Die schwindende
Last der Vergangenheit:
Zeitgenössische israelische Autoren blicken auf
Deutschland
Von Benoît Pivert, Universität Paris XI
Im Buch Israel und die Deutschen, in dem Inge Deutschkron auf
die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel im Wandel der Zeit
eingeht, beschreibt die Autorin das im Israel der 50er und 60er
Jahre vorherrschende Gefühl dem deutschen Volk gegenüber
folgendermaßen: "Nach dem Ausbruch von Schmerz und Trauer erhob sich
eine Woge von Hass in Israel gegen die Urheber dieser Verbrechen und
gegen diejenigen, die sie hatten geschehen lassen. [...] Die Juden
machten keinen Unterschied zwischen Deutschen und
Nationalsozialisten. [...] Einzig und allein die Tatsache zählte,
dass Millionen Juden in der schrecklichsten, niederträchtigsten und
grausamsten Weise von Deutschen ermordet worden waren, die es ohne
Widerspruch geschehen ließen. Die "Kollektivschuld" des ganzen
deutschen Volkes lag in ihren Augen offen und unabweislich zutage.
Die Konsequenz dieser Einstellung hieß damals für jeden Israeli:
niemals wieder Beziehungen zu Deutschen, niemals Versöhnung."(1)
Konkret
reichte das vom Boykott der deutschen Elektrogeräte durch
israelische Haushalte bis hin zu den Anweisungen an Diplomaten im
Umgang mit Gesprächspartnern, die von "dorther" kamen: "man solle
bei einer Begegnung mit einem Deutschen höflich seine Hand
schütteln, ein oder zwei Minuten mit ihm sprechen, dann aber die
erste Gelegenheit ergreifen, um mit einem anderen ins Gespräch zu
kommen"(2).
Im Vorwort zu
ihrer Anthologie Wüstenwind auf der Allee hat Anat Feinberg,
heute Professorin für Judaistik an der Universität Heidelberg, ihre
Erinnerungen gesammelt und jene Zeit wieder ins Leben gerufen. Ende
der 50er Jahre hatte das kleine Mädchen sich gefragt, was im
israelischen Reisepass ihrer Großmutter der Vermerk "Alle Staaten
mit Ausnahme von Deutschland" bedeutete. Was war das denn für ein
Land, dessen Boden nicht betreten werden durfte? Obwohl sein Name
auf den Reisepässen gedruckt war, durfte es in keiner anderen
Situation genannt werden, es sei denn mit Hilfe der
geheimnisumwitterten Floskel misham (von dorther). Im
Kindergarten brachte man den Kleinen einen sonderbaren Abzählreim
bei: "Echad, shtaim, shalosh, arba, migermania Hitler ba",
etwa "Eins, zwei, drei, vier, aus Deutschland kam der Hitler hier".
Für die Kinder war Hitler eine Art menschenfressendes Ungeheuer und
Deutschland seine Heimat. Dies war wohl der Grund, warum Anat
Feinbergs Großmutter, die im Berlin der goldenen Zwanziger ein
unbeschwertes Leben geführt hatte, hin und wieder zu verstehen gab,
sie habe nicht die geringste Lust, wieder dorthin zu gehen.
Seitdem ist
Zeit vergangen. Mittlerweile ist Berlin zur Wahlheimat vieler der
schweren wirtschaftlichen Konjunktur und der nicht enden wollenden
Spannungen im Nahen Osten überdrüssigen Israelis geworden. Nicht
selten spielt auch ein reges Interesse für Spurensuche mit.
Exemplarisch ist der Fall der Historikerin Fanny Oz-Sulzberger,
deren Buch Israelis in Berlin(3) vom Suhrkamp Verlag so vorgestellt wird: "" Von
Berlin geht eine Faszination aus, die bis nach Israel ausstrahlt.
Immer mehr jüngere Israelis zieht es heute in die alt-neue deutsche
Hauptstadt. […]Die israelische Historikerin Fania Oz-Sulzberger hat
ein Jahr in Berlin gelebt und sich mit den eigenen gemischten
Gefühlen wie mit denen anderer Israelis zu diesem gleichermaßen
realen und imaginären Ort auseinandergesetzt"(4).
Man darf wohl davon ausgehen, dass diese gemischten Gefühle nicht
nur Berlin gelten, sondern Deutschland überhaupt. Berlin ist hier
nur ein Symbol. Gewiss, jetzt kauft man in Israel Miele-Kühlschränke
oder funkelnagelneue BMWs ohne größere Bedenken, aber "auch wenn man
in Israel heutzutage gelegentlich Werke von Strauss oder Wagner zu
hören bekommt, so ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit"(5),
heißt es bei Anat Feinberg.
Welche
Vorstellung haben die Israelis heute denn von den Deutschen? Statt
eine Umfrage durchzuführen, haben wir uns vorgenommen, anhand von
Anat Feinbergs Anthologie Wüstenwind auf der Allee.
Zeitgenössische israelische Autoren blicken auf Deutschland auf
die Darstellung der Deutschen in der hebräischen Literatur nach 1948
einzugehen. Diese Studie ersetzt wohlgemerkt keine Meinungsumfrage,
und auf die mögliche Diskrepanz zwischen literarischer Darstellung
und Volksempfinden wird in diesem Beitrag hingewiesen. Um das Image
der Deutschen in der israelischen Bevölkerung so präzis wie möglich
zu erfassen, müsste diese Untersuchung durch eine soziologische
Analyse ergänzt werden, aber völlig irrelevant ist das Bild der
Deutschen in der israelischen Literatur auch nicht, denn schließlich
sind die Schriftsteller ein Bestandteil der israelischen
Gesellschaft. Die Vielfalt des von Anat Feinberg zusammengestellten
Bandes ermöglicht es außerdem, der Gefahr einer allzu großen
Subjektivität zu entgehen. Von Aharon Megged, Jahrgang 1920, bis hin
zum 1967 geborenen Etgar Keret bietet dieses Buch eine an subtilen
Schattierungen reiche Palette.
Nicht selten
hält man das deutsche und das jüdische Volk aufgrund einer
leidvollen gemeinsamen Geschichte für unversöhnlich. Glücklicher-
oder unglücklicherweise hat die Zeit die mit dem Erinnerungsvermögen
verbundenen Schmerzen etwas gedämpft, wie aus Etgar Kerets Erzählung
über ein Paar Sportschuhe mit dem Etikett "Hergestellt in
Deutschland" (1994) hervorgeht. Es wäre allerdings irrig,
anzunehmen, dass die Vergangenheit keine Spuren hinterlassen hat.
