Die Jüdische Gemeinde Berlins:
Wachsen, aber nicht gedeihen?
Die Last der fremden Brüder
In welche Zerreißprobe der Zustrom echter und weniger echter
Mitglieder aus Rußland die Gemeinschaft treibt – und welche Töne sich
Politiker leisten
Von Thorsten Schmitz
Berlin, im Februar – Ein Tag kann sehr lang sein,
zu lang für manche. So flüchtet Ruth Galinski einmal in der Woche aus dem
feinen Zehlendorf und fährt zum Ku’damm. Wobei es nicht viel einzukaufen
gibt, wenn man 76 Jahre alt ist und alleine lebt. Jeden Tag überwindet sich
Ruth Galinski, nur für eine Person zu kochen, sich alleine an den Eßtisch zu
setzen. Manchmal, sagt sie, „komme ich mir vor wie in einem Sarkophag. Wie
amputiert“.
Lebendig begraben also und getrennt von dem Menschen,
dessen Reden sie korrigierte und an dessen Seite sie alle Großen der Welt
kennengelernt hat. Gleichsam mit dem Tod von Heinz Galinski, der im Juli
1992 an den Folgen einer Herzoperation starb, schmolz die Welt seiner Frau
auf ein kaum erträgliches Maß an Bedeutungslosigkeit zusammen. In ihrer
Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß, von der aus sie auf ein akkurat
gepflegtes Stück Garten blickt und an manchen Tagen die Stunden zählt bis
zur „Tagesschau“, hängen und stehen sehr viele Bilder von Heinz Galinski.
Mal mit Gattin, mal mit dem früheren Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek,
mit Rita Süssmuth, mit Shimon Peres.
Ihr Lieblingsbild hängt im Bad, es zeigt einen sehr
entspannten, sehr braungebrannten Heinz Galinski am Strand von Tel Aviv, der
seine Frau Ruth liebevoll in den Armen hält – und lächelt. Es ist auch
deshalb Ruth Galinskis Lieblingsbild, weil die Welt in ihrem Mann nur den
Autokraten sah. „Er war streng, ja, aber er war auch ein fröhlicher Mensch“,
sagt sie. Er fehlt ihr sehr, und sie sagt, er fehle auch der Jüdischen
Gemeinde Berlin, die er mit aufgebaut und 43 Jahre geleitet hat.
„Jeder macht, was er will“
Sie wundert sich, daß der neue Vorsitzende der Jüdischen
Gemeinde, der 46 Jahre alte Berliner Andreas Nachama, und die anderen
Funktionäre von Transparenz reden und von frischem Wind, wofür sie sich nun
einsetzen wollten. „Heinz hat immer politisch eingegriffen, Nichtjuden waren
willkommen, jeder durfte Gottesdienste in den Synagogen besuchen, ich weiß
nicht, was die Neuen mit Transparenz meinen.“ Die wollen Glasnost und
Perestrojka, Ruth Galinski aber sieht vor allem Probleme: „Jeder macht, was
er will.“
Tatsächlich kommt die größte Jüdische Gemeinde
Deutschlands, die ihren Hauptsitz in Berlin hat zwischen Bahnhof Zoo, Hotel
Kempinski und Ku‘damm, seit Galinskis Tod nicht zur Ruhe. Die Reputation
hatte gelitten in der Ära des Vorsitzenden Jerzy Kanal, und zwar vor allem
durch fragwürdige Immobiliengeschäfte führender Gemeindemitglieder, durch
schwere, bis zum Verdacht krimineller Handlungen reichende Vorwürfe gegen
einzelne Zuwanderer und durch wechselseitige üble Nachrede. Und jetzt noch
das: Der jüngste Sohn des Vorsitzenden Nachama, Abiturient der
John-F.-Kennedy-Schule, wurde mit Falschgeld erwischt, die 30 000 Mark
stammten von einem Georgier. Dem Vater ist das „extrem peinlich“. Vor der
Repräsentantenversammlung entschuldigte sich Nachama senior : „So ist das
mit 19jährigen Söhnen: Man hat nur begrenzt Möglichkeit, Einfluß auf ihr
Leben zu nehmen.“
Zu den Problemen der Gemeinde gehört eine völlig
unübersichtliche Struktur, an der auch Mitglieder des Gemeindeparlaments
verzweifeln. Der Historiker Julius Schoeps hat als Mitglied keine Liste der
Angestellten und deren Funktionen in der Gemeinde, geschweige denn eine
Telephonliste – beides existiere nicht, wurde ihm gesagt. Und erst der
Haushalt, der sich aus Mitgliederbeiträgen und Kirchensteueranteilen
finanziert: Der für dieses Jahr – rund 47 Millionen Mark – soll mit vier
Millionen Unterdeckung verabschiedet werden. Vier Millionen, von denen
keiner weiß, wo die herkommen sollen. In der Gemeinde, sagt Schoeps,
herrsche finanziell „das reinste Chaos“.
