Der "Verlorene Transport":
Die Opfer von Tröbitz/Brandenburg
Von Heide Kramer, Hannover
Die Schwestern Hannah Pick-Goslar und Rachel Mozes-Goslar
besuchen am 14. Mai 2003 die Gesamtschule Uebigau, die Gedenkstätte
Langennaundorf sowie die Gemeinden Tröbitz (Jüdischer Friedhof) und Schilda
in Brandenburg/Elbe-Elster-Kreis.
Geschichtliches
Anfang April 1945 schickten die Nazis von Bergen-Belsen drei
Züge mit jeweils 2500 Häftlingen zur Vernichtung nach Theresienstadt. Der
letzte dieser drei Züge verließ Bergen-Belsen am 10. April 1945. Bedingt
durch die vorrückende Front irrte der Todeszug mit den aus mehr als zwölf
Nationen stammenden jüdischen Häftlingen dreizehn Tage ziellos durch
Deutschland. Die Fahrt endete bei Tröbitz, einem Dorf in Brandenburg. Hier
befreite am 23. April 1945 die Rote Armee über 2000 todkranke erschöpfte
Menschen aus den Viehwaggons. Eine Vielzahl von Häftlingen erlebte diesen
Augenblick nicht mehr, sie waren bereits während der Fahrt hauptsächlich an
Flecktyphus gestorben. Die Toten aus dem Zug wurden in Massengräbern im
Umkreis der Gemeinden Tröbitz und Schilda beigesetzt, so unter anderem an
den Bahnkilometern 101,6 bei Langennaundorf und 106,7 in der Gemarkung
Wildgrube.(1)
Das Massengrab am Bahnkilometer 106,7 in der
Gemarkung Wildgrube. Foto: Mit freundlicher
Genehmigung von ©Frau Erika Arlt,
Tröbitz/Brandenburg (Elbe-Elster)
Nur wenige der Überlebenden hatten in den verlassenen Häusern
der nahe gelegenen Dörfer Tröbitz und Schilda eine provisorische Unterkunft
gefunden. Der Todeszug aus Bergen-Belsen ist als "Zug der Verlorenen" oder
auch als der "Verlorene Transport" in die Geschichtsschreibung
eingegangen.(2)
Hannah Elisabeth und Rachel Gabriele Goslar im "Verlorenen
Transport"
Ruth und Hans Goslar flohen 1933 mit ihrer fünfjährigen
Tochter Hannah Elisabeth aus Berlin in die Niederlande nach Amsterdam. Hans
Goslar war bis 1933 Ministerialrat und Pressechef im Preußischen
Innenministerium Berlin. Er galt als journalistische Größe der Weimarer
Zeit. Am 25. Oktober 1940 kam in Amsterdam die zweite Tochter Rachel
Gabriele zur Welt. 1942 starb Ruth Goslar während der Geburt des dritten
Kindes. Es blieb nicht am Leben.
>
Geschichte der
Familie Goslar
> Mehr zur
Geschichte der Familie Goslar
1943 kam Hans Goslar mit seinen Töchtern und den
Schwiegereltern durch eine Großrazzia der Deutschen von Amsterdam zunächst
in das Durchgangslager Westerbork (wo im November 1943 sein Schwiegervater
Alfred Klee an einem Herzanfall starb) und danach in das deutsche
Konzentrationslager Bergen-Belsen. Hans Goslar starb hier am 25. Februar
1945, seine Schwiegermutter Therese Klee am 25. März 1945. Völlig allein auf
sich gestellt mussten auch die fünfzehnjährige Hannah und ihre vierjährige
Schwester Rachel Gabriele am 10. April 1945 ab Bergen-Belsen in Waggons die
Todesfahrt nach Theresienstadt antreten. Mit Tausenden von Häftlingen
erlebten die Mädchen nach dreizehn qualvollen Reisetagen am 23. April 1945
die Befreiung durch die Rote Armee bei Tröbitz in Brandenburg. Die schwerkranken, halb verhungerten Kinder
fanden im verlassenen unversehrten Haus des Bürgermeisters der benachbarten
Gemeinde Schilda für einige Wochen Obdach. Hannah bemerkte in einem Zimmer
des Hauses eine hellgrüne mit Hakenkreuzen gemusterte Tapete. Offensichtlich
hatte hier ein junges Mädchen ihres Alters gelebt. Eine für Hannah
schockierende Wahrnehmung, die ihr unvergesslich bleiben sollte.