Hierfür liefert der Auszug aus Orly Castel-Blooms Roman Dolly
City (1992) einen eklatanten Beweis. Darin kommen die Deutschen
als die "allergrößten Schweine der Geschichte" vor. Weitab von
diesem Extrem beschreibt Aharon Megged in Der Besuch von Frau
Hilde Hofer (1989) eine an Missverständnissen reiche Begegnung,
die die deutsch-israelische Versöhnungsgeschichte vielleicht am
prägnantesten widerspiegelt.
I. Brüchiges
Gedächtnis
Was empfinden
denn junge Israelis am Gedenktag der Shoah, wenn landesweit Sirenen
ertönen und plötzlich alles stehen bleibt, ganz egal ob Autofahrer,
Fußgänger, Rentner oder Schulkinder? Können Kinder, wenn sie die
Holocaust-Gedenkstätte besichtigen, das Unvorstellbare auch nur
erahnen? Wahrscheinlich verlassen sie das Museum mit Wut im Bauch,
Wut auf das deutsche Volk, das gewähren ließ oder, schlimmer noch,
aktiv mitmachte. Ganz bestimmt versprechen manche Kinder beim
Verlassen der Gedenkstätte Yad Vashem den Verstorbenen, niemals zu
vergessen, das Land der Barbaren niemals zu betreten, aber was wird
mit der Zeit aus diesen Versprechen, wo doch jedes Jahr die letzten
Überlebenden dahingerafft werden? Obwohl der Staat Israel alles
daran setzt, die Erinnerung wach zu halten und ehemalige Opfer die
Bürde auf sich nehmen, über das Unvorstellbare zu berichten, gibt es
nichts Fragileres als das menschliche Gedächtnis. Um diesen durchaus
düsteren Themenkreis geht es in Etgar Kerets Erzählung Schuhe
(6)
(1994), in deren Mittelpunkt ein Paar Adidas-Turnschuhe steht.
Der unbeschwerte Ton der Erzählung steht nur scheinbar im
Widerspruch zur Ernsthaftigkeit des Sujets, in Wirklichkeit ist er
ein Beweis dafür, dass Humor wirksamer sein kann als das übliche
Betroffenheitsgetue.
Für den jungen
Helden der Erzählung ist der Gedenktag der Shoah wie für alle seine
Mitschüler Anlass zu einem Ausflug, bei dem die Kinder dazu
verpflichtet werden, Schwarzweißbilder mit angehäuften Skeletten
anzusehen, während Greise das Wort ergreifen, um an das geschehene
Unheil zu erinnern, und manchmal, wie in der Erzählung, die
Kollektivschuld des deutschen Volkes hervorzuheben. Der Redner, der
vor dem jungen Helden auftritt, beschließt seinen Vortrag mit einem
Hinweis darauf, "die Deutschen seien noch am Leben, und sie hätten
immer noch einen Staat"(7).
Für diesen Überlebenden haftet allem Deutschen etwas Abscheuliches
an. Dies gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für das, was
sie herstellen: "" […] jedes Mal, wenn ihr ein deutsches Erzeugnis
seht, egal, ob das ein Fernseher ist, denn die meisten Fernsehmarken
sind aus Deutschland, oder etwas anderes, denkt immer daran, dass
sich unter der eleganten Verpackung der Ware Teilchen und Röhrchen
befinden, die aus den Knochen, der Haut und dem Fleisch toter Juden
sind"(8).
Auch wenn diese Äußerungen überspitzt klingen, kann sich der Leser
wohlgemerkt der Frage nicht erwehren, ob bestimmte Konzerne, deren
Produkte heute in den Regalen der Warenhäuser thronen, ihr Vermögen
nicht zum Teil der Ausbeutung von Zwangsarbeitern während der
Nazi-Herrschaft verdanken.
In den Augen
des ehemaligen Opfers sind alle Deutschen mitschuldig. Deshalb warnt
es die Kinder und fleht sie an, sich jedes Mal, wenn ein Deutscher
vor ihnen steht, auf das zu besinnen, was es ihnen erzählt hat. Der
junge Erzähler, dessen Großvater im Holocaust umgekommen ist, steht
also fassungslos da, als seine Mutter ihm ein Paar Turnschuhe aus
Deutschland schenkt. Zuerst ist ihm unwohl, dennoch zieht er die
Schuhe an, wobei er ununterbrochen an seinen verstorbenen Großvater
denkt. Schließlich geht er herunter auf den Hof und gesellt sich
einer Gruppe von Kindern zu, die gerade Fußball spielen. Anfangs
sind seine Gesten sehr vorsichtig, denn jedes Mal, wenn er den Ball
stößt, ist ihm, als würde er seinem Großvater einen Fußtritt
versetzen, aber im Rausch des Spieles vergisst er langsam, woher die
Schuhe kommen, die er an den Füssen trägt. Das hatte der alte Mann
in seiner Predigt prophezeit: am Ende vergessen alle. Und doch, als
das Spiel zu Ende ist, widmet in einem inneren Monolog der kleine
Junge seinem Großvater das großartige Tor, das er geschossen hat.
Dem Autor ist hier ein tiefsinniger Schluss gelungen. Beim Tragen
der Schuhe merkt der kleine Junge, dass sie "schrecklich bequem und
auch irgendwie viel federnder"(9)
sind, als er es sich bei ihrem Anblick in ihrer sargförmigen
Schachtel vorgestellt hatte. Die kindliche Begeisterung über die
ungeahnte Leichtigkeit dieser deutschen Schuhe ist ein Zeichen
dafür, dass die Vergangenheit nicht alles zu erdrücken vermag. Fast
ohne Schaudern trägt ein junger Jude Schuhe aus dem Land des
Grauens. Zwar stört ihn die Erinnerung, aber doch nicht unentwegt.
