antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info
haGalil onLine - http://www.hagalil.com

  

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 
Archivierte Meldungen aus den Jahren 1995 - 1999

Die Jüdische Gemeinde Berlins:
Wachsen, aber nicht gedeihen?

Die Last der fremden Brüder

In welche Zerreißprobe der Zustrom echter und weniger echter Mitglieder aus Rußland die Gemeinschaft treibt – und welche Töne sich Politiker leisten

Von Thorsten Schmitz

Berlin, im Februar – Ein Tag kann sehr lang sein, zu lang für manche. So flüchtet Ruth Galinski einmal in der Woche aus dem feinen Zehlendorf und fährt zum Ku’damm. Wobei es nicht viel einzukaufen gibt, wenn man 76 Jahre alt ist und alleine lebt. Jeden Tag überwindet sich Ruth Galinski, nur für eine Person zu kochen, sich alleine an den Eßtisch zu setzen. Manchmal, sagt sie, „komme ich mir vor wie in einem Sarkophag. Wie amputiert“.

Lebendig begraben also und getrennt von dem Menschen, dessen Reden sie korrigierte und an dessen Seite sie alle Großen der Welt kennengelernt hat. Gleichsam mit dem Tod von Heinz Galinski, der im Juli 1992 an den Folgen einer Herzoperation starb, schmolz die Welt seiner Frau auf ein kaum erträgliches Maß an Bedeutungslosigkeit zusammen. In ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß, von der aus sie auf ein akkurat gepflegtes Stück Garten blickt und an manchen Tagen die Stunden zählt bis zur „Tagesschau“, hängen und stehen sehr viele Bilder von Heinz Galinski. Mal mit Gattin, mal mit dem früheren Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek, mit Rita Süssmuth, mit Shimon Peres.

Ihr Lieblingsbild hängt im Bad, es zeigt einen sehr entspannten, sehr braungebrannten Heinz Galinski am Strand von Tel Aviv, der seine Frau Ruth liebevoll in den Armen hält – und lächelt. Es ist auch deshalb Ruth Galinskis Lieblingsbild, weil die Welt in ihrem Mann nur den Autokraten sah. „Er war streng, ja, aber er war auch ein fröhlicher Mensch“, sagt sie. Er fehlt ihr sehr, und sie sagt, er fehle auch der Jüdischen Gemeinde Berlin, die er mit aufgebaut und 43 Jahre geleitet hat.

„Jeder macht, was er will“

Sie wundert sich, daß der neue Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, der 46 Jahre alte Berliner Andreas Nachama, und die anderen Funktionäre von Transparenz reden und von frischem Wind, wofür sie sich nun einsetzen wollten. „Heinz hat immer politisch eingegriffen, Nichtjuden waren willkommen, jeder durfte Gottesdienste in den Synagogen besuchen, ich weiß nicht, was die Neuen mit Transparenz meinen.“ Die wollen Glasnost und Perestrojka, Ruth Galinski aber sieht vor allem Probleme: „Jeder macht, was er will.“

Tatsächlich kommt die größte Jüdische Gemeinde Deutschlands, die ihren Hauptsitz in Berlin hat zwischen Bahnhof Zoo, Hotel Kempinski und Ku‘damm, seit Galinskis Tod nicht zur Ruhe. Die Reputation hatte gelitten in der Ära des Vorsitzenden Jerzy Kanal, und zwar vor allem durch fragwürdige Immobiliengeschäfte führender Gemeindemitglieder, durch schwere, bis zum Verdacht krimineller Handlungen reichende Vorwürfe gegen einzelne Zuwanderer und durch wechselseitige üble Nachrede. Und jetzt noch das: Der jüngste Sohn des Vorsitzenden Nachama, Abiturient der John-F.-Kennedy-Schule, wurde mit Falschgeld erwischt, die 30 000 Mark stammten von einem Georgier. Dem Vater ist das „extrem peinlich“. Vor der Repräsentantenversammlung entschuldigte sich Nachama senior : „So ist das mit 19jährigen Söhnen: Man hat nur begrenzt Möglichkeit, Einfluß auf ihr Leben zu nehmen.“

