Ausstellungs-Tipp
München:
Gisèle Freund –
Photographien und Erinnerungen
Von
Anna Zanco-Prestel
Der
"I. Internationale Schriftstellerkongress
zur Verteidigung der Kultur" im Juni 1935 in
Paris war wegen der Dringlichkeit der zur
Debatte stehenden Themen, der hohen Anzahl
an charismatischen Repräsentanten der
europäischen Intelligenz ein in vielerlei
Hinsicht außergewöhnliches Ereignis. 250
Teilnehmer aus 38 Länder versammelten sich 5
Tage lang in "La Maison de la Mutualité", um
die unterschiedlichsten politischen,
philosophischen und ästhetischen Ansichten
über Individualismus und Kollektivismus,
Einzelnen und Gesellschaft, Freiheit des
Geistes und drohende Kriegsgefahr zur
Sprache zu bringen.
Festgehalten in eindruckvollen Aufnahmen
historischer Tragweite ist der Kongress in
der Ausstellung "Photographien und
Erinnerungen", mit der die
Versicherungskammer Bayern in München an den
100. Geburtstag einer der herausragendsten
Photographinnen des XX. Jahrhunderts
erinnert: Gisèle Freund.

Erster Internationaler
Schriftsteller-Kongreß zur Verteidigung der
Kultur, Saal der Mutualité, Paris 1935, ©
Gisèle Freund, Sammlung Dr. Marita Ruiter
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Bilder unterschiedlichen Formats sind ihm
gewidmet und bilden den Hauptkorpus der
Werkschau. Auf diese Weise wird ein
wesentlicher Merkmal der sich über 60 Jahre
erstreckenden Tätigkeit der Fotografin
untermalt: ihr soziologisches Interesse für
die Ausdrucksformen des Geistigen,
insbesondere ihre große Leidenschaft für die
Literatur, nicht zuletzt aber auch ihre
engagierte Haltung.
Die
Rettung der europäischen Kultur vor den
Übergriffen des um sich herum greifenden
Faschismus als ihren gefährlichsten Feind
war die Aufgabe, die sich jene gewaltige
Demonstration zwischen zwei Weltkriegen
selbst gestellt hatte.
Die
junge, aus wohlhabender, kunstsinniger
jüdischer Familie stammende nach Paris
emigrierten Berlinerin war wie dazu
prädestiniert, sie mit ihrer Kamera zu
dokumentieren.
Eingeladen hatte sie der Schriftsteller
André Malraux, der mit einer "alarmierenden
Rede, die das Pathos eines Kampfgeschreis
und Warnungsrufes hatte" (Klaus Mann) vor
etwa 3000 Zuhörern an die Werte des
"Humanismus" appellierte.
Das
Resultat ist eine Galerie von Portraits von
Schriftstellern und Denkern, die noch
ihresgleichen sucht: neben dem strahlenden,
wie ein Schauspieler der Zeit aussehenden
Malraux, der andere große Star der
französischen Delegation, ein eher asketisch
wirkender André Gide; Paul Nizan und Henry
Barbusse; Jean-Richard Bloch an Seite des
von der Versammlung umjubelten Heinrich
Mann; Anna Seghers mit den "Augen einer
Träumerin" und Bertolt Brecht "kahlrasiert
wie ein Gefangener"; Aldous Huxley und
E.M.Forster; Jlja Ehrenburg mit einem noch
unbekannten Boris Pasternak, der sich –allen
Tendenzen entgegensetzend – zum
Individualismus bekennt. Und zur Poesie!
Das
Portrait als "einzige direkte Verbindung des
Schriftstellers zu seinen Lesern" entwickelt
sich im Zuge dieses Erlebnisses zunehmend
zur kongenialen Kunstform Gisèle Freunds.
Die "Intimität der Gesichtslandschaft" reizt
sie entschieden mehr jedes andere Motiv. Zu
Hilfe kommen ihr die tiefe Kenntnis der
Literatur und ihre Vertrautheit mit
zahlreichen Autoren ihrer von Talenten
begnadeten Zeit. Viele von ihnen zählen zu
ihrem Freundeskreis.
Einnahmen, um ihren Überlebenskampf im
zunächst französischen Exil zu bestreiten,
bringen ihr die Reportagen für das
amerikanische Magazin Life, u.a. über die
Notstandgebiete in Nordenglands oder zum
Beispiel über Modeschauen in Paris. Die
meistens unbezahlten Portraits entstehen
jedoch "zu ihrem eigenen Vergnügen".
Zu den
seltenen Auftragsarbeiten gehört das
Portrait eines mit Lupe in der Hand in die
Buchlektüre versenkten James Joyce, das Time
1939 anlässlich der Veröffentlichung von
"Finnegans Wake" druckt. Die anderen in S/W,
ab 1938 auch in Farbe sind Schnappschüsse,
die sie inmitten einfühlsamer Gespräche
macht: Momentaufnahmen großer Intensität und
Zeugnisse zugleich von ergreifender
Authentizität, die sie nie im Nachhinein
verändert. Wie das schmale, hochsensible
Gesicht einer in sich hineinschauenden
Virginia Woolf und ein aus seinem Fenster
auf Saint-Germain-des Près herabblickender
Jean-Paul Sartre. Oder die vom Vollmond
erleuchtete, fahle Miene George-Bernard
Shaws mit – ganz zu seinem Leidwesen –
abgeschnittenen Prophetenbart.