Vom Spiel und vom Sog der Gegenwart mitgerissen vergisst das Kind
das, was es sich versprochen hatte, niemals zu vergessen. Kann man
es ihm übel nehmen? Der Mensch ist so beschaffen, dass er auch beim
besten Willen nicht stets mit der Erinnerung leben kann. Gewiss, es
wäre illusorisch, anzunehmen, dass die Vergangenheit das Verhältnis
der Israelis zu Deutschland nicht länger überschattet. Mancher Text,
auf den wir eingehen werden, beweist, dass das Ressentiment nicht
verschwunden ist, aber beim Lesen von Etgar Kerets Erzählung spürt
man, dass, wenn ein paar Überlebende nicht wären, Deutschland nur
noch ein Name auf der Weltkarte, beziehungsweise ein Vermerk auf
einer Verpackung sein würde und vermutlich bald auch sein wird:
Made in Germany.
II. Die
allergrößten Schweine der Geschichte
Bei Etgar
Keret gehört der unbändige Hass auf die Deutschen zur Generation der
Überlebenden. Ohne sich dabei etwas zu denken, haben die Eltern des
jungen Helden ihm ein Paar Schuhe deutscher Herkunft geschenkt, und
aus dem Wohlgefühl, das das Kind beim Tragen dieser Schuhe verspürt,
ist zu ersehen, dass es bald sogar stolz auf diese Schuhe sein wird.
Während Etgar Keret die Fragilität des Gedächtnisses thematisiert,
verweist Orly Castel-Bloom in ihrem Roman Dolly City (10) (1992) darauf, dass die Rache eine Speise ist, die kalt genossen
wird. Auf den ersten Blick scheint ihre dem Medizinwahn verfallene
Heldin, die selbst bei Strommasten Tumoren diagnostiziert, reichlich
durchgeknallt. Genauso skurril erscheint deren Straffeldzug nach
Deutschland – aber neigt man nicht leicht dazu, diese Frau für
wahnsinnig zu erklären, weil sie das lautstark ausspricht, was sich
viele ihrer Landsleute, ganz besonders in Bezug auf die Deutschen,
im stillen Kämmerlein denken?
Mit reichlich
Galgenhumor zeigt Orly Castel-Bloom, wie ihre Heldin sich auf die
Suche macht nach einer Niere, die sie ihrem Sohn einpflanzen lassen
möchte, denn sie hat vergessen, wie viele er derer besitzt, und
doppelt genäht – beziehungsweise dreifach – hält bekanntlich besser.
Statt auf einen potentiellen Spender zu warten, ist die Mutter fest
entschlossen, ein Kind zu entführen, um es einer seiner Nieren zu
berauben. Als erster möglicher Tatort fällt ihr Brasilien ein, denn
das Land ist so tief gesunken, dass selbst Kinder Bordelle
betreiben, aber Brasilien liegt weit weg, und wahrscheinlich müsste
sie Samba tanzen! Natürlich sind da noch die Araber, an denen sie
sich ohne größere Bedenken vergreifen könnte, hassen sie doch die
Juden genauso sehr, wie die Juden sie hassen, aber wie jeder weiß,
sollte man mit Arabern lieber nichts zu tun haben. Als die
verzweifelte Mutter sich fragt, wer die allergrößten Schweine der
Geschichte sind, die es mit ihrer Ungeheuerlichkeit verdient haben,
dass man einen ihrer Sprösslinge um eine Niere bringt, fällt ihre
Wahl auf die Deutschen. Ohne zu zaudern, macht sie sich auf den Weg
zu einem Straffeldzug in einem Düsseldorfer Waisenhaus. Ihre Ankunft
in Deutschland entspricht ihren Erwartungen. Neonazis schwingen
Transparente und ballen die Fäuste, als ein Bus mit israelischen
Insassen vorbeifährt. Die Heldin macht ein entlegenes Waisenhaus
ausfindig. Sie packt ihren Sohn in einen Koffer mit Luftlöchern und
begibt sich dorthin. Während der Fahrt werden alle
Klischeevorstellungen über Deutschland bestätigt. Das Wetter ist
scheußlich. Zuerst regnet es, dann schneit es, und der Taxifahrer
ist so besserwisserisch wie jeder Deutsche, der etwas auf sich hält.
Im Waisenhaus wird die Heldin von einer nymphomanischen jungen Frau
empfangen, die ihr beichtet, dass sie ihr Leben den Kindern opfert,
um für die Verbrechen ihres Großvaters, der früher bei der SS war,
zu büßen. Allerdings kann sie die drückenden Schuldgefühle kaum noch
ertragen. Das einzige, dem sie nun ihr Leben widmen möchte, ist Sex.
Die beiden Frauen gehen ein teuflisches Bündnis ein. Die
Krankenschwester willigt darin ein, Kinder an die Unbekannte
auszuliefern unter der Bedingung, dass sie ihnen nicht nur eine
Niere entfernt, sondern gleich den Kopf aufmacht, um herauszufinden,
welche Schraube bei den Deutschen denn locker sitzt. Die
Bittstellerin nimmt das Angebot an. Dabei ist sie fest entschlossen,
sich nicht soviel Mühe zu geben. Warum sollte sie sich auch
besonders anstrengen, um das herauszufinden, was jeder ohnehin schon
weiß, nämlich, "dass die Deutschen einen Kopf voll Scheiße haben"(11)?
Zwar klingt
die Expedition wie ein hanebüchenes Epos, aber hat Orly Castel-Bloom
hier nicht etwa auf skurrile Art und Weise jene Archetypen
porträtiert, die im israelischen Unterbewusstsein, bzw. Bewusstsein
geistern: die nymphomanische Blonde, die allgemeine nazistische
Abstammung, der teuflische, der Menschlichkeit spottende faustische
Wissensdurst, eine vorgetäuschte Sühne, die nur Theater ist, das
Ganze gespickt mit ein paar meteorologischen Klischees über ein
albtraumhaftes Land, in dem es entweder regnet oder schneit? In
ihrem Übermaß bricht die Heldin alle Tabus. Das sonst Verschwiegene
bricht hervor. Warum nur greift die Autorin zum Galgenhumor, um
diese Tabus zu artikulieren, die sich sonst keiner so recht
eingestehen mag? Vielleicht deshalb, weil ohne den Sauerstoff des
Humors die Dinge unerträglich wären, wie etwa das Gefühl, dass die
Sühne nur Fassade, der Nazismus dagegen unter dem Etikett
"Neonazismus" immer noch lebendig ist.
