"Damit bin ich noch längst nicht fertig"
von Dietrich Strothmann
Gerade mal drei Jahre erst ist es her, daß der Vorsitzende
des Zentralrats der Juden in Deutschland - so sein offizieller Titel
seit 1992 - einer katholischen Journalistin freimütig Rede und Antwort
stand. Daraus entstand eine sogenannte Gesprächs-Biographie. Es war eine
aufklärende, erhellende, mutige Selbstdarstellung seines Lebens (ZEIT
Nr. 28/1993). Warum nun noch einmal das gleiche, ausführlicher freilich
und prächtiger aufgemacht, auch um immerhin drei Jahre reicher an
Erfahrungen und Erlebnissen?
War Ignatz Bubis denn tatsächlich so unzufrieden mit dem ersten,
durchaus gelungenen Versuch, sich einem Portraitisten zu stellen? Kann
ihn das Resultat des zweiten Unternehmens zufriedener stimmen, nach all
dem Ärger mit seinem Interviewer, dem österreichischen Autor Peter
Sichrovsky, der unterdessen als "Hausjude" zu dem siegestrunkenen
Rechtspopulisten Jörg Haider umgeschwenkt ist?
Es ist ein außergewöhnliches Leben, fürwahr: als Junge im
polnischen Juden-Ghetto von Deblin, der als letzter seiner Familie
mitansehen mußte, wie sein Vater an ihm vorbei in das Mordlager
Treblinka abtransportiert wurde. Als Händler dann, erst für Brillanten,
später für Edelmetalle, schließlich für Immobilien, der in Deutschland
wohlhabend wurde und einflußreich. Als betroffener "Spekulant" im
Frankfurter Häuserkampf (1971/72), danach als energischer
Protestanführer, der gegen das antisemitische Fassbinder-Stück "Der
Müll, die Stadt und der Tod" auf der Schauspielbühne (1985) von sich
reden machte. Zuletzt als rühriger und besonnener Wortführer der
jüdischen Gemeinden hohes Ansehen genießt und großen Respekt. Ein
Deutscher, dem jede Hochachtung zusteht und zukommt - auch weil er
jederzeit selbstkritisch ist.
Er wird, was er schonungslos bezeugt, die Schatten jener
schlimmen Jahre nicht los. Er lebt in ihnen weiter, wie auch könnte es
anders sein, und spricht davon ohne jede Scheu - von seinen
Befürchtungen, seinen Zweifeln, auch seinen Versäumnissen aus Angst, aus
"Selbsterhaltungstrieb", wie er an einer Stelle seines Berichtes
einräumt.
Lange, viel zu lange versuchte der umtriebige Geschäftsmann
Bubis seine Schatten zu verscheuchen: Erst 1979 sprach er vor seiner
Tochter Naomi von seinen Ghetto-Erlebnissen, erst 1989 wagte er die
Erinnerungsreise nach Treblinka, erst im vergangenen Jahr machte er eine
Entdeckung, die ihn seitdem nicht mehr losläßt: Warum hat er damals
Deutschland als seine Heimat gewählt? Hier wird die Autobiographie von
Ignatz Bubis zu einer Lebensbeichte, die den Leser verstummen läßt.
Durch Zufall spürt Bubis in Brasilien entfernte Verwandte seines
ermordeten Bruders Jakob auf. Seitdem besitzt er das Photo eines kleinen
Mädchens, wie es auf einer Wiese in einem bunten Sommerkleidchen steht
und fröhlich-schnippisch in die Kamera lächelt, seine Nichte Rachel. Sie
wurde mit ihrem Vater und ihrer Mutter ermordet.
"Der Blick dieses Mädchens verfolgt mich ständig. Es ist, als
würde sie mich fragen, warum ich in dem Land geblieben bin, das für
ihren Tod und den Tod ihrer Eltern verantwortlich ist. Dieses Bild
meiner Nichte hat mich aus der Fassung gebracht."
Jedes Wort zu diesem Bekenntnis wäre ein Wort zuviel.
Die
Autobiographie v. Ignaz Bubis ist im Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York
erschienen.
(C) DIE ZEIT Nr.
45 vom 1. November 1996 |