Zu den Problemen der Gemeinde gehört eine völlig unübersichtliche Struktur, an der auch Mitglieder des Gemeindeparlaments verzweifeln. Der Historiker Julius Schoeps hat als Mitglied keine Liste der Angestellten und deren Funktionen in der Gemeinde, geschweige denn eine Telephonliste – beides existiere nicht, wurde ihm gesagt. Und erst der Haushalt, der sich aus Mitgliederbeiträgen und Kirchensteueranteilen finanziert: Der für dieses Jahr – rund 47 Millionen Mark – soll mit vier Millionen Unterdeckung verabschiedet werden. Vier Millionen, von denen keiner weiß, wo die herkommen sollen. In der Gemeinde, sagt Schoeps, herrsche finanziell „das reinste Chaos“.

Zwei Juden gleich drei Meinungen. Das trifft auch auf die Jüdische Gemeinde von Berlin zu. Von Mitgliedern und Angestellten hört man sehr Verschiedenes: Wer mit wem paktiere, wer mit wem eine Affäre habe, daß Nachama sich instrumentalisieren lasse, weil er „neutral bis zur Selbstverleugnung“ sei, daß die Russen eine Bereicherung seien für das Wiederaufleben der komatösen Gemeinde, oder daß die Russen eine eigene Gemeinde gründen sollten, weil sie nicht kompatibel seien mit dem deutschen Judentum. Einig sind sich alle nur darin: Unruhe prägt die Gemeinde. Der Neuen wegen, die kein Chanukka feiern, dafür Weihnachten, die kein Jiddisch sprechen, sondern Russisch, die Spielhallen betreiben und keine Anwaltskanzlei.

Ruth Galinski umschreibt die Russen vorsichtig als Menschen „anderer Mentalität“. Ihr Mann habe ihnen vorgeschrieben, nur Deutsch zu reden im Gemeindehaus. Jetzt könne es einem passieren, daß man in der Zentrale anruft und jemand abhebt, der noch nicht einmal „Guten Tag“ sagt. „Wir“, sagt Ruth Galinski und meint die deutschen Mitglieder der Gemeinde, „wir verstehen das nicht, deshalb ziehen wir uns zurück.“ Sie und die meisten langjährigen Mitglieder fühlen sich alleingelassen, manche sagen „ausgestoßen“, weil sie die Gemeinde als „wilden Osten“ empfinden. Leise sagt Ruth Galinski: „Wir sterben sowieso langsam aus.“ Andererseits entspricht die Glorifizierung von Galinskis Ära auch nur der halben Wahrheit: Er hatte es leichter als Nachama jetzt. In seiner Regentschaft gab es keine Opposition, außerdem hatte er nicht dieses Problem mit den Russen.

Noch nie nach dem Krieg war die Gemeinde einem derartigen Druck ausgesetzt – von außen wie von innen. Das hat sehr viel zu tun mit Andreas Nachama, der jahrzehntelang die Berliner Festspiele leitete und zuletzt die Ausstellung „Topographie des Terrors“. Zur eigenen Überraschung wurde er im Sommer zum Vorsitzenden der Gemeinde gewählt, „dabei wollte ich doch nur bloßes Parlamentsmitglied werden“. An seinem ersten Arbeitstag gratulierte ihm ein Beamter der Senatsverwaltung – und fügte hinzu: „Sie werden es schwer haben, denn ihnen fehlt die Nummer im Arm.“ Nachama ist der erste Vorsitzende aus der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden – und er ist überzeugt, daß man seinen Vorgängern, den Holocaust-Überlebenden Galinski und Kanal, nie zugemutet hätte, womit er täglich zu tun habe: „mit Mißachtung, mit fehlendem Respekt, mit Gleichgültigkeit.“

Seit Amtsantritt muß sich Nachama gefallen lassen, was Berliner CDU-Mitglieder in einem Thesenpapier kritisierten (die „großzügige Finanzierung Israels“ durch die Bundesregierung und das „extensive Wiedergutmachungsbedürfnis der Juden“), und daß der Senat Amnon Barzel entläßt, den israelischen Direktor des Jüdischen Museums im Aufbau. Darauf konterte Nachama mit einem Satz, der die Beziehungen zwischen Senat und Gemeinde bis auf weiteres einfror: „Es besteht bei Gemeindemitgliedern der Eindruck, daß nur tote Juden gute Juden sind. Der Lack ist ab.“ Bei ihm selbst in ruhigen Momenten auch. Wer weiß, zweifelt Nachama versunken im Bürosessel, ob er sich zur Wahl gestellt hätte, wenn er gewußt hätte, daß er zum Vorsitzenden gewählt wird.

