Konstanty Gebert, Sie stammen aus
einer völlig assimilierten Familie. Wie haben Sie zurück zum Judentum
gefunden? Wußten Sie immer, daß Sie Jude sind?
Ja, aber ich habe erst spät begriffen, daß es
wichtig ist . Die Eltern waren Kommunisten, und es ist ganz einfach ein
biographischer Zufall, daß ich Jude bin. Zuhause war das kein Thema. Es
war kein Tabu, aber die Herkunft spielte überhaupt keine Rolle. Und dann
kam das Jahr 1968, die von der Regierung geschürten antisemitischen
Ausschreitungen, die Säuberungen in der Partei und an den Universitäten.
Ich war damals 15 Jahre alt, wurde verprügelt, flog von der Schule. Da
wurde mir klar, daß die Herkunft doch wichtig ist.
Ihr Schlüsselerlebnis war also der
März 1968?
In gewissem Sinne ja. Aber der März 1968 war das
Schlüsselerlebnis einer ganzen Generation. Er betraf ja auch die
Intelligenz: die Studenten an den Universitäten. Der März 1968
erschütterte nachhaltig das naive Gefühl, daß die Herkunft unwichtig
sei. Viele meiner Freunde und Bekannten emigrierten.
Und Ihre Eltern? Dachten die nicht
an Emigration?
Meine Eltern waren viel zu stolz, als daß sie sich
aus ihrem Vaterland hätten werfen lassen. Und ich war zu jung.
Und später?
Ich bin ein schlechter Patriot. Das heißt, ich
reagiere emotional nicht auf Flaggen und Hymnen. Was mir wichtig ist,
sind meine Familie und meine Freunde. Fast alle Menschen, die ich liebe,
leben in diesem Land. Und das ist für mich Grund genug, gerne in Polen
zu leben.
Wie ging es nach dem März 1968
weiter?
Der März war wichtig, aber nicht ausschlaggebend.
Er hat uns ja nichts gegeben. Er war rein negativ. Deswegen zögere ich,
diesen Alptraum ein "Schlüsselerlebnis" zu nennen. Schlüsselerfahrungen
haben wir später gemacht, als wir schon älter und reifer waren, in den
70er Jahren.
Zum Beispiel?
Wir haben uns in der demokratischen Opposition
engagiert. Eine Gruppe junger und assimilierter Juden fand sich zusammen
und gründete die Jüdische Fliegende Universität. Dort haben wir Vorträge
gehalten und gehört, unser Wissen über das Judentum vertieft. Das war
schon eher ein Schlüsselerlebnis. Der März 1968 hatte uns nur bewiesen,
daß es sinnlos war, sich etwas vorzumachen. Aber nicht alle aus dieser
Generation haben diesen Schluß gezogen. Adam Michnik zum Beispiel, der
damals von der Universität flog, sagt heute: "Ich werde solange meine
jüdische Herkunft betonen, wie es den Antisemitismus gibt." Das kann ich
nicht akzeptieren. Jeder anständige Mensch sollte gegen den
Antisemitismus protestieren, sei er nun Jude, Araber oder
Papua-Eingeborener. Die eigene Identität ist doch etwas Positives. Sie
hat einen Inhalt. Es ist für mich völlig unvorstellbar, daß der Haß
Anderer zu meiner Identität wird.
Wie haben Ihre Eltern darauf
reagiert, daß Sie sich wieder dem Judentum annäherten?
Meine Mutter war entsetzt. Zuerst fürchtete sie,
daß mir etwas geschehen könnte, wenn ich als Jude identifiziert würde.
Sie empörte sich aber auch darüber, daß ein so kluger jüdischer Junge
einem solchen Aberglauben anhängen konnte. Später fürchtete sie nur noch
um meine Kinder. Sie sagte: "Das ist dein Leben. Damit kannst du machen,
was du willst. Aber mit welchem Recht bringst du die Kinder in Gefahr?"
Ich verstehe diese Angst. Mama ist eine von vier Personen aus einer
insgesamt 250köpfigen Familie, die die Shoa überlebt haben. Ich habe
verschiedene Antworten. Die einfachste lautet: "Es läßt sich ohnehin
nicht verbergen. Früher oder später wird es jemand hervorziehen und
benennen." Es ist also viel besser, sein Judentum als Gabe anzunehmen,
nicht als Last.
Wie wird man ein religiöser Jude,
wenn man aus einer assimilierten Familie stammt?
Unendlich langsam. Meine Biographie ist keineswegs
besonders originell oder interessant. Sie ist typisch für meine
Generation. Wir haben alle gesucht. Nach dem März 1968 war uns endgültig
klar, daß uns der kommunistische Atheismus und der naive Nationalismus
nichts bieten konnten. Auf der Suche haben die einen sich den östlichen
Religionen zugewandt, dem Buddhismus vor allem, andere dem
Katholizismus, und wieder andere - wie auch ich selbst - ihren eigenen
Wurzeln, der mosaischen Religion.
