In Israel gibt’s nicht mal Koks
Neurosen: Das Cameri-Theater mit Edna Mazyas Stück „Eine Familiengeschichte“
zu Gast in Weimar
Ruth Stein ist eine Frau am Rande des
Nervenzusammenbruchs. Am Morgen schnupft die verheiratete Mitvierzigerin zur
Aufheiterung erst mal eine Prise Kokain, kuschelt mit ihrem Liebhaber Robert
im Café und beschließt bei einem Glas Champagner, mit ihm durchzubrennen.
Doch Ruth ist nicht die coole femme fatale. Am Nachmittag, als ihr Mann Otto
sagt, er wolle sie verlassen, da droht sie hysterisch mit Selbstmord. In
ihrer Familie ein Ritual wie das tägliche „Guten Morgen“. „Bei uns stirbt
man nicht an Altersschwäche“, sagt sie zu ihrem latent depressiven Bruder,
„was die Dichter Schicksal nennen, sind einfach nur schlechte Gene“.
Die Personen in Edna Mazyas Stück „Eine Familiengeschichte“ sind
so mit ihren Neurosen beschäftigt, daß sie kaum bemerken, was um sie
herum – in Deutschland 1935 – passiert. Der Holocaust spielt in diesem
Stück über die jüdische Familie Stein, die später von Deutschland nach
Palästina emigriert, nur eine Nebenrolle. Mazya, Tochter
österreichischer Einwanderer, sagt über ihre „Familiengeschichte“, sie
sei eine menschliche Komödie, in der die historische Realität fast
ironisch dargestellt sei. Das ist ungewöhnlich: eine Komödie vor dem
Hintergrund des Holocaust.
Morgen gastiert das israelische Cameri-Theater mit dem Stück (in
deutscher Simultanübersetzung) anläßlich der Fünfzig-Jahr-Feier des
Staates Israel im Nationaltheater Weimar. „Es weckt die Hoffnung, daß
das israelische Theater eine Zukunft hat“, schrieb die Tageszeitung
Haaretz über die Inszenierung von Omri Nitzan. Psychologen werden dieses
Stück jedenfalls lieben. Es beginnt 1973 in einem Tel Aviver Sanatorium.
Die 24 Jahre alte Naomi (Liat Glick) sitzt hier haschischrauchend nach
einem Selbstmordversuch und liest das Tagebuch ihrer exzentrischen
Großmutter Ruth Stein (Sandra Sadeh). Was Naomi in den Aufzeichnungen
liest, spielt sich für den Zuschauer sichtbar auf der Bühne ab. Naomi
erfährt beim Lesen die wahre Geschichte ihrer Familie. Wie durch eine
Psychoanalyse erlebt sie eine innerliche Reinigung und kann als erste
ihrer Familie von der vererbten Depression genesen.
Das ist die Rahmenhandlung für eine parodistische
Familiengeschichte zwischen Flucht und Selbstmord. Ruths Tante drängt,
nach Palästina auszuwandern. Robert (Gill Farnk), der Kaffeehaus-Gigolo,
ist bereits dort. Für Ruth ist das Heilige Land nur „ein großer
Sandkasten“, in dem es nicht mal Kokain zu kaufen gibt.
Als Ben Gurion 1948 den jüdischen Staat Israel ausruft, bricht
das kranke Familiengen wieder aus: Ruth verdächtigt ihren Bruder, ihre
Tochter Anuschka mißbraucht zu haben, und Fredi (Yehuda Almagor) bringt
sich daraufhin um. Wenig später beschließt Otto (Itzhak Heskia), ohne
Ruth nach Deutschland zurückzugehen. Und da taucht ihr Ex-Liebhaber
Robert wieder auf. Diesmal allerdings, um Ruths Tochter zu heiraten.
Mäuse und Ratten
Ihre Enkelin Naomi sieht trotz des Qualms der vielen Joints
endlich klar: Ihr Vater Robert war einst der Liebhaber ihrer Großmutter.
Und ihre Mutter Anuschka flüchtete nach Rußland, als sie davon erfuhr.
Dort brachte sie sich um. Liebe und Geheimnisse wie bei „Gute Zeiten,
Schlechte Zeiten“.
„Eine Familiengeschichte“ wäre einfach eine intelligente
Soap-Opera, wären da nicht diese provokanten Textstellen und
Regieeinfälle. Als Otto seine Rückkehr nach Deutschland vor Ruth
rechtfertigt, sagt er, es seien nicht Juden wie er gewesen, die man in
Deutschland nicht wollte. „Es war der häßliche Jude, der
Halsabschneider“. „Wie Mäuse“ füllten die jetzt auch in Israel „jedes
Loch“. Das klingt nach den Sprachbildern der Nazis, für sie waren die
Juden Ratten.
Regisseur Nitzan besetzte die Nazis mit denselben Schauspielern
wie die israelischen Arbeiter, die später das Haus der Familie Stein in
Tel Aviv einrichten. Das mag der Regisseur aus ökonomischen Gründen
getan haben, aber dahinter steckt auch eine politische Aussage. Die
Kinder der europäischen Einwanderer, zu deren Generation auch Nitzan
gehört, gehen mit dem Thema Holocaust viel nüchterner um als ihre
Eltern. „So können wir die Geschichte besser verstehen“, sagt Nitzan,
„Faschismus kann überall entstehen. Keine Nation, wahrscheinlich nicht
einmal Israel, ist davor gefeit“. Das drückt auch das Bühnenbild aus.
Egal ob die Handlung in Heidelberg oder Tel Aviv spielt: Café, Wohnung
und Sanatorium sind stets nebeneinander zu sehen. Die Dimension von Ort
und Zeit ist aufgehoben. Individuen ohne gesellschaftliche oder
kulturelle Wurzeln sind Mittelpunkt des Stücks. Die historischen Fakten
stehen da wie die Felsen einer Schlucht, und das Schicksal der Menschen
treibt tief unten wie ein schmutziger Fluß hindurch.
Regisseur Nitzan ist im deutschsprachigen Raum kein Unbekannter.
Er inszenierte 1989 am Münchner Residenztheater Brechts „Der gute Mensch
von Sezuan“, vergangenes Jahr gastierte er mit Shakespeares „Komödie der
Irrungen“ am Wiener Burgtheater. Nitzan ist künstlerischer Leiter des
Cameri. Politisch kontroverse Stücke sind das Markenzeichen dieses in
Israel sehr populären Theaters. In dem Stück „Fleischer“ etwa geht es um
den Kampf orthodoxer Juden gegen ihre säkularen Nachbarn. „Wir sind tief
verwurzelt mit den Problemen dieses Landes“, sagt Nitzan. Das mußte er
auch bei der Arbeit an der „Familiengeschichte“ erfahren. Ursprünglich
hatte Nitzan die Rolle des Liebhabers Robert mit dem Schauspieler Shuli
Rand besetzt. Doch für ihn mußte er einen Ersatz finden: Bald nach der
Premiere wurde er orthodox und will fortan von seinen nicht-religiösen
Theaterkollegen nichts mehr wissen.
SZ vom 18.03.1998 ANNABEL WAHBA
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