Zwei Juden gleich drei Meinungen. Das trifft auch auf die
Jüdische Gemeinde von Berlin zu. Von Mitgliedern und Angestellten hört man
sehr Verschiedenes: Wer mit wem paktiere, wer mit wem eine Affäre habe, daß
Nachama sich instrumentalisieren lasse, weil er „neutral bis zur
Selbstverleugnung“ sei, daß die Russen eine Bereicherung seien für das
Wiederaufleben der komatösen Gemeinde, oder daß die Russen eine eigene
Gemeinde gründen sollten, weil sie nicht kompatibel seien mit dem deutschen
Judentum. Einig sind sich alle nur darin: Unruhe prägt die Gemeinde. Der
Neuen wegen, die kein Chanukka feiern, dafür Weihnachten, die kein Jiddisch
sprechen, sondern Russisch, die Spielhallen betreiben und keine
Anwaltskanzlei.
Ruth Galinski umschreibt die Russen vorsichtig als
Menschen „anderer Mentalität“. Ihr Mann habe ihnen vorgeschrieben, nur
Deutsch zu reden im Gemeindehaus. Jetzt könne es einem passieren, daß man in
der Zentrale anruft und jemand abhebt, der noch nicht einmal „Guten Tag“
sagt. „Wir“, sagt Ruth Galinski und meint die deutschen Mitglieder der
Gemeinde, „wir verstehen das nicht, deshalb ziehen wir uns zurück.“ Sie und
die meisten langjährigen Mitglieder fühlen sich alleingelassen, manche sagen
„ausgestoßen“, weil sie die Gemeinde als „wilden Osten“ empfinden. Leise
sagt Ruth Galinski: „Wir sterben sowieso langsam aus.“ Andererseits
entspricht die Glorifizierung von Galinskis Ära auch nur der halben
Wahrheit: Er hatte es leichter als Nachama jetzt. In seiner Regentschaft gab
es keine Opposition, außerdem hatte er nicht dieses Problem mit den Russen.
Noch nie nach dem Krieg war die Gemeinde einem derartigen
Druck ausgesetzt – von außen wie von innen. Das hat sehr viel zu tun mit
Andreas Nachama, der jahrzehntelang die Berliner Festspiele leitete und
zuletzt die Ausstellung „Topographie des Terrors“. Zur eigenen Überraschung
wurde er im Sommer zum Vorsitzenden der Gemeinde gewählt, „dabei wollte ich
doch nur bloßes Parlamentsmitglied werden“. An seinem ersten Arbeitstag
gratulierte ihm ein Beamter der Senatsverwaltung – und fügte hinzu: „Sie
werden es schwer haben, denn ihnen fehlt die Nummer im Arm.“ Nachama ist der
erste Vorsitzende aus der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden –
und er ist überzeugt, daß man seinen Vorgängern, den Holocaust-Überlebenden
Galinski und Kanal, nie zugemutet hätte, womit er täglich zu tun habe: „mit
Mißachtung, mit fehlendem Respekt, mit Gleichgültigkeit.“
Seit Amtsantritt muß sich Nachama gefallen lassen,
was Berliner CDU-Mitglieder in einem Thesenpapier kritisierten (die
„großzügige Finanzierung Israels“ durch die Bundesregierung und das
„extensive Wiedergutmachungsbedürfnis der Juden“), und daß der Senat Amnon
Barzel entläßt, den israelischen Direktor des Jüdischen Museums im Aufbau.