Mai 2003: Besuch der Schwestern Hannah Pick-Goslar und
Rachel Mozes-Goslar in Tröbitz und Schilda
Im Mai 2003 wurde Hannah Pick-Goslar erneut mit ihrer
Schwester Rachel Mozes-Goslar von der Regionalen Arbeitsstelle für
Ausländerfragen (RAA) in Strausberg /Brandenburg eingeladen. Die Spurensuche
sollte diesmal in Tröbitz erfolgen. Das Haus in Schilda, das ihr und ihrer
Schwester nach der Befreiung aus dem Zug im April 1945 Obdach bot, war Frau
Pick nicht aus dem Sinn gegangen. Ende der neunziger Jahre hatte sie bereits
während eines anderen Aufenthaltes bei der RAA Strausberg die Gemeinden
Tröbitz und Schilda sowie das dortige ehemalige Bürgermeisterhaus
aufgesucht. In Tröbitz lernte sie Frau Erika Arlt kennen, der es gelang, in
Schilda die von Frau Pick erwünschte Begegnung mit der hier verbliebenen
Bürgermeistertochter (Frau H.) zu ermöglichen. Im Mai 2003 wollte Hannah nun
ihrer Schwester Rachel die authentischen Orte zeigen, inbegriffen das
ehemalige Bürgermeisterhaus in Schilda.
Rachel jedoch erinnert sich nicht mehr an das damalige
Geschehen.
Ich begegnete Frau Erika Arlt im August 2000 während einer
Gedenkstättenreise nach Tröbitz und Torgau, und wir hielten den Kontakt
aufrecht. Gern folgte ich nun im Mai 2003 ihrer freundschaftlichen
Einladung, schon einen Tag früher in Tröbitz anzureisen und in ihrem Haus
Quartier zu nehmen, denn wir wollten uns mit den Schwestern Goslar treffen.
Erika Arlt
geboren am 30. März 1926. Sie stammt aus Halle/Saale und lebt
seit den fünfziger Jahren in Tröbitz. Mit ihrem Ende der neunziger Jahre
verstorbenen Ehemann und ehemaligen KZ-Häftling Richard Arlt setzte sie sich
jahrzehntelang intensiv dafür ein, das Schicksal der Opfer vom "Verlorenen
Zug" nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die Erinnerung wach zu
halten. Dem selbstlosen Engagement von Frau Arlt ist es zu verdanken, dass
sich immer wieder Angehörige der Verstorbenen und Überlebende vom
Todestransport an sie wenden. Die Menschen reisen aus aller Welt an, um
Erika Arlt in Tröbitz zu kontaktieren. Sie besucht mit ihnen gemeinsam die
Familiengräber auf dem Jüdischen Friedhof und die Gedenkstätten in der
Umgebung. Schon oft bot die uneigennützige Frau Arlt den Weitgereisten
großzügig Gastfreundschaft. Innerhalb vieler Jahre hat sie Schicksale von
Betroffenen aus dem Todeszug erforscht und aufgeschrieben. Mitte der
neunziger Jahre publizierte sie eine informative Schrift (siehe Hinweis
unten).
Am 2. Juni 1997 erhielt Frau Erika Arlt durch den damaligen
Bundespräsidenten Roman Herzog das Verdienstkreuz am Bande des
Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Im Namen des
Bundespräsidenten übergab ihr der Landrat des Landkreises Elbe-Elster am 25.
August 1997 diese Auszeichnung.
Frau Erika Arlt ist am 12. November 2015 im Alter von 89
Jahren in ihrer häuslichen Umgebung verstorben.