III. Subtile
Zwischentöne
Mit ihrem
brachialen Hass auf die Deutschen steht Orly Castel-Blooms Heldin
inmitten der israelischen Literaturlandschaft ziemlich einsam da.
Nur in Lea Ainis Erzählung Höhe des Meeresspiegels kommt eine
ähnlich krasse Germanophobie gelegentlich zum Ausdruck. Darin kommt
ein alter Deutscher vor, dessen Tochter spurlos verschwunden ist und
der den am Ufer des Sees Genezareth liegenden Badegästen das Bild
der Vermissten händeringend vorweist. Ihm schlägt brutaler Hass
entgegen. Die Badegäste, die davon ausgehen, dass sie nicht
verstanden werden, wenn sie unter sich parlieren, nennen das Mädchen
auf dem Foto eine blonde Kuh, beziehungsweise eine Hure, während aus
dem Vater ein Nazi oder "Vater Hitler" wird. Alle die gemeint
hatten, die Deutschfeindlichkeit wäre heute verschwunden, müssen
sich bei diesem Blick in die Menge eines Besseren besinnen. In ihrer
Darstellung der Deutschen scheinen die israelischen Schriftsteller
allerdings ungemein zurückhaltender als der Mob, der sich hier zu
Wort meldet. Es stellt sich also die Frage, ob nicht etwa eine
Kluft besteht zwischen den überempfindlichen Reaktionen der Menschen
auf der Strasse und dem viel gemäßigteren Urteil der
Intellektuellen, in deren Augen die Schuld der Väter nicht auf deren
Kinder zurückfällt. Frappierend ist in der israelischen Literatur
nämlich, dass die durch ihre Einfachheit verführerische Gleichung
Deutsche = Unmenschen nicht vorbehaltlos gilt. Dies spiegelt die
Reife dieser Literatur wider, denn es braucht viel Weisheit, um sich
bei Millionen von Toten nicht von Rachegelüsten verleiten zu lassen.
Als ein Beispiel für diese höchst differenzierte Haltung sei hier
der Text Land der schwarzen Wälder
(12) erwähnt, ein Auszug aus dem Roman von Hanoch Bartov Die
Brigade (1965).
In seiner
Geschichte hat der 1926 in Petach Tiqvah (heute Israel) geborene
Prosaist und Dramatiker Hanoch Bartov Spannung und philosophische
Botschaft gekonnt miteinander verflochten. Gebannt verfolgt der
Leser den Vormarsch der jüdischen Brigade durch ein gespenstisches,
seinem Schicksal überlassenes Deutschland. Eines Abends begegnen die
jüdischen Soldaten der Brigade dem Feind. Überrascht stehen sie
einer eher erbärmlichen als furchteinflössenden Gestalt gegenüber.
Der Mann, ein ehemaliger Wehrmachtsoldat hat seine Schulterstücke
abgerissen und steht in einer verbeulten Zivilhose auf einem
Fahrrad. Unaufgefordert weist er die jüdischen Soldaten auf ein Haus
hin, in dem SS-Leute sich aufhalten. Was über das undurchschaubare
Verhalten des Mannes hinaus den Erzähler frappiert, ist das Gefühl,
dass dieser Mensch ihm schon bekannt ist. Hat er doch den gleichen
Akzent, die gleiche kräftige, fast fette Figur und das gleiche
teigige Gesicht wie Holländer, ein deutscher Jude, der wie manche
andere kurze Zeit davor in seine landwirtschaftliche Genossenschaft
eingezogen ist und der im zur Bewässerung der Zitrushaine bestimmten
Pumpenteich Schwimmunterricht erteilt. Kaum hat der Erzähler sich
gefragt, wie die schrecklichen Deutschen aussehen mögen, und schon
fällt die Antwort. Tief erstaunt muss er feststellen, dass ihm von
den Bergstiefeln bis hin zum breitreifigen Rad alles vertraut
ist. Alles wäre viel einfacher, wenn sich das
Ungeheuerliche den Menschen ins Gesicht prägen würde und bei
genauerem Hinsehen ablesbar wäre, aber die ungeheuerlichen Deutschen
sind im Grunde genommen, wie Hannah Arendt feststellen musste,
schrecklich banal. Für Hanoch Bartov gehörte fraglos Mut dazu,
zwanzig Jahre nach Kriegsende ein derart ungewöhnliches Porträt des
Feindes zu entwerfen.
In einer
anderen Erzählung, Das Erdbeermädchen
(13) (1992) von Savyon Liebrecht, baut eine junge Jüdin in einem KZ Erdbeeren an und
versorgt damit die Frau des Obersturmbannführers. Bei den Nazis und
ihren Gattinnen weckt das Mädchen alle menschenmöglichen Gefühle.
Die Autorin verfolgt nicht die Absicht, die Mörder sympathisch zu
machen, sondern die Komplexität der menschlichen Seele bloßzulegen.
Neben der Erzählerin, einer sensiblen, mitleidsfähigen Person, die
nicht ahnt, was für Tragödien sich im Lager abspielen, stehen
grausame Figuren wie ihr Ehemann, der seinen Sohn verprügelt und für
die Schwachen nur Verachtung übrig hat oder die Frau des
Obersturmbannführers, die das Erdbeermädchen ohne Gewissensbisse
vergasen lässt. Durch die breitgefächerte Palette von Figuren, die
in der Erzählung vorkommen, zeigt Savyon Liebrecht nicht den
Deutschen, sondern die Deutschen. Die Dosierung scheint genau
richtig. Hätte die Autorin in der unmittelbaren Nähe eines
Vernichtungslagers unbefangene Figuren voller Nächstenliebe
platziert, dann hätte die Erzählung jede Glaubwürdigkeit eingebüsst,
wobei die Autorin nicht ausschließt, dass einige Deutsche wie die
Erzählerin sich das Grauen nicht richtig vorzustellen vermochten, da
es ja unfassbar war. Offensichtlich hat nicht der Hass Hanoch Bartov
oder Savyon Liebrecht zu ihren Erzählungen inspiriert, jener Hass,
der – so Inge Deutschkron – am Ende des Zweiten Weltkriegs in Israel
das dominierende Gefühl war. Man kann heute nicht mehr so
undifferenziert schreiben, wie Inge Deutschkron dies 1970 in Bezug
auf die Nachkriegszeit tat: "Jeder einzelne Israeli schien in seiner
Einstellung zu den Deutschen fixiert zu sein, ohne dass eine
Möglichkeit der Revision seiner Ansichten bestand"(14),
denn ausgerechnet zu einer Revision dieser Ansichten fordert die
israelische Literatur seit mehreren Jahrzehnten auf.