Er sagt: „Es ist die Einstellung, die sich uns gegenüber geändert hat. Es ist immer weniger Herzensangelegenheit. Mit Galinski wäre keiner so umgesprungen.“ Der Senat reagierte auf Nachamas Vorwürfe mit Schweigen – und entsandte den Kulturstaatssekretär zur Überreichung einer wertvollen Lampe. Die sollte das Licht am Ende des Tunnels symbolisieren.

Nachama weiß, daß er nicht über die moralische Autorität eines Galinski verfügt: „Es hat keinen Zweck, so zu tun, als wäre es anders.“ Das Eis, sagt Nachama, „ist dünn, und der Senat tut so, als sei es meterdick.“ Dem Druck von außen sieht der Gemeindechef relativ ratlos und gelassen zugleich entgegen.

Der Druck von innen ergibt sich wie von selbst: Von den 11 000 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde kommen zwei Drittel aus der früheren Sowjetunion. Der Rest zerfällt in Zirkel, die sich fremd sind. Die Russen besitzen einen ungesicherten Aufenthaltsstatus, haben oft keine Arbeit, keine Wohnung, kommen bei Verwandten unter und können fast nie Deutsch. Vor zwei Wochen lud Sozialdezernentin Singer zu einer Diskussion im Gemeindehaus unter dem Titel „Integration und Selbstbehauptung in einer neuen Heimat?“ Es wurde ein Fiasko.

Man wolle den Dialog fördern zwischen alten und neuen Mitgliedern, sagte Singer. Ein frommer Wunsch, denn es waren nur die Neuen gekommen. Frauen mit grellen Flokatiwesten und blond gefärbten Haaren, Männer mit verhornten Händen und USA-Sweatshirts. Ein Polizeibeamter nuschelte seinem Kollegen zu: „Is ja wie in Moskau, ey.“ Vor ihnen, auf dem Podium, sitzen die deutschen Repräsentanten der Gemeinde, ein symbolisches Bild: Alle tragen Kopfhörer. Die Diskussion muß simultan übersetzt werden, weil der Vorstand die meisten Gemeindemitglieder nicht versteht. Trotz guter Übersetzung redet man aneinander vorbei. Nach langen Referaten über Gesetzesregelungen wird das russische Publikum unruhig. Die ersten schlafen ein, andere plaudern, bis endlich gefragt werden darf – vor allem nach der Dienstleistungsfähigkeit der Gemeinde. Das stört die alteingesessenen Mitglieder: Sie werfen den Russen vor, sich nicht fürs Gemeindeleben zu interessieren, sondern nur Profit aus ihr ziehen zu wollen.

Womöglich hat das einen einfachen Grund. Julius Schoeps sagt: „Zwischen 30 und 40 Prozent der neuen russischen Mitglieder sind gar keine Juden, die kaufen sich ihr Visum.“ Felix Gorelik, ein 20jähriger Lette, der seit sechs Jahren in Berlin lebt, bestätigt beim Tee im Gemeinderestaurant: „Ja, es gibt viele gekaufte Juden in der Gemeinde.“ Gerade die, sagt er, wollten vom Gemeindeleben nichts wissen, sondern „Pässe, Arbeit, Geld“. Und die doppelte Staatsbürgerschaft, „um Geschäfte in der Ukraine machen zu können“.

Wie bekomme ich einen Job? Wie kann ich meinen Aufenthaltsstatus verlängern? Warum erhalte ich keinen Kredit? Das fragen die Russen an diesem Abend. Das Podium ist ratlos, verlegen nesteln die Teilnehmer an den Kopfhörern. „Wir können doch keine Gesetze verabschieden! Das sind doch alles private Probleme“, fleht der Diskussionsleiter. Und der Integrationsbeauftragte Michael Liokumowitsch ruft verzweifelt: „Wir sind kein Arbeitsamt!“ Dies versetzt einen älteren Russen in Rage: „Nach welcher Moral arbeitet die Gemeinde eigentlich?“ Der Saal applaudiert, das Podium muß die Übersetzung abwarten. Integrator Liokumowitsch, von Beruf Kieferchirurg, blafft zurück: „Ich verstehe die Frage nicht. Wir leben hier im Kapitalismus. Sie müssen auch bereit sein, im nicht erlernten Beruf zu arbeiten.“

