Hintergrund:
Ein Neuer Naher Osten?
Von Benjamin Rosendahl
Bis vor kurzem war der Begriff "Naher Osten" mit dem
Begriff "arabische Welt" identisch. Das ist nicht mehr der Fall.
Im August besuchte Irans Präsident Mahmoud Ahmadinejad die
Türkei, wo er am traditionellen Freitagsgebet in der Blauen Moschee
teilnahm. Dieser Besuch symbolisiert das Ende des Einflusses der arabische
Welt im Nahen Osten. Auch ist dieser Besuch symptomanisch für die Trends,
die in den letzten Jahren den Nahen Osten neu gestaltet haben: Die Rückkehr
zur Religion, der Aufstieg des Shiismus und die Neuverteilung von Loyalität.
Der Untergang des arabischen Einfluss
Der "Nahe Osten" war lange gleichbedeutend mit der
"Arabischen Welt". Die gemeinsame Sprache verbindet die meisten Länder des
Nahen Ostens westlich Irans, deren Grenzen untereinander oft mit dem Lineal
durch die englischen oder französischen Besatzer geschaffen wurden. So war
es denn nur natürlich, dass der gemeinsame Nenner im Arabischen gesucht
wurde. Schließlich sprechen 300 Millionen Menschen im Nahen Osten arabisch
und es ist bei weiten DER vereinigende Faktor. Die Idee des Pan-Arabismus
war es also, sämtliche Arabischsprecher in einem Staat zu vereinigen.
Verschiedene theoretische Ansätze dazu gab es bereits in den 20er und 30er
Jahren. Jedoch wurden die ersten praktischen Umsetzungen erst in den 50er
Jahren gemacht. Die beiden Hauptakteure (und Konkurrenten für den Einfluss)
hierbei waren Ägypten und der Irak: Ägypten unter Abd al-Nasser vereinigte
sich mit Syrien zur "Vereinigten Arabischen Republik", während der Irak
Faisals sich mit Jordanien vereinigte. Andere Staaten folgten. Es schien,
als sei ein neues, panarabisches Zeitalter angebrochen.
Schlussendlich sind diese Versuche jedoch gescheitert. Historiker streiten
sich bis heute darüber, welche Rolle dabei der Verlust der arabischen Armeen
gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg (1967) gespielt hat. Interessanter jedoch
ist die historische Ironie, dass letztendlich die Loyalität zu den von
europäischen Kolonialherren künstlich geschaffenen Nationen größer war und
ist, als die Loyalität zu einer natürlichen Identität wie die arabische
Sprache.
Und heute? Das einst mächtige Ägypten ist zu einem Dritte-Welt-Land
geworden, dessen Regierungschef ein blasser Abglanz seiner Vorgänger
(Nasser, Sadat etc.) ist. Der Irak ist in einen Bürgerkrieg verwickelt und
politisch absolut gelähmt. Auch im Libanon herrscht ein Bürgerkrieg. Und in
den Staaten, wo eine neue Generation die Macht übernommen hat (Jordanien,
Syrien), konnte diese ihren Vätern nicht das Wasser reichen. Sowohl
wirtschaftlich als auch politisch ist der arabische Einfluß im Nahen Osten
auf dem absteigenden Ast.
Die arabische Welt ist im Abstieg. Ihren Platz haben
nicht-arabische Mächte eingenommen, vor allem die Türkei, Israel und der
Iran. Wie kam es zu diesem neuen Machtverhältnis? Drei Faktoren spielten und
spielen hier eine bedeutende Rolle: Das Ende des Kalten Krieges, die
Wirtschaft und die Renaissance der Religion.
Der Aufstieg neuer Kräfte: Nicht-Araber
Der Nahe Osten war lange ein Stellvertreterkrieg für den
Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und Amerika. Während die Sowjetunion
vor allen die arabischen Länder aufrüstete, gab Amerika militärische
Unterstützung für die Türkei, Israel und den Iran (bis zur islamischen
Revolution 1979), also den nicht-arabischen Staaten des Nahen Osten. Mit dem
Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren auch
ihre Stellvertreter, die arabischen Staaten, an Einfluss. Die Gegner der
Sowjets jedoch kamen als Sieger hervor: Israel, die Türkei, der Iran und
Afghanistan gewannen an Macht und Einfluss in der Region.
Diese politische Macht ging einher mit wirtschaftlicher
Macht, vor allem aufgrund natürlicher Ressourcen: Iran hat bekannterweise
einer der größten Ölreserven im Nahen Osten, Afghanistan hat neben Öl vor
allem natürliches Gas und die Türkei, die selbst eine hohe Anzahl an
natürlichen Ressourcen hat, ist aufgrund ihrer strategischen, geographischen
Lage das Zentrum von Öl-Pipelines. Diese Ressourcen der nicht-arabischen
Staaten sind ein Machtfaktor – nicht nur im Nahen Osten, sondern allgemein
in der globalen Wirtschaft. Einzige Ausnahme hier ist Israel, das außer Salz
keine natürlichen Ressourcen hat, jedoch technisch hochentwickelt ist, und
zudem Hauptempfänger amerikanischer finanzieller Unterstützung in der
Region.
Schließlich spielt die Renaissance der Religion in der Region
eine wichtige Rolle: Insbesondere die iranische Revolution von 1979 ist hier
zu nennen, die die Massen mobilisiert, das Regime gestürzt und es mit einer
islamische Republik ersetzt hat. Die religiöse Renaissance hat sich seit
damals im ganzen Nahen Osten ausgebreitet, was zur Folge hatte, dass die
immer noch säkular geführten arabischen Staaten (mit Saudi-Arabien als
Ausnahme) geschwächt wurden, während nicht-arabische Staaten (Afghanistan,
Türkei) religiöse Regierungen gründeten. So sind neue Loyalitäten
entstanden, die früher undenkbar gewesen wären: Der (schiitische) iranische
Präsident Ahmedinedjad wurde mit offenen Armeen in der (sunnitischen) Türkei
begrüßt, was aufgrund der kulturellen und politischen Differenzen früher nie
möglich gewesen wäre.