Darauf konterte Nachama mit einem Satz, der die Beziehungen zwischen Senat
und Gemeinde bis auf weiteres einfror: „Es besteht bei Gemeindemitgliedern
der Eindruck, daß nur tote Juden gute Juden sind. Der Lack ist ab.“ Bei ihm
selbst in ruhigen Momenten auch. Wer weiß, zweifelt Nachama versunken im
Bürosessel, ob er sich zur Wahl gestellt hätte, wenn er gewußt hätte, daß er
zum Vorsitzenden gewählt wird.
Er sagt: „Es ist die Einstellung, die sich uns
gegenüber geändert hat. Es ist immer weniger Herzensangelegenheit. Mit
Galinski wäre keiner so umgesprungen.“ Der Senat reagierte auf Nachamas
Vorwürfe mit Schweigen – und entsandte den Kulturstaatssekretär zur
Überreichung einer wertvollen Lampe. Die sollte das Licht am Ende des
Tunnels symbolisieren.
Nachama weiß, daß er nicht über die moralische Autorität
eines Galinski verfügt: „Es hat keinen Zweck, so zu tun, als wäre es
anders.“ Das Eis, sagt Nachama, „ist dünn, und der Senat tut so, als sei es
meterdick.“ Dem Druck von außen sieht der Gemeindechef relativ ratlos und
gelassen zugleich entgegen.
Der Druck von innen ergibt sich wie von selbst: Von den 11
000 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde kommen zwei Drittel aus der früheren
Sowjetunion. Der Rest zerfällt in Zirkel, die sich fremd sind. Die Russen
besitzen einen ungesicherten Aufenthaltsstatus, haben oft keine Arbeit,
keine Wohnung, kommen bei Verwandten unter und können fast nie Deutsch. Vor
zwei Wochen lud Sozialdezernentin Singer zu einer Diskussion im Gemeindehaus
unter dem Titel „Integration und Selbstbehauptung in einer neuen Heimat?“ Es
wurde ein Fiasko.
Man wolle den Dialog fördern zwischen alten und neuen
Mitgliedern, sagte Singer. Ein frommer Wunsch, denn es waren nur die Neuen
gekommen. Frauen mit grellen Flokatiwesten und blond gefärbten Haaren,
Männer mit verhornten Händen und USA-Sweatshirts. Ein Polizeibeamter
nuschelte seinem Kollegen zu: „Is ja wie in Moskau, ey.“ Vor ihnen, auf dem
Podium, sitzen die deutschen Repräsentanten der Gemeinde, ein symbolisches
Bild: Alle tragen Kopfhörer. Die Diskussion muß simultan übersetzt werden,
weil der Vorstand die meisten Gemeindemitglieder nicht versteht. Trotz guter
Übersetzung redet man aneinander vorbei. Nach langen Referaten über
Gesetzesregelungen wird das russische Publikum unruhig. Die ersten schlafen
ein, andere plaudern, bis endlich gefragt werden darf – vor allem nach der
Dienstleistungsfähigkeit der Gemeinde. Das stört die alteingesessenen
Mitglieder: Sie werfen den Russen vor, sich nicht fürs Gemeindeleben zu
interessieren, sondern nur Profit aus ihr ziehen zu wollen.
Womöglich hat das einen einfachen Grund. Julius Schoeps
sagt: „Zwischen 30 und 40 Prozent der neuen russischen Mitglieder sind gar
keine Juden, die kaufen sich ihr Visum.“ Felix Gorelik, ein 20jähriger
Lette, der seit sechs Jahren in Berlin lebt, bestätigt beim Tee im
Gemeinderestaurant: „Ja, es gibt viele gekaufte Juden in der Gemeinde.“
Gerade die, sagt er, wollten vom Gemeindeleben nichts wissen, sondern
„Pässe, Arbeit, Geld“. Und die doppelte Staatsbürgerschaft, „um Geschäfte in
der Ukraine machen zu können“.
Wie bekomme ich einen Job? Wie kann ich meinen
Aufenthaltsstatus verlängern? Warum erhalte ich keinen Kredit? Das fragen
die Russen an diesem Abend. Das Podium ist ratlos, verlegen nesteln die
Teilnehmer an den Kopfhörern. „Wir können doch keine Gesetze verabschieden!