Virginia Woolf in
ihrem Haus in London, 1939
© Gisèle Freund, Sammlung Dr. Marita
Ruiter |

Jean-Paul Sartre aus
seinem Fenster auf Saint- Germain-des
-Près, Paris 1959
© Gisèle Freund, Sammlung Dr. Marita
Ruiter |
Eindringlicher vielleicht als alle andere
das enigmatische, schräg von unten
fokussierte Antlitz Walter Benjamins. Mit
dem Verfasser von "Das Kunstwerk im
Zeitalter der technischen Reproduktion"
verband Gisèle Freund eine langjährige, von
gemeinsamen Interessen getragene
Freundschaft. Es war sie, die den in Paris
vereinsamten, verbitterter und fast
mittellosen Emigranten in den Kreis der
legendären Buchhändlerin Adrienne Monnier an
der Rue de l’Odéon, ein Sammelbecken der
brillantesten Köpfe der Zeit, einführte.
Eine fruchtbare Begegnung: kurz vor ihrem
Tod nannte Adrienne Monnier ausgerechnet
Walter Benjamin als den Intellektuellen, der
ihr geistig am nächsten gestanden hätte.
Benjamin
kannte Gisèle Freund noch aus Frankfurt, wo
sie Soziologie am Institut für
Sozialforschung bei Adorno, Horkheimer und
Norbert Elias studierte. Sie trifft ihn
wieder – wie eindrucksvolle Fotos belegen -
an der Bibiothèque Nationale in Paris, wo
sie an ihrer Doktorarbeit über die
"Photographie in Frankreich im XIX
Jahrhundert" arbeitet, welche nach ihrer
Promotion an der Sorbonne von Adrienne
Monnier veröffentlicht wird.

Selbstportrait mit Kamera, Mexico-City,
1950
© Gisèle Freund, Sammlung Dr. Marita
Ruiter |
Aus
Deutschland war sie 1933 mit ihrer ersten
Leica geflüchtet, mit der sie kurz davor
deutsche Studenten beim Hitlergruß und die
Körper ihrer von Hitleranhängern
totgeschlagenen Kommilitonen dokumentiert
hatte. Szenen aus dem Alltagsleben -
politische Massendemonstration in Berlin,
Ansammlungen von Arbeitern und Bürgern in
den Pariser Straßen, am Ufer der Seine oder
tanzend auf öffentlichen Plätzen, das bunte
Treiben der Makler vor der Pariser Börse -
sind die anderen bevorzugten Themen dieser
Pionierin der Photographie. Sie gleiten im
Gleichschritt mit ihrer Biographie voran,
als Spiegel der Erfahrungen, an denen ihr
langes, bewegtes Leben reich ist.
1940 vor
dem Einmarsch deutscher Truppen in
Frankreich flüchtet sie auf Einladung der
Schriftstellerin Victoria Ocampo nach
Argentinien. Dem lukrativen Portraitieren
prominenter Persönlichkeiten der
argentinischen High Society zieht sie vor,
sich an selbst gefährlichen Expeditionen
durch den latein-amerikanischen Kontinent zu
beteiligen. Berühmt werden ihre Reportagen
über Mexiko und Patagonien. Auch in
Südamerika erweitert sich den Freundeskreis
an Dichtern wie José Luis Borges oder Pablo
Neruda, die sich von ihr abbilden lassen.
Nach einer skandalträchtigen Reportage für
Time Life über den luxuriösen Lebensstil von
Evita Peron, die sogar für diplomatische
Verstimmungen mit den USA sorgt, siedelt sie
nach Mexiko über.
Dort
unterliegt sie nicht nur der Faszination der
gewaltigen Landschaft, sondern auch jener
der großen Maler der Zeit wie José Clemente
Orosco, Alfaro Siqueiros, vor allem Diego
Rivera und Frida Kahlo, in deren Haus sie
verkehrt.
Wie die
Mehrzahl deutscher Emigranten kehrt sie nach
dem Krieg nicht mehr in die einstige Heimat
zurück und lässt sich 1952 endgültig in
Paris nieder, wo sie mit vielen
Auszeichnungen darunter der "Legion
d’Honneur" und 1991 mit einer großen
Retrospektive ihrer Werke im Centre Pompidou
geehrt wird. Dort stirbt sie 2000 im Alter
von 91 Jahren.
"Der
gute Photograph" – schreibt Gisèle Freund –
muss in einem Gesicht lesen wie in einem
Buch. Er muss auch das Entschlüsseln, was
zwischen den Zeilen steht. Um ein guter
Photograph zu sein, muss man verstehen, die
Formen und ihren Geist in Licht und Schatten
zu übersetzen. Die Menschen einander näher
zu bringen, scheint mir eine der
wertvollsten Aufgabe der Photographie."
Gisèle Freund: Photographien und
Erinnerungen
25.11.2008 bis
18.01.2009
Versicherungskammer Bayern
Maximilianstraße 53, 80530 München
Mo-Fr 9.00 – 19.00 Uhr
Eintritt frei
Kuratorin: Isabel Siben
In Zusammenarbeit mit der Sammlerin Dr.
Marita Ruiter, Galerie Clairefontaine,
Luxembourg.
Begleitend zur Ausstellung ist zum 100.
Geburtstag von Gisèle Freund im Verlag
Schirmer/Mosel das Bild-Tagebuch
"Gisèle Freund – Photographien und
Erinnerungen" mit autobiographischen
Texten und einem Vorwort von Christian
Caujolle erschienen. [Bestellen?]
haGalil.com
18-12-2008 |