Der Aufstieg neuer Kräfte: Die Shia
Außer in arabische und nicht-arabische Staaten lässt sich der
Nahe Osten auch in sunnitische und schiitische Völker einteilen. Beides sind
religiöse Ausrichtungen innerhalb des Islams. Die theologischen Unterschiede
zu detaillieren, würde wohl den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher eine
kurze Zusammenfassung: Nach der Ermordung des vierten der "Rashiddun"
("Gerechten", gemeint sind die Kalifen, die die Macht nach dem Tode des
Propheten übernahmen), Ali, durch einen Glaubensbruder, bildete sich die
Schi’Ali ("Partei Alis"), kurz: Schia, die sich bald in eine eigene
Religionsströmung innerhalb des Islams entwickelte. Grundsätzlich ist der
Sunnismus eher dogmatisch und rechtlich orientiert, während der Schiismus
der Mystik und dem Messianismus offener steht.
Geographisch betrachtet ist der Westen des Nahen Osten fast komplett von
Sunniten dominiert, während der Osten hauptsächlich von den Schiiten
dominiert wird. Die Bufferzone zwischen den beiden Gruppen war lange Zeit
der Irak, dessen Bevölkerung zwar mehrheitlich aus Schiiten bestand (und
weiterhin besteht), nicht aber dessen Regierung, nämlich Saddam Husseins und
der Baath-Partei, die auch eine "Filiale" in Syrien hatte. Der
Irak-Iran-Krieg in den 80er Jahren war also ein innerislamischer Bruderkrieg
um die Vorherrschaft im Nahen Osten.
Mit dem Fall Saddam Husseins fiel auch die letzte Bastion des sunnitischen
Islams: Der Irak befindet sich in einem Bürgerkrieg, wo die Schiiten
zunehmend an Macht gewinnen, was auch die Stellung des Nachbarlandes Iran in
der Region verstärkt. Dem kommt hinzu, dass sich auch in weiten Teilen des
sunnitischen Nahen Osten die Demographie zugunsten der Schiiten entwickelt,
insbesonders im Libanon, aber auch in kleineren Staaten wie z.B. Bahrain.
Die sunnitischen Staaten sind wirtschaftlich und militärisch eher auf dem
Rückzug und können diesem Trend wenig entgegensetzen.
Was bedeutet das für den Nahen Osten? Der Kalte Krieg ist endgültig vorbei
und hat Platz gemacht für einen "heißen" Bruderkrieg. Das Ausmaß und das
Ergebnis dieses innerislamischen Glaubenskrieges ist noch ungewiss. Sicher
ist nur, dass wohl wenig von der alten Machtverteilung bleiben wird, sowohl
zwischen den Staaten des Nahen Osten, als auch innerhalb der einzelnen
Staaten.
Benjamin Rosendahl studierte "Middle Eastern and Islamic
Studies" an der Hebräischen Universität Jerusalem und hat sich intensiv mit
dem Thema beschäftigt. Er liest und spricht Arabisch.
Weiterführende Literatur: Fouad Ajami:
The Arab Predicament (Cambridge: 1981)
Dietrich Alexander: Die Angst der sunnitischen Herrscher vor dem
schiitischen Halbmond (Die Welt vom 3. März 2007)
Soner Cagaptay : Turkey bows to the dark side. Mahmoud Ahmadinejad's visit
is a sign that the West can no longer take Turkey for granted as a staunch
ally against Iran. (Los Angeles Times, 19. August, 2008,
auch online)
Michael Fischer: Iran: From Religious Dispute to Revolution (Cambridge:
1980)
Haim Gerber: The Social Origins of the Modern Middle East (Boulder: 1987)
Israel Gershoni: Rethinking Nationalism in the Arab Middle East (New York:
1997)
Fred Halliday: The Nationalism Debate in the Middle East (Middle Eastern
Lectures, no. 3, 1999)
Heinz Halm; Die Schia (Darmstadt: 1988)
Jamil Hanifi: The Other Shiites – from the Mediterranean to Central Asia.
Book Review. (The Middle East Journal, vol. 62, no. 3, 2008)
Bernard Lewis: The Arabs in History (London: 1950)
Bernard Lewis: Islamic Revolution (The New York Review of Books, vol. 34,
no. 21 & 22, 1988, auch
online)
Asher Susser: The Decline of the Arabs (Middle East Quarterly, Fall 2003,
auch
online)
Paul A. Williams and Ali Tekin: The Iraq War, Turkey and Renewed Caspian
Energy Prospects (The Middle East Journal, vol. 62, no. 3, 2008)
M.E. Yapp: The Near East since the First World War (Harlow: 1996)
Links zum Thema:
http://de.wikipedia.org/wiki/Panarabismus
http://www.siyassa.org.eg/esiyassa/Index.asp?CurFN=kada2.htm&DID=9539
http://www.geocities.com/martinkramerorg/ArabNationalism.htm
http://www.youtube.com/watch?v=KWvmGP6nfFg
http://www.guardian.co.uk/world/2006/jul/23/israel.syria
http://www.foreignaffairs.org/20060701faessay85405/vali-nasr/when-the-shiites-rise.htmll
http://www.rand.org/pubs/monographs/MG726/
http://www.iranchamber.com/history/islamic_revolution/islamic_revolution.php |