Alle zwei Wochen mittwochs hat er Sprechstunde in der Gemeinde, und schon zwei Stunden, bevor sie beginnt, füllt sich das Foyer mit Russen. Sie plauschen, essen Bananen, lehnen am Gedenkstein in der Mitte, auf dem steht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Als der Integrationsbeauftragte kommt, warten mehr als 30 Menschen. Einzeln empfängt er die neuen Mitglieder, sie sprudeln los, ehe sie sitzen. Vier Wörter tauchen immer wieder auf, für die es im Russischen kein Äquivalent gibt: Einbürgerung, Wohnberechtigungsschein, Kontingentflüchtling, Härtefallregelung. Liokumowitsch sagt: „In den meisten Fällen kann ich Tips geben, mehr auch nicht.“ Die Privatheit der Probleme nervt ihn. Andererseits könne man erst dann den Riß in der Gemeinde kitten, wenn alle über dieselben Voraussetzungen verfügten. Womöglich kommen deshalb zur Gedenkveranstaltung zum Befreiungstag von Auschwitz nur deutsche Juden.

„Können Sie nun helfen?“

Tage nach der Diskussion sitzt Andreas Nachama in seinem Büro, knabbert an einem Gemüseburger von McDonald’s und sagt, das Nichtverstehen sei kein Sprachproblem, die Zuwanderer begriffen schlicht nicht, daß sie in einem Land lebten, das regelt, reglementiert, reguliert. „Es ist sehr schwer, ihnen klarzumachen, daß die Gemeinde nicht der Gesetzgeber ist.“ Das merkt er vor allem in der Sprechstunde.

Einmal im Monat darf jeder beim Vorsitzenden vorstellig werden, Nachama nimmt sich dann viel Zeit. Acht Mitglieder haben sich an diesem Dienstag angemeldet, darunter eine russische Ärztin, die keine Zulassung erhält, einer, der um Aufnahme in die Gemeinde bittet, obwohl nur sein Vater Jude ist, und einer, der schon zwei Stunden wartet – weil er sich sorgt ums Grab seiner Mutter. Nachama trinkt Tee und drängt nicht, wenn jemandem die Worte fehlen. Wie dem alten Russen, der vom desolaten Zustand des Grabes seiner Mutter berichtet. Eine Mitarbeiterin Nachamas übersetzt, der Mann spricht kein Deutsch, und plötzlich beginnt er zu heulen. Hemmungslos. Er hätte so gerne Efeu auf dem Grab und eine Einfassung, was 600 Mark kostet. „Können Sie helfen oder nicht?“ fragt er, und Nachama sieht aus, als müßte er auch gleich weinen. Er könne 600 Mark nicht herzaubern, aber er werde den Friedhof Weißensee anrufen. Er spricht mit dem Leiter des Friedhofs und sagt dann dem Russen, er werde im Gemeinde-Parlament einen Antrag einbringen, wie man mittellosen Leuten helfen könne.

Eigentlich müßte Ruth Galinski auch mal zu Nachamas Sprechstunde. Sie geht „natürlich“ nicht, aber die Frage bleibt. Sie stellt sie sich seit sechs Jahren. Kurz nach dem Tod ihres Mannes legte sie seine 70 Oberhemden und 30 Anzüge bereit, jemand von der Gemeinde holte sie ab. Bis heute hat sich keiner für die Spende bedankt. „Außerdem wüßte ich gerne, wer die Kleider trägt.“ Womöglich, sagt sie, die Neuen aus Rußland.

Copyright © 1997, 1998 - Süddeutsche Zeitung.

Die hier archivierten Artikel stammen aus den "Anfangsjahren" der breiten Nutzung des Internet. Damals waren die gestalterischen Möglichkeiten noch etwas ursprünglicher als heute. Wir haben die Artikel jedoch weiterhin archiviert, da die Informationen durchaus noch interessant sein können, u..a. auch zu Dokumentationszwecken.


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!
haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved