und Jan
Roß (11. Mai) erschienen.