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Auschwitz

Eine Kurzgeschichte von Olga Kogan

Neulich bin ich einem Mädchen begegnet. Ich bin ihr begegnet. Der Zug ruckelte knatternd hin und her. Man wurde das Gefühl nicht los, dass er gleich entgleisen würde. Sie saß steif auf ihrem Sitz und spürte ihren Magen mit ruckeln, während die Maschine langsamer und langsamer wurde.

Hier sind sie auch entlang gefahren und die mit ungeheuerer Last beladenen Züge ächzten wohl noch mehr unter dem Gewicht der Menschenmassen. Sie sind hier lang gefahren und die Sonne hatte genauso geschienen, der Himmel war nicht weniger blau, die Wiesen nicht weniger grün. Nur die Luft, die war nicht so rein, sondern schmeckte trocken und bitter-salzig, war stickig und staubig. Es war die Luft des Krieges, die Abgase des Todes, die Asche der Verbrannten, die ihnen die schon ohnehin trockenen Zungen verbrannte. Sie sahen sich das alles an und hatten wahrscheinlich genau dieselbe Frage wie auch sie gerade im Kopf: "Warum? Wofür?" und die panische Ungewissheit fraß sich immer tiefer ins Innere hinein.

Grosse, ehemalig weißen, nun aber grau gewordenen Buchstaben erschienen einer nach dem anderen in ihrem Blickfeld. Wie drohende Raubvögel tauchten sie in der Tiefe des dunklen Zuges auf und blieben in den Fenstern hängen. "Oświęcim". Ein letztes Ruckeln. Der Zug stand. Der Name bedeutete Weltgeschichte. Der Name war ein Synonym für Tod. Der Name war der Grund, warum sie hergekommen war, warum sie die Reise von Deutschland nach Polen auf sich genommen hatte. Nun war sie da und ihre Knie vermochten die Beine nicht aufzurichten, um aus dem Zug zu steigen. Wie sollte sie auf diesen Grund auftreten? Wie die Augen auf die nun über ihr schwebenden Buchstaben richten? Wie war es überhaupt möglich, dass an diesem Ort Menschen lebten, wenn sie noch nicht mal atmen konnte und die Luft in kleinen Schlückchen aufnahm?

Ich stieg mit aus, obwohl ich hätte weiterfahren können. Die Gruppe ging los, den Schildern "Museum Auschwitz" folgend. Alle redeten, doch niemand sprach über seine Erwartungen, über den Grund, warum sie, Deutsche hier waren. Niemand außer ihr. Ich schaute sie an. Sie sah durch mich hindurch und schnell wieder weg. Einige Minuten später sammelte sich die Gruppe mit einer Führerin ausgestattet vor dem berühmten Tor "Arbeit macht frei". Ich folgte dem Blick des Mädchens. Er war nicht auf die Aufschrift gerichtet, sondern auf das Szenario, welches sich davor abspielte. Ein junger Mann stand breitbeinig und kerzengerade vor dem Tor, als wäre er in den Boden eingewachsen. Er hielt die israelische Flagge vor seiner Brust ausgebreitet. Halten ist eigentlich das falsche Wort – er krampfte sich in ihr fest, bis die Knöchel weiß heraustraten. Sein Gesicht war ausdruckslos. Eine tote Maske. Nur die Augen glühten schwarz mit Hass, mit Wut, mit Schmerz. Er stand hier für das ganze jüdische Volk, für alle, deren Blut hier geflossen hatte, für alle Gestorbenen, Lebenden und noch kommenden jüdischen Generationen der Welt. Um ihn waren andere jungen Leute versammelt und machten Fotos von dieser lebenden Skulptur. So stand er da und die Sonne mache das Blau des Davidsterns noch blauer und den schneeweißen Hintergrund noch strahlender. Licht ging von ihm aus und Kraft, Leben. Dem Dunkeln, dem Tod, der Verfolgung seines Volkes zum Trotz stand er nun dort vor diesem Tor und hielt das Symbol des Judentums, des Staates Israel hoch in die Luft und ehrte die Gefallenen.