Ein weiteres
Beispiel dafür liefert Nava Semel mit ihrer Erzählung Reise in
die geteilte Stadt
(15) (1985). Der Held, David Berger, ist ein unglücklicher Mann.
Seine Frau hat ihn verlassen, und seine Mutter ist gerade
verstorben. Beim Aufräumen der mütterlichen Wohnung findet er einen
Brief aus dem Jahre 1964, der an seinen Vater adressiert war. Damals
war David Bergers Vater unterwegs in Deutschland, und im Brief bat
seine Frau ihn darum, einen gewissen Heinz Klein aufzufinden, ehe es
zu spät war. Später, bei einem Streit zwischen den Eltern hatte
David gehört, wie seine Mutter rief: "Wenn Heinz Klein mich doch nur
nicht gerettet hätte!"(16)
Sobald er den an seinen Vater adressierten Brief findet, kann er
nicht umhin, an diesen Heinz Klein zu denken. Da seine Mutter eine
gebürtige Berlinerin war, nimmt er sich vor, nach Berlin zu fliegen.
Beim Blättern im Westberliner Telefonbuch findet er einen Heinz
Klein, aber als er ihn anruft, erfährt er, dass dieser 35jährige
Mann drei Jahre vorher unter tragischen Umständen umgekommen ist.
David Berger nimmt sich also vor, einen Tag jenseits der Berliner
Mauer zu verbringen – daher der Titel der Erzählung: Reise in die
geteilte Stadt. In Ost-Berlin wird David Berger bei seiner
telefonischen Suche fündig. Schließlich trifft er einen alten Mann,
der sich zum Geständnis durchringt, dass er David Bergers Mutter,
geborene Wagner, gekannt habe. Es war während der Nazi-Zeit. Anna
Wagner war in einem Arbeitslager. Man hatte sie in die Fabrik
geschickt, wo Heinz Klein beschäftigt war. Als letzterer
festgestellt hatte, dass sie nicht nur hübsch war, sondern auch
Rilke-Gedichte auswendig kannte, hatte ihn diese Entdeckung
erschüttert, und allen Reichsgesetzen zum Trotz hatte er sich in die
junge Frau verliebt. Heimlich brachte er ihr zu essen. Als sie
erkrankte, versteckte und pflegte er sie. Damals hatte er gar davon
geträumt, seine Frau zu verlassen, um nach dem Krieg Anna zu
ehelichen.
Heute fragt
sich Heinz Kleinz, ob diese Liebe nicht das einzige ist, was ihm ein
menschliches Gesicht verleiht. Als David noch in Israel war,
geisterte Heinz Klein in seinen Albträumen. Der uniformierte
Deutsche rief ihm zu: "Komm! Komm nach Deutschland, dreckiger Jude.
Komm und schaue dir an, was wir mit deiner Mutter gemacht haben"(17). Und
plötzlich steht er einem alten Mann gegenüber, der weiß, dass er
bald sterben wird. Entgegen allen Erwartungen empfindet David keinen
Hass gegenüber diesem ehemaligen Nazi, der nach dem Krieg zehn Jahre
in russischer Gefangenschaft gelebt und vergeblich darauf gewartet
hat, dass Anna zurückkommen würde, um von seiner früheren
Unterstützung zu zeugen. Seine Geschichte besteht zwar aus den
Irrungen und Wirrungen eines Nazis – denn er gibt zu, dass er mal
ein überzeugter Nazi war –, aber es ist auch die Geschichte eines
Menschen, der nicht frei von Schwächen ist und bei dem die
Leidenschaft einmal stärker war als der politische Verstand.
Letztendlich ist es die sehnsuchtsvolle Geschichte eines verletzten
Menschen, dessen Liebe unerwidert blieb. Zu seiner großen
Überraschung muss der von seiner Frau verlassene David Berger
zwischen dem "Ungeheuer" und sich eine Gemeinsamkeit feststellen:
"Heinz Klein und mir ist die Rolle des Nichtgeliebten zugefallen"(18).
Einmal
wieder bekommt das archetypische Bild des Nazis Risse. Der Unmensch
ist nicht ganz unmenschlich. Heinz Klein war nicht nur ein
überzeugter Nazi, sondern auch der unglückliche Liebhaber einer
jungen Jüdin. Vielleicht sollte man sich davor hüten, die Täter
näher kennen zu lernen, denn zu groß ist die Gefahr, dass dabei
allzu bequeme Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten. Vor
dieser Gefahr schreckt Nava Semel, die Autorin, nicht zurück. Wäre
sie Deutsche, könnte man ihr vorhalten, dass sie dabei den Mördern
ein menschliches Gesicht verleiht, und es läge nahe, sie der
Verklärung der Vergangenheit zu bezichtigen. Im vorliegenden Fall
entfällt die Kritik, denn Nava Semel ist Mitglied des
Massua-Instituts für Holocauststudien und sitzt im Verwaltungsrat
der Gedenkstätte Yad Vashem. Umso mutiger erscheint ihr Versuch,
jede Schwarzmalerei zu vermeiden, auf die Gefahr hin, dass sie sich
hierdurch der öffentlichen Meinung entfremdet, die altvertraute
Feindbilder bevorzugt.
IV. Und die
Töchter sollen für ihre Väter büßen
Verlässt Nava
Semels Held Israel, um sich für ein paar Tage in Berlin aufzuhalten,
so lädt Lea Aini in ihrer Erzählung Höhe des Meeresspiegels
(19) zu einer Reise in die entgegengesetzte Richtung ein, aber darf
man noch von "Reise" sprechen, um ein extremes existentielles
Abenteuer ohne Rückkehr zu bezeichnen? Bei der Lektüre dieser
Erzählung wohnt der Leser einer richtigen Verwandlung bei. In aller
Augen ist die Heldin eine beliebige Eisverkäuferin, die in ihrem Van
am Ufer des Sees Genezareth den Durst der Urlauber stillt. Niemand
würde auf die Idee kommen, dass diese kurzhaarige, braungebrannte
Frau, die Hebräisch mit israelischem Einschlag spricht, in einem
früheren Leben Deutsche war. Ihr außergewöhnlicher Lebensweg ist der
Leitfaden dieser Erzählung.