Warum Religion? Reicht es nicht, in
der jüdischen Kultur zu leben, um Jude zu sein? In Israel bilden die
gläubigen Juden eine Minderheit.
In Polen sind wir zu wenige Juden: 25.000, wenn es
hoch kommt. Die überlieferte jüdische Kultur ist letztlich nicht unsere.
Wir können darüber lesen und sie verstehen, aber wir leben nicht in ihr.
Es gibt kein Schtetl mehr. Und seien wir ehrlich: niemand will heute
wieder in Anatewka wohnen. "The Fiddler on the Roof" ist zu einer
Karikatur des Judentums verkommen. Wozu romantisieren? Wir sind zu
wenige, als daß wir eine eigene Kultur mit einer eigenen Sprache
ausbilden könnten. Von uns spricht kaum jemand Hebräisch, kaum jemand
Jiddisch. Es ist also für polnische Juden schwierig, eine Identität
auszubilden, die sich nicht auf die Religion stützt. Andererseits halte
ich nichts davon, die Religion nur deshalb zu wählen, weil es keine
anderen Identifikationsmöglichkeiten mit dem Judentum gibt. Das hat
nichts mit Glauben zu tun.
Viele Juden in Israel sagen, daß
man heute als Jude nicht mehr in Polen leben dürfe, weil Polen ein
Friedhof sei.
Das sagen nicht nur Israelis. Das sagen auch viele
Juden in den großen Diasporas. Doch darauf antwortet die Empirie.
Offensichtlich kann man hier leben. Denn wir sind da. Wir haben einen
Kindergarten, eine Schule, demnächst wird eine zweite eröffnet, wir
haben Jugendclubs, einige Zeitschriften, wir restaurieren die Synagogen
und beten in ihnen. Wir leben freiwillig hier. Niemand zwingt uns
hierzubleiben. Andererseits würde es uns wahrscheinlich nicht allzu
schwer fallen, woanders ein neues Leben zu beginnen. Aber wir sind hier.
Es ist unsere Wahl. Sicher, Polen ist auch ein Friedhof, aber es ist
wohl vermessen, die 1.000 Jahre, die meine Vorfahren in Polen lebten
gleichzusetzen mit den fünf Jahren der Vernichtung durch die Deutschen.
Es ist nicht so, daß meine Vorfahren 950 Jahre darauf gewartet haben,
ermordet zu werden. Sie haben hier eine Zivilisation aufgebaut.
Vor zehn Jahren prophezeite man den
polnischen Juden, daß sie die "letzten Juden in Polen" seien. Und nun
entstehen Kindergärten, Schulen, Jugendclubs. Was ist geschehen?
Erinnern Sie sich an die Geschichte mit den
Marranen? Am Ende des 15.Jahrhunderts konvertierten sie zum Christentum,
um der Verfolgung in Spanien zu entgehen. Doch im Geheimen hielten sie
an ihrem Glauben fest. Reste der alten Tradition überlebten bis in die
dritte Generation hinein. Und da nahmen die Enkel den Glauben wieder
auf. So ist es auch in Polen. Uns fehlen zwei, drei Generationen. Die
große Blüte des polnischen Judentums ist vorbei. Doch jetzt kehren die
Nachkommen der Marranen zurück. Menschen, die vom Judentum kaum mehr
etwas wissen. Sie klopfen an die Türen unserer jüdischen Institutionen
und stellen Fragen, manchmal einfache, manchmal komplizierte. Einige
gehen wieder, andere bleiben und lassen auch ihre Kinder in unserem
Kindergarten oder in der Schule. Was das bedeutet, ist klar. Es wird
eine neue Generation heranwachsen, darunter auch mein jüngster Sohn, die
nicht mehr die Erfahrung machen muß: "Jude sein heißt einsam sein". Im
Gegenteil: Mein Sohn beispielsweise hat sich sehr gewundert, als er
erfuhr, daß es auch Kinder gibt, die nicht jüdisch sind.
Gibt es einen Traum, den sie sich
gerne erfüllen möchten?
Den Schabbat richtig zu feiern, das kam mir einst
vor wie der Mount Everest: herrlich, aber viel zu weit entfernt. Dann
aber, mit der Zeit, nach vielen, vielen Proben, habe ich erkannt: "Es
ist zu schaffen". Doch der Schabbat war nur der Anfang. Ich habe noch
einen weiten Weg vor mir. Aber ich beabsichtige ohnehin, lange zu leben.
Und so stelle ich mir vor, daß ich am Ende meiner Jahre ganz im Einklang
mit der Tora leben werde. Und da die erste Hälfte meines Lebens so
aufregend war, daß sie für ein ganzes reicht, wünsche ich mir nun
Langeweile. Mein größter Wunsch ist es, in einer kleinen provinzionellen
jüdischen Gemeinde in einem langweiligen demokratischen Staat zu leben.