Meine Begleiterin machte ein paar Schritte Richtung des jungen Mannes und ihre Augen fingen an zu strahlen, die Kaumuskeln bewegten sich heftig, die Schläfenhaut spannte sich. Dann sah sie zu mir. Ich sagte nichts. Sie schaute sich irgendwie verloren um. Ihre Augen bekamen einen müden Ausdruck. Sie trat einen Schritt zurück. Die Gruppe setzte sich in Bewegung und die Anderen drehten ihr den Rücken zu. Schnell, wie ein gehetztes Tier, drehte sie sich um und schoss ein Foto.

Die Baracken zu Blöcken angeordnet, die Bäume zu Alleen gewachsen, roter Backstein, mit Brettern zugenagelte Fenster. "Es sieht gar nicht so schlimm aus." hörte man aus allen Ecken. Sie blieb stehen und drehte sich zu mir. Ich schaute ihr in die Augen. Nein, das war nicht das, was sie sehen wollte, nicht das, wofür sie hierher gekommen war. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Gott, waren sie tief geworden, unglaublich tief und abwesend, wie nicht von dieser Welt. Sie fing an, sich umzusehen. Ich folgte ihr und sah eine andere Welt. Um uns herum hörte man Schreie und Schüsse, des Knarren von Karren und das Rollen von Rädern. Man hörte Schritte – feste, marschierende Stiefel, schleppende, stolpernde Füße. Man sah Tausende Menschen, die sich an uns vorbeischleppten, denn gehen konnte man das nicht nennen. Riesige Augen aus tiefen Augenhöhlen, Häftlingsanzüge an lebenden Skeletten, Blutspuren auf dem Boden, Haufen von übereinander gestapelten Leichen. Wir schritten in unseren Turnschuhen über den Boden und spürten spitze Kanten von Steinen unter unseren Sohlen. Welche Schnittwunden mochten diese scharfen Kanten wohl nackten, abgefrorenen Füßen zufügen?

Die Erscheinung verschwand. Wir folgten der Führerin durch die Museumsräume. Sie nannte Zahlen, Namen, Fakten, doch der Blick des Mädchens war wieder irgendwo anders. Er ruhte auf den vielen israelischen und amerikanischen Gruppen, die neben uns standen. Manche in weißen Jacken mit einem Davidstern und "Israel" darauf, andere mit einer Flagge umwickelt. Ihre Augen sogen hungrig, sehnsüchtig jedes kleinste Detail dieser Gesichter auf, dieser jüdischen Gesichter. Die Führerin sprach von Ärzten von der Universität Münster, die Experimente mit Zwillingen gemacht hatten, und das Mädchen stand da und starrte in die Luft. Die Führerin sprach von ukrainischen Juden, die nach Auschwitz gebracht worden waren und sie stand immer noch da und starrte ohne zu zwinkern. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht, als die Frau davon berichtete, wie Frauen, Kinder und alte Leute an der Rampe aussortiert und vergast wurden. Kein einziger Ton entfuhr ihren Lippen, nur eine einzige, einsame Träne verließ die riesigen lautlos schreienden Augen, lief heiß über ihre rechte Wange und schmeckte unglaublich salzig auf den trockenen, rissigen Lippen. Sie sagte nichts, sondern starrte auf einen Punkt. Sie war Deutsche, sie war Medizinstudentin in Münster, sie kam aus der Ukraine und sie war Jüdin. Und nun stand sie auf der falschen Seite. Stand bei denen, die ihrem Volk das alles angetan hatten, statt dort drüben bei den jüdischen Gruppen. Eigentlich waren es nur ein paar Schritte, die sie von einander trennten, doch in Wirklichkeit waren es Welten.

Und zwischen diesen Welten stand ihre Feigheit, sich zu outen, zu sagen, wer sie wirklich war. Und sie durfte nicht schreien und sie durfte nicht weinen und sie durfte nicht beten, nicht reden, keine Flagge stolz in der Luft schwenken, sich nicht an ihren Nebenmann anlehnen. Das Einzige, was ihr blieb, war nur sich mit einem Vakuum zu umgeben, die ewige Maske noch undurchdringlicher zu machen, die Zähne zusammen zu beissen und zu versuchen, den glühenden, scharfen Herzschmerz zu unterdrücken. Nur nicht weinen, nicht emotional werden. Sie war eine Deutsche unter Deutschen. Sie war eine Verräterin.