Alles beginnt
damit, dass sie, als sie, als junges Mädchen, sich vornimmt,
Einblick zu gewinnen in das, worüber alle Geschichtsbücher mit
Stillschweigen hinweggehen. Ihre Hartnäckigkeit wird belohnt, und
sie bekommt schließlich jene halbtoten, klapperdürren Gestalten,
jene bleichen, zusammengekauerten Leichen zu Gesicht, die man ihr
hat verbergen wollen. Zu gleicher Zeit entdeckt sie das Tagebuch, in
das ihr Großvater seine Liebesgeschichten eingetragen hat. Darin ist
von einer heißgeliebten jungen Frau die Rede, die Palästina
besichtigt und ihm ganz entzückt von einer Stadt erzählt hat, die
"wie ein Türkis da[liegt], funkelnd mit den sandfarbenen Häuptern
ihrer Dattelpalmen"(20).
Diese Zeilen beflügeln die Fantasie der jungen Leserin. Sie
beschließt, in die Fußstapfen jener "süßen Sünderin" zu treten, die
"beim Liebesspiel [...] wie eine Wüstenleopardin den Namen des Herrn
herausschrie"(21).
Sie nimmt sich vor, den Muff des Provinzgymnasiums und ihren Vater,
der heimlich den Arm zum Hitlergruss erhebt, hinter sich
zurückzulassen und macht sich auf den Weg ins gelobte Land.
Die Kühnheit
von Lea Ainis Erzählung liegt daran, dass diese Reise gleichermaßen
ein Selbstfindungsprozess und eine erotische Entdeckungsreise ist.
Die junge Frau verdingt sich in einem Kibbuz, und zwar nicht nur mit
der Absicht, Obst zu pflücken. Sie gibt sich den Kibbuzarbeitern
hin, "um zu büßen und zu sündigen"(22).
Die Tochter aus einem schuldigen Volk hat es darauf abgesehen, die
Enkel der Opfer fleischlich zu lieben und sie zur Ekstase zu
bringen. Was die Erzählerin hier treibt, ist vielleicht nicht Liebe
zu einem Volk im üblichen Sinne des Wortes, aber Liebe gehört ganz
bestimmt dazu, auch wenn mancher Leser versucht sein könnte, in
dieser Geschichte nichts weiter als Pornographie zu sehen . Lea Aini
inszeniert beispielsweise eine Begegnung zwischen ihrer Heldin und
einem jungen Juden, der im Bett philosophiert über "die
Volontärpussis, die allesamt bloß aus Verzeihen und Sühne gemacht
seien, so dass man sie wie mit dem Mähdrescher ernten könne, wobei
sie einen nur mit diesem zuckersüßen Schafslächeln anlächelten"(23).
In Wirklichkeit finden bei Lea Aini Deutsche und Juden, die der Hass
geschieden hat, im Sex wieder zueinander. Die Frage des jungen
Kibbuzbewohners: "dieser jüdische Schwanz tut dir gut, ah?" wird von
der Erzählerin bejaht. Es wäre allerdings irrig, diese Erzählung als
sexuellen "Bildungsroman" in der Fremde zu interpretieren. Zwar
lässt sich die Hauptfigur auf viele Abenteuer mit Kibbuzmitgliedern
ein, aber der Sex ist es nicht, was sie in Israel zurückhält.
Vielmehr hat sie endlich ihre Heimat gefunden. Deutschland war
gestern. Plötzlich ist im Herzen der Erzählerin eine inbrünstige
Liebe zum Land Israel erwacht, und wenn aus Liebe Leidenschaft wird,
wächst der Wunsch, mit dem anderen zu verschmelzen. Deshalb ist die
Erzählerin selbst eine Tochter von Zion geworden. Sie hat in Israel
Wurzeln geschlagen, die Sonne hat ihre Haut gebräunt, "ihre Augen,
blau wie die schlesischen Seen verdunkelten sich [...], ihr Haar
wurde sehr hell, bis es vollkommen ausgeblichen war und der
landesüblichen Weizenart glich"(24).
Hier wird ein Wunsch wahr, der, wenn man sich auch Hals über Kopf in
ein Land verliebt, dazu verdammt ist, unerfüllt zu bleiben, nämlich
der Wunsch, als ein Kind dieses Landes geboren worden zu sein. Diese
Sehnsucht ist bei Lea Ainis Heldin so stark, dass letztere sich
gleich einer Schlange häutet und in eine neue Körperhülle schlüpft.
In ihrem Fleisch ist sie nun eine Tochter Israels, und keiner würde
auf den Gedanken kommen, dass sie je ein anderer Mensch war, nicht
einmal ihr verwahrloster, halb verrückter Vater, der am Ufer des
Sees Genezareth seine Tochter sucht, die Badegäste um Hilfe bittet
und ihnen ein Bild vorzeigt, auf dem eine junge Frau zu sehen ist,
die es nicht mehr gibt. Gelegentlich erbarmt sich die Eisverkäuferin
des alten Mannes und schenkt ihm einen Eisbecher, aber darüber
hinaus geht ihr Mitleid nicht. Wenn er ihr das Bild seiner Tochter
hinhält, ohne zu ahnen, dass sie ihm gegenübersteht, kann sie nur
behaupten, dass sie diese junge Frau nicht kennt. Dieser Mann ist
nämlich nicht länger ihr Vater und sie ist nicht mehr seine Tochter.
In dieser von
jeglichem Pathos freien Erzählung inszeniert Lea Aini die
deutsch-israelische Versöhnung auf höchst originelle Art und Weise.