Hannah Pick-Goslar und Rachel Mozes-Goslar in der
Gesamtschule Uebigau/Elbe-Elster Brandenburg
Am 14. Mai 2003 traf ich mit Erika Arlt in der Gesamtschule
der Stadt Uebigau (bei Falkenberg/Elbe-Elster) ein. Hannah Pick und Rachel
Mozes wurden in der Schule voller Spannung erwartet. Die Schule hatte sich
sehr einfühlsam und gut organisiert auf die Veranstaltung vorbereitet, das
Lehrerkollegium zeigte sich seinen Gästen gegenüber offen. Alle wollten die
Leidensgeschichte der Schwestern hören, die 1945 nach der qualvollen Fahrt
im Todeszug bei Tröbitz in Brandenburg endete. Eine kommunikative junge
Lehrerin nahm sich unserer an. Hannah und Rachel trafen gegen 10.00 Uhr in
Begleitung zweier Vertreter der RAA Strausberg ein. Aber auch anwesende
Vertreter der Stadt Uebigau und der Gemeinde Tröbitz würdigten die
Schwestern.
Rachel hatte sich zurückgezogen, um sich auf ihren ersten
eigenen Vortrag vorzubereiten. Sie begrüßte schließlich im Klassenzimmer die
Schülerinnen und Schüler und die weiteren Anwesenden mit "Shalom".
Rachel Mozes hält ihren Vortrag. Foto: ©Heide Kramer, Hannover, Mai 2003
Ihr Beitrag richtete sich auf die Gegenwart. Charismatisch
stellte sie den Zuhörern die facettenreichen jüdischen Lebenswelten vor,
erzählte von den Eigenarten, Gewohnheiten, Begebenheiten, aber auch der
Trauer in ihrem Land. Sie bezog die Jugendlichen praxisnah ein. Schließlich
lehrte sie uns ein hebräisches Lied. Ich wünschte mir, dass die anwesenden
Schülerinnen und Schüler diese soeben durch Rachel erworbene wertvolle
Erfahrung für sich verinnerlichen würden.
Am Ende war es spürbar, wie schwer es für die anwesenden
Jugendlichen gewesen sein musste, das Geschehen nachzuvollziehen und diese
soeben erlebte Konfrontation zu verkraften.
Die Schwestern Hannah Pick-Goslar und
Rachel Mozes-Goslar nach der
Schulveranstaltung in Uebigau.
Foto: ©Heide Kramer, Hannover, Mai 2003
Die Gedenkstätte Langennaundorf
Nach der Schulveranstaltung fuhren wir zur Gedenkstätte
Langennaundorf. Unser Besucher- und Teilnehmerkreis hatte sich inzwischen
vergrößert: Unter anderem war Zivilpolizei zum Schutz der Gäste angereist.
Die drei Kriminalbeamten zeigten sich am Thema sowie am Engagement von Frau
Arlt interessiert und äußerten motiviert ihre Absicht, ihren Wissensstand
durch Vortragsreihen bei der RAA Strausberg zum Thema "Faschismus" zu
erweitern.
Beim Kilometerstein 101,6
Die Gedenkstätte Langennaundorf liegt im Wald und unmittelbar
am Bahndamm der Kilometerstein 101,6. Der Todeszug war hier am 20. April
1945 stehen geblieben, da die durch einen Luftangriff zerstörte
Eisenbahnbrücke die Weiterfahrt verhinderte. An diesem Bahnkilometer 101,6
wurden die Toten aus dem Zug in einem Massengrab beigesetzt.
Am 23. April 1989 ist die Gedenkstätte für die jüdischen
Opfer des Faschismus eingeweiht worden.
Auf einem großen Naturstein ist zu lesen:
In ehrendem Gedenken
Den jüdischen Opfern
Des Faschismus
22. April 1945
Gedenkstätte Langennaundorf. Von rechts: Erika Arlt, Dr. M. D.,
Hannah Pick-Goslar, Rachel Mozes-Goslar. Foto: ©Heide Kramer,
Hannover, Mai 2003
Der Jüdische Friedhof in Tröbitz
Andere Verstorbene aus dem Verlorenen Zug fanden im April
1945 auf einem eingerichteten jüdischen Friedhof in Tröbitz ihre letzte
Ruhe. Der jüdische Friedhof wurde 1966, also zuzeiten der Deutschen
Demokratischen Republik, zur Mahn- und Gedenkstätte bzw. zum jüdischen
Ehrenfriedhof erklärt und eingeweiht.
Auf einem Gedenkstein steht:
Zum Gedächtnis an die jüdischen Männer und Frauen,
die noch 1945 in Tröbitz dem mörderischen Faschismus erlagen,
wurde dieser Stein als Mahnung für die Lebenden gesetzt.