Die nächsten Räume folgten nacheinander: Einer mit Koffern, mit Kreide angeschriebene Namen, so viele unzählige "Prof. Dr…."; unzählige Schuhe – Kinder-, Herren- und Damenschuhe. Schwarzlackierte Absatzschuhe, durchgetretene Latschen, winzige Kindersandalen. Beinprothesen, Brillen, Haushaltsutensilien – Cremedosen, Reiben, Spielzeug. Ganze Menschenleben zogen hinter den Glasvitrinen vorbei. Plötzlich stolperte ich fast hinter dem Mädchen, welches abrupt stehen geblieben war. Ein Raum mit Menschenhaar – lange Zöpfe, blonde, braune, schwarze, weiße, graue Haarbüschel. Alles ineinander verflochten, türmten sich diese Körperreste zu Bergen. Ich hörte sie schnaufenden ausatmen, der Puls an ihrem Hals pochte.

Die neben uns stehende jüdische Frau hielt sich mit einer Hand den Mund zu, die andere Faust presste sie an die Brust. Dumpfes Stöhnen kam aus ihrer Kehle, als sie sich hin und her wog und Tränen in Bächen aus ihren schon roten Augen strömten. Das Gesicht des Mädchens verzehrte sich zu einer Grimasse, das Kinn fing an zu zittern, die Nägel bohrten sich in die Lippen. So viel stand in ihren Augen geschrieben, wie sie diese Frau ansah… Kurz streckte sie die Hand aus, wie um sie zu berühren, doch dann drehte sie sich abrupt um und zwängte sich schwankend durch die Menschenmengen aus dem Raum. Vorbei an den leeren Zyklon C-Dosen, an den aus den schwarz-weißen Fotos starrenden jüdischen Augen, die einen in sich reinsogen, sobald man in sie hineinschaute, an den Augen, alle derer, die nicht mehr lebten, all derer, deren Haare hier nun lagen, abgeschnitten, abgeschoren, abrasiert. Vorbei an den Fotos der naiven Kinder, die an der Rampe standen und lachten, noch lachten, bevor der Wind ihre Asche durch die Luft und in die Lungen der Neuankömmlinge trug. Vorbei an der Urne mit den Kränzen, vorbei an den Aufschriften "Jews are a race which must be completely exterminated." Ich folgte ihr nur zögernd, denn ich konnte mich nicht losreißen von den Bildern des Todes. Ich wollte länger in diese toten Augen schauen und in ihrer Tiefe die Gedanken lesen, das mögliche Schicksal sehen, hätten sie überlebt. Ich wollte wissen, warum gerade sie. Ich wollte die Bilder der Menschen zurückhalten, denen die Utensilien, die Schuhe gehörten.

Als ich draußen war, hatte sich das Mädchen wieder gefasst. Wir standen vor der Gaskammer. Langsam trat sie hinein und wir tauchten ab in die Vergangenheit. Durch die dunklen, engen Gänge, wo wir uns an den zitternden, nackten Menschen vorbeizwängten, unter den Öffnungen für die mit Gas getränkten Steinchen, auf die die vor Angst aufgerissenen Augen starrten. Vorbei an den offenen Krematorien. Fabrikbetrieb Nr. 1, Massenproduktion des Todes. Sie begann in Stößen zu atmen, ihre Schritte wurden immer schneller und schneller, bis sie schließlich im Laufschritt herausstürmte. Der Fotoapparat war in der Tasche geblieben. Sie war so bleich wie der Weg, auf dem wir standen. Das T-Shirt zeigte zwei Schweißstrassen entlang der Wirbelsäule. Sie schluckte und blickte hoch zum Schornstein. Ihre Augen wurden dunkel-grün wie ein Sumpf. Ich wusste, was sie sah – dunkle Rauchschwaden, voll mit Asche, das Einzige, was von den Millionen Schicksalen übrigblieb – Kohlenstoff. Wenn sie damals gelebt hätte, dann hätte sie genauso in so einem Ofen enden können. Sie hockte sich auf den Boden und fuhr sich durch die Haare. Die Hand zitterte. Ihr Schatten schwankte. Sie wusste, wenn sie die Augen aufmachte, wären die Visionen weg, sie brauchte sie nur abzuschirmen. Die Menschen damals dachten auch, sie würden träumen, wachten auf und der Traum, der Alptraum ging weiter - es war die Realität.