Es zählt zu den Verdiensten der Autorin, dass sie hier an ein Tabu
rührt, und zwar die unterschwellige erotische Dimension, die von der
Begegnung zwischen den Nachkömmlingen von Opfern und Henkern nicht
auszuschließen ist, eine anrüchige Faszination, die sich sonst
keiner so recht eingestehen mag. Zwischen Bußfertigkeit und süßen
Rachegelüsten wird die Fortsetzung der deutsch-jüdischen Geschichte
im Bett geschrieben. Aber hier geht es eigentlich um mehr als um
eine Begegnung, es geht nämlich um eine authentische Verwandlung,
die aus der leidenschaftlichen Liebe zu einem Land und seinen
Einwohnern entspringt. Gewiss, nur wenige Deutsche treiben die Liebe
zu Israel und den Juden so weit wie Lea Ainis Heldin. Viele bleiben
auf halbem Wege stehen. Wie Irmgard und Helmut Kehr in Gabriele
Wohmanns Erzählung Das Biotop (1994) lassen sie es damit
bewenden, sommers in einem Kibbuz zu arbeiten, beziehungsweise
ihren Sohn Isaak zu nennen. Und doch kann man nach Lea Ainis
Erzählung sich des Verdachts nicht erwehren, dass irgendwo zwischen
Haifa und der Negev-Wüste sich Israelis aufhalten, die in einem
früheren Leben katholisch, beziehungsweise evangelisch und Deutsche
waren. Aufgrund einer Pendelbewegung der Geschichte ist die Liebe
zu den Juden heute bei den Deutschen mitunter so stark wie früher
der Hass(25).
V. Der Weg des
Dialogs
Diese Liebe zu
Israel und den Juden wird in einer Erzählung Aharon Meggeds von Frau
Hilde Hofer verkörpert (Der Besuch von Frau Hilde Hofer(26),
1989). Letztere repräsentiert jene zahllosen
jüdisch-christlichen, beziehungsweise deutsch-israelischen
Freundschaftsvereine, die aus den Trümmern des Holocausts
entstanden. Die Wunden waren zu tief, um über Nacht zu vernarben,
die Versöhnung geht also nicht reibungslos vonstatten. Ausgerechnet
auf jene kleinen Reibungen und Meinungsverschiedenheiten geht Aharon
Megged in seiner Erzählung ein. Selbst wenn eine einzige Erzählung
die vielfältigen Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis nicht
in allen ihren Schattierungen widerzuspiegeln vermag, gelingt es dem
Autor, überzeugend zu beweisen, dass trotz aller guten Vorsätze
beiderseits der Weg des Dialogs nicht selten ein unbequemer Weg
bleibt.
In Deutschland
gehört Frau Hilde Hofer einem Institut für menschliche
Verantwortung an. Einmal entdeckt sie durch einen Artikel in
einer Zeitschrift den Israeli Kurt Levi und seinen Kreis für
moralische Verantwortung. Sie setzt sich mit ihm in Verbindung.
Kurt Levi hat 1932 Deutschland verlassen und hat, nachdem er in
einem Kibbuz als landwirtschaftlicher Arbeiter tätig war, seinen
Kreis gegründet, um seine Mitglieder davon zu überzeugen, dass Moral
in erster Linie Sache des Einzelnen ist. Ihn stört die
Selbstgerechtigkeit seiner Landsleute, die eine individuelle
moralische Reflexion für überflüssig halten, weil sie davon
ausgehen, dass eine Gesellschaft mit so edlen Einrichtungen wie den
Kibbuzim per Definition moralisch ist. Er führt das Beispiel eines
Kibbuzmitglieds an, das achtlos an einem Bettler vorübergeht, weil
das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die moralische Ansprüche
auf Gleichheit und Gerechtigkeit erhebt, ihm jeden Gewissenskonflikt
erspart – ein nach Kurt Levis Ansicht unvertretbarer Standpunkt.
Vielmehr fordert Kurt Levi die Menschen dazu auf, sich von der
kollektiven Moral loszulösen, sich mit ihr auseinander zu setzen und
erst nachher den Weg in die Gemeinschaft wieder einzuschlagen. Aus
diesem Grund hat er selbst 1946 den Kibbuz verlassen. Anschließend
reiste er um die Welt, schmiedete seine eigene Moral und kehrte in
die israelische Gesellschaft zurück.
Hilde Hofer
erinnert sich an den Besuch, den Kurt Levi ihr in Deutschland
abgestattet hat und an ihr damaliges Gefühl, in nichts unterscheide
sich das Anliegen der in ihrem Institut um sie versammelten
evangelischen Glaubensgenossen von dem Kurt Levis. Anlässlich dieses
Besuchs hatte sie eine Stelle aus Hermann Cohens Deutschtum und
Judentum vorgelesen, einem Werk, das in Kurt Levis Jugend eine
Art Bibel gewesen war. Bei Hermann Cohen hieß es, zwischen
Deutschtum und Judentum bestünden so unbestreitbare Gemeinsamkeiten,
dass der Nationalsozialismus nur als eine Katastrophe sondergleichen
aufgefasst werden könne. Dieser Botschaft getreu hatte Hilde Hofer
unternommen, gemeinsam mit Kurt Levi die abhanden gekommene Harmonie
wieder herzustellen. Der Israeli hatte zwar kein Hehl daraus
gemacht, wie schwer es ihm gefallen sei, das Land erneut zu
betreten, das er kurz vor Hereinbrechen der Finsternis verlassen
hatte, aber gleichzeitig hatte er sich darüber gefreut, in einem
neuen Deutschland eine so junge und liebenswürdige Gemeinschaft
begrüßen zu dürfen. Den Kindern seien die Verbrechen der Väter nicht
anzukreiden, hatte er damals gemeint.
Am Anfang der
Erzählung hält sich Hilde Hofer in Israel auf, wo sie Kurt Levi
einen Besuch abstattet. Trotz ihrer Herkunft schlägt ihr wohlgemerkt
keinerlei Feindseligkeit entgegen, aber ihr Vorhaben, eine ihrem
deutschen Institut vergleichbare Stiftung in Israel zu gründen, um
die Verbindung zwischen dem deutschen und dem israelischen Volk
sichtbar zu machen, stößt bei Kurt Levi auf Ablehnung. Hilde Hofer
handelt aufgrund der menschlichen Verantwortung, die ihrer Ansicht
nach die Deutschen den Israelis gegenüber "verpflichtet", aber
ausgerechnet jene kollektive Verantwortung – und jenes Sühnezeichen
im Namen der Gemeinschaft – sind Kurt Levi zuwider. Ihm scheint,
dass in einem solchen Zentrum, der vorgegebene moralische Rahmen
jede persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, jede
ethische Reflexion beim Einzelnen vereiteln würde.