Das sind doch alles private Probleme“, fleht der Diskussionsleiter. Und der
Integrationsbeauftragte Michael Liokumowitsch ruft verzweifelt: „Wir sind
kein Arbeitsamt!“ Dies versetzt einen älteren Russen in Rage: „Nach welcher
Moral arbeitet die Gemeinde eigentlich?“ Der Saal applaudiert, das Podium
muß die Übersetzung abwarten. Integrator Liokumowitsch, von Beruf
Kieferchirurg, blafft zurück: „Ich verstehe die Frage nicht. Wir leben hier
im Kapitalismus. Sie müssen auch bereit sein, im nicht erlernten Beruf zu
arbeiten.“
Alle zwei Wochen mittwochs hat er Sprechstunde in der
Gemeinde, und schon zwei Stunden, bevor sie beginnt, füllt sich das Foyer
mit Russen. Sie plauschen, essen Bananen, lehnen am Gedenkstein in der
Mitte, auf dem steht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Als der
Integrationsbeauftragte kommt, warten mehr als 30 Menschen. Einzeln empfängt
er die neuen Mitglieder, sie sprudeln los, ehe sie sitzen. Vier Wörter
tauchen immer wieder auf, für die es im Russischen kein Äquivalent gibt:
Einbürgerung, Wohnberechtigungsschein, Kontingentflüchtling,
Härtefallregelung. Liokumowitsch sagt: „In den meisten Fällen kann ich Tips
geben, mehr auch nicht.“ Die Privatheit der Probleme nervt ihn. Andererseits
könne man erst dann den Riß in der Gemeinde kitten, wenn alle über dieselben
Voraussetzungen verfügten. Womöglich kommen deshalb zur Gedenkveranstaltung
zum Befreiungstag von Auschwitz nur deutsche Juden.
„Können Sie nun helfen?“
Tage nach der Diskussion sitzt Andreas Nachama in seinem
Büro, knabbert an einem Gemüseburger von McDonald’s und sagt, das
Nichtverstehen sei kein Sprachproblem, die Zuwanderer begriffen schlicht
nicht, daß sie in einem Land lebten, das regelt, reglementiert, reguliert.
„Es ist sehr schwer, ihnen klarzumachen, daß die Gemeinde nicht der
Gesetzgeber ist.“ Das merkt er vor allem in der Sprechstunde.
Einmal im Monat darf jeder beim Vorsitzenden vorstellig
werden, Nachama nimmt sich dann viel Zeit. Acht Mitglieder haben sich an
diesem Dienstag angemeldet, darunter eine russische Ärztin, die keine
Zulassung erhält, einer, der um Aufnahme in die Gemeinde bittet, obwohl nur
sein Vater Jude ist, und einer, der schon zwei Stunden wartet – weil er sich
sorgt ums Grab seiner Mutter. Nachama trinkt Tee und drängt nicht, wenn
jemandem die Worte fehlen. Wie dem alten Russen, der vom desolaten Zustand
des Grabes seiner Mutter berichtet. Eine Mitarbeiterin Nachamas übersetzt,
der Mann spricht kein Deutsch, und plötzlich beginnt er zu heulen.
Hemmungslos. Er hätte so gerne Efeu auf dem Grab und eine Einfassung, was
600 Mark kostet. „Können Sie helfen oder nicht?“ fragt er, und Nachama sieht
aus, als müßte er auch gleich weinen. Er könne 600 Mark nicht herzaubern,
aber er werde den Friedhof Weißensee anrufen. Er spricht mit dem Leiter des
Friedhofs und sagt dann dem Russen, er werde im Gemeinde-Parlament einen
Antrag einbringen, wie man mittellosen Leuten helfen könne.
Eigentlich müßte Ruth Galinski auch mal zu Nachamas
Sprechstunde. Sie geht „natürlich“ nicht, aber die Frage bleibt. Sie stellt
sie sich seit sechs Jahren. Kurz nach dem Tod ihres Mannes legte sie seine
70 Oberhemden und 30 Anzüge bereit, jemand von der Gemeinde holte sie ab.
Bis heute hat sich keiner für die Spende bedankt. „Außerdem wüßte ich gerne,
wer die Kleider trägt.“ Womöglich, sagt sie, die Neuen aus Rußland.
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