Eine halbe Stunde später gingen wir entlang der Gleise in Birkenau. Sie konnte kaum glauben, dass sie es doch durchgesetzt hatte, weil die ganze Gruppe doch so müde war. Hier in Auschwitz zwei ein ganz anderes Szenario – eine riesige, leere, abgebrannte Landschaft. Nur unzählige Schornsteine ragten in die Luft. Hinter uns die berühmte Rampe, vor uns Leere. An den Seiten – Gleise, zugesät mit Karten der Teilnehmer vom "March of the living" – "We'll never forget you!", "You don't get us!", "Davidstern forever" und Tausende Namen, tote Namen, die in ihren Nachkommen weiterlebten.

Sie drehte sich um und ging rückwärts, mit dem Rücken nach vorn. Wind kam auf und warf uns kratzenden Staub und Sand in die Augen. Irgendwo hörte man eine Krähe schreien und wie aus einer anderen Welt, aus den Nebeln der Vergangenheit, drangen Stimmen der Toten zu uns und flüsterten aus allen Seiten in unsere Ohren. Die Birken entlang der Gleise standen weiß und schlank da und das Gras überwuchs mit frischem Grün die ehemaligen Baracken. Wie konnte an diesem Ort überhaupt etwas wachsen? Wie konnte Leben dort möglich sein, wo der Tod herrschte? Der Tod?! Die israelischen Flaggen um uns herum wehten in den jungen, kräftigen Händen bis hoch in den Himmel. Wehten als Zeichen für das Leben, übertünchten alles Schreckliche an diesem Ort. Ach, würden sie ihr doch auch eine Flagge geben, dann würde sie sie höher als alle anderen halten! Die Totenstille wurde von Lachen der Nachkommen durchbrochen. Durfte man an diesem Ort überhaupt lachen?

Ich schaute das Mädchen an und zum ersten Mal sah sie nicht weg. Da stand sie nun vor mir, diese Deutsche, Medizinstudentin, Ukrainerin und Jüdin und Tränen strömten ihr aus den Augen – Tränen des Glücks. Sie hatte so viele Gesichter. So viele Enden von so vielen Wegen haben einen Knotenpunkt in ihrem Leben, in ihrem Herzen, ihrem Schicksal gebildet. Sie, sie, sie- sie war ich. Und so schaute ich mir selbst in die Augen, während ich weit weg von den Deutschen stand. Mit dem Rücken zu ihnen und mit dem Gesicht zu den Israelis. Und hier zu stehen, umgeben von meinem Volk, das auferstanden war, wie Sprösslinge aus einem abgeholzten Baum, ihr Hebräisch zu hören, ihr lebendiges Lachen, ihre glühenden Augen zu sehen, unseren Davidstern in der Luft – das bedeutete mehr als alles Glück der Welt. Und ich verzieh ihnen sogar, dass sie sich an diesem Ort so unpassend benahmen, dass die meisten gar nicht verstanden, was hier überhaupt passiert war, dass sie die sich über die Wege schleppenden, von Jüngeren gestützten alten Juden, die wahrscheinlich selbst hier gewesen waren, nicht bemerkten. Ich war ihnen einfach nur dankbar, dass sie da waren, dass sie lebten und gesund waren und ich betete zu Gott, dass er unser Volk auch weiterhin so beschützen möge, dass wir immer überleben und aus dem Staub wieder auferstehen.

Auch als ich wieder im Zug saß, hatte ich noch lange das strahlende Blau der Davidsterne und das Lachen der jungen Juden im Kopf, welche diesem Ort Leben und Hoffnung einhauchten, welche ewig waren und dem Tod ins Gesicht lachten. So hatte ich mich zum ersten Mal im Leben als Jüdin unter Juden gefühlt und meine Pflicht getan. Ich fand einen kleinen Anfang dort, wo viele das Ende ereilt hatte. Möge Gott verhindern, dass die Welt noch mal so ein Grauen erblickt!

hagalil.com 03-06-2008

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