Zwei Davidssterne kennzeichnen das Eingangstor zum Friedhof
in Tröbitz.
Hannah und Rachel betrachteten aufmerksam die Grabreihen und
suchten nach bekannten Namen aus dem Todeszug. So fanden sie das Grab von
Mickel Abrahams, dem Sohn der Familie Abrahams, Jahrgang 1927. Er war
unmittelbar nach der Befreiung durch die Rote Armee im April 1945 gestorben.
Die Familie Abrahams nahm sich bereits in Bergen-Belsen der Schwestern
Goslar an und blieb auch während der Fahrt im Waggon mit ihnen zusammen. So
kümmerten sie sich besonders um die kleine Rachel, indem sie das kranke Kind
mit eigenen Milchrationen versorgte.
Die Suche nach eingemeißelten (bekannten) Namen an der
Gedenkwand am Ende des Friedhofsterrains erwies sich jedoch als erfolglos.
Vor dem Jüdischen Friedhof in Tröbitz. Von rechts: Erika Arlt, Dr. M. D.,
Hannah Pick, Heide Kramer, Rachel Mozes. Foto: Simone L., Gesamtschule
Uebigau, Mai 2003
Das Bürgermeisterhaus in Schilda und die Begegnung mit der
Bürgermeistertochter Frau H.
Unsere letzte Station war Schilda. Diese Nachbargemeinde von
Tröbitz wurde im April 1945 zum Zufluchtsort der Schwestern Goslar. Nun
stand unsere Gruppe vor dem ehemaligen Bürgermeisterhaus, über das wir schon
so viel gelesen und gehört hatten. Frau Arlt klingelte zunächst vergeblich,
doch dann öffnete Frau H. Ein Vertreter der damaligen RAA Strausberg
erklärte die Situation und bat Frau H. höflich um Einlass für die Schwestern
Goslar, die sich gern die Räumlichkeiten anschauen würden. Frau H. ließ die
Schwestern nur zögernd das Grundstück betreten. Sie wurden über einen Hof in
das Haus geführt. Hannah legte Wert darauf, ihrer Schwester Rachel unter
anderem das besagte "Hakenkreuztapetenzimmer" zu zeigen. Doch mit diesem
Wunsch wies Frau H. die Schwestern entschieden ab. Ich spürte, dass beiden
das "Damals" in diesem Augenblick sehr gegenwärtig wurde.
Frau H. erzählte, sie sei im April 1945 gerade in Stendal
gewesen, und ihr Vater habe im April 1945 nicht mehr als Bürgermeister
amtiert. Er wurde kurz vor dem Zusammenbruch noch eingezogen und kehrte
nicht zurück.
Hannah und Rachel verlassen das Haus.
Foto: ©Heide Kramer, Hannover, Mai 2003
Am Ende der Konfrontation mit der Bürgermeistertochter Frau
H. fühlte jeder im Teilnehmerkreis eine große Anspannung von sich abfallen.
Bald darauf wurden in einer Tröbitzer Gaststätte die gemeinsam durchlebten
und schwer wiegenden Eindrücke dieses Tages ausgetauscht, und allmählich
stand die Heimfahrt an. Wir trennten uns freundschaftlich.
Erlebt und aufgezeichnet von ©Heide Kramer, Hannover, im
Mai 2003.
Fotos: ©Erika Arlt, Tröbitz/Brandenburg und ©Heide Kramer,
Hannover/Niedersachsen, Mai 2003.
Literaturhinweise:
©Erika Arlt: "Die jüdischen Gedenkstätten Tröbitz, Wildgrube,
Langennaundorf und Schilda im Landkreis Elbe-Elster"; Herausgeber: Landkreis
Elbe-Elster, Kulturamt, 04916 Herzberg, Grochwitzer Str. 20.
©Alison Leslie Gold: "Erinnerungen an Anne Frank - Nachdenken über eine
Kinderfreundschaft", Ravensburger Buchverlag.
(1) und (2) ©) Erika Arlt: "Die jüdischen Gedenkstätten Tröbitz, Wildgrube,
Langennaundorf und Schilda im Landkreis Elbe-Elster".
Aktualisiert: November 2015 |