Die Israelis kamen bei der höchst eindringlichen
Bestandsaufnahme auch nicht gerade gut weg. Summa summarum ergab sich
das wenig schmeichelhafte Bild einer zweiten Generation, die sich
vornehmlich durch Überheblichkeit, Rassismus und Chauvinismus hervortut.
Daran knüpft Frau Grünwald, selbst Überlebende der Schoah, wiederum an,
wenn sie nun wenige Jahre später an ihrem Flügel sitzt, als hätte sie
ihn nie verlassen, und einen kleinen Kreis von sechzig Personen in ihren
Salon (er befand sich gerade in der Berliner Akademie der Künste)
einlädt, um sie bei Kerzenschein, Cognac und Konfekt mit einer privaten
Soiree der besonderen Art zu unterhalten – mit einer musikalischen
Anthologie. Theodor Herzl und Yitzhak Rabin sehen ihr dabei, in Silber
gerahmt, über die Schulter.
Soviel steht fest: Die zierliche Frau im rosa
Morgenrock, die einige (und vor allem ihr Sohn) unverständlicherweise
als hysterisch bezeichnen, ist nicht gealtert, ihr altmodisch getürmtes
Haar nicht grauer geworden. Unverändert ihre Liebe zur Musik, die sie
gutbürgerlich von Kindesbeinen an kultivieren durfte: Smetanas „Moldau“
tropft ihr, die Stadt Prag aufs heftigste penetrierend, schwellend unter
den Fingern weg. Und sie demonstriert gern, daß auch ein Lied wie „Die
Fahne hoch“ ganz hübsch klingen kann, läßt man ihm nicht den Marsch-,
sondern einen anderen, weicheren Rhythmus angedeihen; daß ein Lied aus
Israel dem deutschen überraschend ähnelt, weil nämlich alle
nationalistischen Lieder einander gleichen.
Mit dünnem Sopran singt sie die Lieder an, parliert
auf Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und Englisch mit gebrochener Stimme.
Frau Grünwald kommt in „Anthologie“ auf dies und das zu sprechen und vom
Hölzchen aufs Stöckchen. Flicht nebenbei ein, daß sie sehr nett sind,
aber – genetisch bedingt – ein bißchen stinken, die Schwarzen, die
Araber und überhaupt alle Ausländer. Packt das deutsche Publikum an
seiner Ehre als Kulturvolk: Wer ihr wohl die ersten Takte des
Mozart-Requiems vorsingen könne? Und stellt ein für allemal klar, daß
alles und jedes eine jüdische Erfindung sei, vom Blues über den Tango –
Hitler, der holde Knabe mit blauschwarzlockigem Haar, inbegriffen.
Frau Grünwald versteht sich prächtig auf
Konversation, liebt es zu improvisieren und zu extemporieren, zieht ihre
Gäste individuell und ganz spontan ins Gespräch. Aber richtig gemütlich
will es nicht werden in ihrem Salon. Und das gewiß nicht nur, weil sie
dauernd von Sehnsucht und einer nicht mehr ortbaren Heimat spricht. Denn
sie hat hinter sich „fünf Kriege, vier Transporte, drei Aktionen, zwei
Selektionen - und einen Gott“.
Und dann hebt sie plötzlich zu schreien an, so ein
Jiddische-Mamme-Geschrei, schrill und sonor und unbändig, nach einem
Menasche, der nicht kommt, und nach Moni, ihrem Sohn. Schreit nach dem
Jungen, den sie mit der tödlich überbeschützenden Liebe der Überlebenden
penetriert – schlimmer als Smetanas „Moldau“ die Stadt Prag.
Der Junge ist unter Mutters Flügel hervorgekrochen,
steht plötzlich vor den Leuten, ein angegrauter Bube, debil und
stotternd, der fliehen will vor seiner hysterischen Mamme, die ihm
einbleut, daß alle nur immerzu die Juden umbringen wollen, Sadam Hussein
und die Deutschen und überhaupt. Moni faselt was von Bill Gates und
amerikanischen Mädchen. Die Gasmaske baumelt ihm um den Hals, die
Krawatte vor der Nase, und in der Hand hat er ein Messingteil, auf das
er wie wild eindrischt, als die Mamme das bewußte Quiz mit ihm spielt.
Dann hopst und robbt Moni auf dem Flügeldeckel
herum, bellt wie ein deutscher Schäferhund, belfert wie ein SS-Mann,
röhrt sowas wie „Juden raus!“, zischt wie eine behäbige Dampflok. Und
als die Mutter fragt, was denn die jüdischen Kinder im Viehwaggon
gerufen hätten, da schreit er: „Mutter, Wasser!“ und bricht schluchzend
zusammen.
Wenn Selma Grünwald die Gäste des Salons dann sanft
heimschickt mit den Worten „Sie können jetzt nach Hause gehen, wenn Sie
wissen, wo das ist,“ laufen den einen Tränen übers Gesicht, und andere
kramen nach ihren Sachen mit eisig versteinerter Miene. Ein Alptraum hat
sich soeben ereignet, ganz nah und unausweichlich, ein Alptraum von
Ohnmacht und Tod, der wachgehalten wird von den Alten und fortlebt in
den hintersten Seelenkammern der Nachgeborenen.
Smadar Yaaron, alias Selma Grünwald, und Moni Joseph
vom Theaterzentrum Akko haben das Türchen zur Hölle einen Spalt weit
aufgemacht. Einigen wird es schwerfallen, es wieder zuzukriegen.
EVA-ELISABETH FISCHER