In Deutschland
hatte zwischen Kurt Levi und Hilde Hofer eine tiefe Harmonie
geherrscht. Umso enttäuschender fällt die Wiederbegegnung in Israel
aus. Frau Hofer dachte, sie würde in Kurt Levis Bibliothek jenen
Band wiederfinden, den sie ihm gewidmet hatte, ein von ihrem Onkel,
einem Pfarrer, verfasstes Werk mit dem Titel Er hat wahrlich eure
Krankheiten auf sich genommen, "eine Anklageschrift gegen das
Christentum hinsichtlich seiner Beziehung zum Judentum"(27).
Entgegen allen Erwartungen findet sie das Buch in einer Jerusalemer
Bücherei wieder. Kurt Levi ist es losgeworden. Wahrscheinlich hat er
sich mit der Figur vom Sohn Gottes, der die ganze Menschheit von
ihren Sünden befreit, also jedes individuelle Schuldgefühl
überflüssig macht, nicht anfreunden können. Kein Wunder, dass die
enttäuschte, ratlose Hilde Hofer schließlich auf den Stufen der
Dormition-Kapelle in Jerusalem ausrutscht und in einem
Krankenhausbett landet, in dem sie sich mit dem Gedanken plagt, dass
sie für eine Sünde bestraft wurde, die sie noch in sich entdecken
muss. Hat Hilde Hofer gesündigt, so ist Kurt Levi auch nicht
unschuldig. Aharon Megged verschont den Moralprediger nicht, der
kein einziges Mal Frau Hofer im Krankenhaus besucht. Außerdem, war
es wirklich "moralisch", sich eines Geschenkes zu entäußern? Der
Schluss klingt also etwas bitter. Auch wenn deutscher und jüdischer
Idealismus offenbar Gemeinsamkeiten aufweisen – siehe die auffallend
ähnlichen Namen beider Kreise – stößt der Dialog allen
Annäherungsversuchen und Verständigungsbemühungen zum Trotz auf
Überempfindlichkeit und Missverständnisse. "Man kann nie wissen, wie
gute Absichten von den Mitmenschen aufgefasst werden"(28),
bekennt Frau Hofer voller Einsicht. Schnell kommt es zur Kränkung,
auch wenn jeder es mit dem anderen gut meint. Die Wunden sind nicht
abgeheilt. Stellenweise sind Schmerzen noch spürbar. Der Weg der
Versöhnung ist holperiger, als man denkt.
Dabei darf
nicht vergessen werden, dass die Zukunft nicht jenen vor dem Krieg
geborenen Figuren gehört, sondern der Generation des Adidas-Schuhe
tragenden Helden von Etgar Keret. Dieser Generation steht es zu es,
nach vorne zu blicken, ohne von der Last der Vergangenheit erdrückt
zu werden. Heute schon ist vorauszusehen, dass der Deutsche eines
Tages als literarische Figur des Unheimlichen wenn nicht ganz
verschwinden, so doch immer seltener vorkommen wird. Kein Grund zur
Trauer. Wenn es soweit ist, heißt das nämlich, dass der Deutsche
nicht mehr der Andere ist, sondern dass er seine Banalität vollends
wieder erlangt hat – und somit sein menschliches Gesicht.
Benoît Pivert ist Dozent für Deutsch
an der Universität Paris XI. Sein Forschungsbereich umfasst die
deutsch-jüdische Literatur.
Anmerkungen:
(1)
Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen, Köln,
Verlag Wissenschaft und Politik, 1970, S. 31
(2) Anat Feinberg, Wüstenwind auf der Allee, Berlin,
Aufbau-Verlag, 1998, S. 9-10.
(3)
Fania Oz-Sulzberger, Israelis in Berlin, Suhrkamp (Jüdischer
Verlag), Frankfurt am Main, 2001.
(4)
Umschlag des Buches
(5)
Anat Feinberg, op. cit., S. 14.
(6)
Gaza Blues,
Tel-Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1994. Deutsche Übersetzung: Die
Schuhe von Barbara Linner in Wüstenwind auf der Allee, S.
42 ff.
(7)
Ebenda S. 43
(8)
Ebenda.
(9)
Ebenda. S. 45
(10)
Tel Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1992. Deutsche Übersetzung von
Mirjam Pressler, Reinbek, Rowohlt Verlag, 1995. In der Wüstenwind
auf der Allee wurde der Auszug aus dem Roman "Die deutsche
Niere " betitelt, S. 194 ff.
(11)
Ebenda, S. 196
(12)
Auszug aus dem Roman von Hanoch Bartov, Die Brigade, 1965, Am
Oved Publishers, Tel Aviv. Deutsche Übersetzung von Ruth Achlama in
Wüstenwind auf der Allee ab S. 165.
(13)
Savyon Liebrecht, Das Erdbeermädchen, 1992, Keter Publishers,
Jerusalem. Deutsche Übersetzung von Helene Seidler in Wüstenwind
auf der Allee ab S. 165.
(14)
Ebenda.
(15)
Tel Aviv, Sifryat Hapoalim, 1985. Deutsche Übersetzung: Reise in
die geteilte Stadt von Mirjam Pressler in Wüstenwind auf der
Allee, S. 89 ff.
(16)
Ebenda, S. 93.
(17)
Ebenda, S. 96.
(18)
Ebenda, S. 116.
(19)
Tel Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1997. Deutsche Übersetzung von
Markus Lemke, Höhe des Meeresspiegels in Wüstenwind auf
der Allee, S. 176 ff.
(20)
Ebenda, S. 186.
(21)
Ebenda.
(22)
Ebenda, S. 191.
(23)
S. 188-189.
(24)
Ebenda.
(25)
Siehe dazu Gabriele Wohmann, Das Biotop (1994): "Isaak, der
einstige Liebling, vor einundzwanzig Jahren ein Goldschatz, den die
Kehrs im ersten Ehejahr gehoben hatten, damals in ihrer
philosemitischen Zeit, in der sie dauernd nach Israel gefahren waren
und sogar einmal für acht Wochen in einem Kibbuz mitgearbeitet
hatten". in « Das Salz, bitte ! », München/Zürich, Piper
Verlag, 1994, S. 145.
(26)
Tel Aviv, Am Oved Publishers, 1989.
Deutsche
Übersetzung: Der Besuch von Frau Hilde Hofer von Monika Zemke
in Wüstenwind auf der Allee, S. 51 ff.
(27)
S. 82.
(28) S. 84. |