|
Visionen des europäischen Kosmopolitismus:
Tel-Aviv
Aus
der Einleitung zu
Gedächtnisraum Europa von
Natan Sznaider
Gelebter jüdischer
Pluralismus:
Universalismus und Partikularismus nicht als
sich gegenseitig ausschließende Begriffe,
sondern als gelebte Praxis
Das führt dazu, dass kosmopolitische
Debatten unhistorisch geführt werden, ja
geführt werden müssen, um partikulare
Erfahrungen und Erinnerungen in eine
universale Schablone einzupressen. In der
Menschheit, so kann man sagen, gibt es
keinen Ort für die Menschen in ihrer
Besonderheit. Das Weiterbestehen und
Weiterbestehen wollen von Partikularität
wird nur noch als Rückschritt und Reaktion
verstanden. Wenn man die europäische
jüdische Erfahrung jedoch mit in die Analyse
holt - und genau das ist unser Anliegen -,
werden Universalismus und Partikularismus,
das Allgemeine und das Besondere keine sich
gegenseitig ausschließenden Begriffe mehr
sein, sondern gelebte Praxis. Das ist
historisch schwierig, denn diese gelebte
Praxis, die jüdische kulturelle Existenz in
Europa, existiert trotz der physischen
Anwesenheit von Juden in Europa nicht mehr.
Der gelebte jüdische Pluralismus existiert
heute fast nur noch in den USA und in
Israel, wo die meisten Überlebenden des
Holocaust ihr Leben wieder aufnahmen. In
Europa blieb kaum noch die Erinnerung
zurück. Europa wurde für Juden zum schwarzen
Loch, zu einem nicht definierbaren "Dort",
das nicht mehr existiert. Deutschland und
Europa lebten weiter, die jüdische Kultur
jedoch hat dort nicht überlebt und existiert
nur noch im virtuellen Raum. Damit wird auch
die Beziehung zwischen Erinnerung und
Geschichte neu geschrieben. Es geht nicht
mehr um Nationalgeschichte. sondern um
Erinnerungsgeschichte (Diner 2003). In der
Erinnerung können mehrere Geschichten -und
damit auch Universalismus und
Partikularismus, das Allgemeine und das
Besondere - gleichzeitig existieren.
Dies ist vor allem bei der Erinnerung an den
Holocaust der Fall: War es ein
Menschheitsverbrechen oder ein Verbrechen
gegen die Juden? Ist das Verbrechen mit
anderen vergleichbar? Muss eine besondere
Sprache gesprochen werden, um über die
Judenvernichtung zu reden? Sind dies
moralische oder historische Debatten?
Auf der einen Seite hat die Judenvernichtung
Begrifflichkeiten der Aufklärung
herausgefordert, ja sogar den Begriff der
»Dialektik der Aufklärung« mitgetragen, auf
der anderen Seite, fast schon auf paradoxe
Weise, wurde die Judenvernichtung zur Quelle
nicht nur der Kritik am Universalismus,
sondern auch seiner Erfüllung durch
Menschenrechte und Völkermordprävention.
Beides wurde oft gleichzeitig von denselben
Kritikern propagiert. Ich werde diesen
Debatten nachgehen, sie historisch
rekonstruieren, um auf diese Weise zu einer
neuen Form des realistischen Kosmopolitismus
durchzudringen, die jenseits von
Universalismus und Partikularismus
angesiedelt ist. Dieser Essay entsteht
außerhalb Europas, zieht aber immer wieder
nach Europa zurück.
Eine zentrale Frage, die sich hierbei
stellt, lautet: Gibt es universalistische
Mindestvorgaben, auf die man sich einigen
kann, ohne partikularistische
Mindestvorgaben aufgeben zu müssen? Gerade
jüdische Intellektuelle mussten diese Fragen
nach dem Holocaust für sich neu verhandeln.
Sie taten das sowohl "unter sich" als auch
in Auseinandersetzung mit ihrer
nicht-jüdischen Umwelt. Wie wir sehen
werden, diskutierten sie dabei unter
wechselnden Voraussetzungen und vor dem
Hintergrund unterschiedlicher Verständnisse
der Problematik. Die Diskussion drehte sich
oft um die europäische Vergangenheit und wie
die jüdisch-europäische Vergangenheit in
Israel und in den USA weitergelebt werden
könnte. Dabei stand jedoch nicht nur das
Debattieren im Vordergrund, vielmehr waren
europäische jüdische intellektuelle auch
praktisch an einem Projekt beteiligt, in dem
sie von den Nazis beschlagnahmte jüdische
Kulturgüter von Deutschland und Europa nach
Israel oder in die USA schafften.
Man kann sagen, dass diese jüdischen
Intellektuellen die Spannung zwischen dem
Universalen und dem Partikularen
aufrechterhalten und außerhalb Europas
weiterleben wollten. Die damit verbundenen
Schwierigkeilen und Probleme sowie ihre
Unfähigkeit, weder ihre universalistischen
Träume noch ihre ethnische Identität
aufgeben zu wollen, waren jedoch nicht das
Resultat von traumatischer Inkonsequenz und
Exil, sondern stellen Überlegungen dar, die
noch für heutige kosmopolitische Debatten
hoch relevant sind - sie konstituieren die
heutigen Debatten geradezu.
Kosmopolitismus ist nicht nur ein nobles Ideal, das von
menschlicher Größe ausgeht, sondern eine klare Herausforderung an unser Leben.
Es geht darum, wie man nach der Katastrophe weiterleben kann...
... weiter im
Buch...
Natan Sznaider:
Gedächtnisraum Europa
Die
Visionen des europäischen Kosmopolitismus.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
*1) So der Abgeordnete
Stanislas de Clermont-Tonnerre
in der Nationalversammlung von 1791.
|
|
|