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Die schwindende Last der Vergangenheit:
Zeitgenössische israelische Autoren blicken auf Deutschland

Von Benoît Pivert, Universität Paris XI

Im Buch Israel und die Deutschen, in dem Inge Deutschkron auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel im Wandel der Zeit eingeht, beschreibt die Autorin das im Israel der 50er und 60er Jahre vorherrschende Gefühl dem deutschen Volk gegenüber folgendermaßen: "Nach dem Ausbruch von Schmerz und Trauer erhob sich eine Woge von Hass in Israel gegen die Urheber dieser Verbrechen und gegen diejenigen, die sie hatten geschehen lassen. [...] Die Juden machten keinen Unterschied zwischen Deutschen und Nationalsozialisten. [...] Einzig und allein die Tatsache zählte, dass Millionen Juden in der schrecklichsten, niederträchtigsten und grausamsten Weise von Deutschen ermordet worden waren, die es ohne Widerspruch geschehen ließen. Die "Kollektivschuld" des ganzen deutschen Volkes lag in ihren Augen offen und unabweislich zutage. Die Konsequenz dieser Einstellung hieß damals für jeden Israeli: niemals wieder Beziehungen zu Deutschen, niemals Versöhnung."(1)

Konkret reichte das vom Boykott der deutschen Elektrogeräte durch israelische Haushalte bis hin zu den Anweisungen an Diplomaten im Umgang mit Gesprächspartnern, die von "dorther" kamen: "man solle bei einer Begegnung mit einem Deutschen höflich seine Hand schütteln, ein oder zwei Minuten mit ihm sprechen, dann aber die erste Gelegenheit ergreifen, um mit einem anderen ins Gespräch zu kommen"(2).

Im Vorwort zu ihrer Anthologie Wüstenwind auf der Allee hat Anat Feinberg, heute Professorin für Judaistik an der Universität Heidelberg, ihre Erinnerungen gesammelt und jene Zeit wieder ins Leben gerufen. Ende der 50er Jahre hatte das kleine Mädchen sich gefragt, was im israelischen Reisepass ihrer Großmutter der Vermerk "Alle Staaten mit Ausnahme von Deutschland" bedeutete. Was war das denn für ein Land, dessen Boden nicht betreten werden durfte? Obwohl sein Name auf den Reisepässen gedruckt war, durfte es in keiner anderen Situation genannt werden, es sei denn mit Hilfe der geheimnisumwitterten Floskel misham (von dorther). Im Kindergarten brachte man den Kleinen einen sonderbaren Abzählreim bei: "Echad, shtaim, shalosh, arba, migermania Hitler ba", etwa "Eins, zwei, drei, vier, aus Deutschland kam der Hitler hier". Für die Kinder war Hitler eine Art menschenfressendes Ungeheuer und Deutschland seine Heimat. Dies war wohl der Grund, warum Anat Feinbergs Großmutter, die im Berlin der goldenen Zwanziger ein unbeschwertes Leben geführt hatte, hin und wieder zu verstehen gab, sie habe nicht die geringste Lust, wieder dorthin zu gehen.

Seitdem ist Zeit vergangen. Mittlerweile ist Berlin zur Wahlheimat vieler der schweren wirtschaftlichen Konjunktur und der nicht enden wollenden Spannungen im Nahen Osten überdrüssigen Israelis geworden. Nicht selten spielt auch ein reges Interesse für Spurensuche mit. Exemplarisch ist der Fall der Historikerin Fanny Oz-Sulzberger, deren Buch Israelis in Berlin (3) vom Suhrkamp Verlag so vorgestellt wird: "" Von Berlin geht eine Faszination aus, die bis nach Israel ausstrahlt. Immer mehr jüngere Israelis zieht es heute in die alt-neue deutsche Hauptstadt. […]Die israelische Historikerin Fania Oz-Sulzberger hat ein Jahr in Berlin gelebt und sich mit den eigenen gemischten Gefühlen wie mit denen anderer Israelis zu diesem gleichermaßen realen und imaginären Ort auseinandergesetzt"(4).  Man darf wohl davon ausgehen, dass diese gemischten Gefühle nicht nur Berlin gelten, sondern Deutschland überhaupt. Berlin ist hier nur ein Symbol. Gewiss, jetzt kauft man in Israel Miele-Kühlschränke oder funkelnagelneue BMWs ohne größere Bedenken, aber "auch wenn man in Israel heutzutage gelegentlich Werke von Strauss oder Wagner zu hören bekommt, so ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit"(5), heißt es bei Anat Feinberg.

Welche Vorstellung haben die Israelis heute denn von den Deutschen? Statt eine Umfrage durchzuführen, haben wir uns vorgenommen, anhand von Anat Feinbergs Anthologie Wüstenwind auf der Allee. Zeitgenössische israelische Autoren blicken auf Deutschland auf die Darstellung der Deutschen in der hebräischen Literatur nach 1948 einzugehen. Diese Studie ersetzt wohlgemerkt keine Meinungsumfrage, und auf die mögliche Diskrepanz zwischen literarischer Darstellung und Volksempfinden wird in diesem Beitrag hingewiesen. Um das Image der Deutschen in der israelischen Bevölkerung so präzis wie möglich zu erfassen, müsste diese Untersuchung durch eine soziologische Analyse ergänzt werden, aber völlig irrelevant ist das Bild der Deutschen in der israelischen Literatur auch nicht, denn schließlich sind die Schriftsteller ein Bestandteil der israelischen Gesellschaft.  Die Vielfalt des von Anat Feinberg zusammengestellten Bandes ermöglicht es außerdem, der Gefahr einer allzu großen Subjektivität zu entgehen. Von Aharon Megged, Jahrgang 1920, bis hin zum 1967 geborenen Etgar Keret bietet dieses Buch eine an subtilen Schattierungen reiche Palette.

Nicht selten hält man das deutsche und das jüdische Volk aufgrund einer leidvollen gemeinsamen Geschichte für unversöhnlich. Glücklicher- oder unglücklicherweise hat die Zeit die mit dem Erinnerungsvermögen verbundenen Schmerzen etwas gedämpft, wie aus Etgar Kerets Erzählung über ein Paar Sportschuhe mit dem Etikett "Hergestellt in Deutschland" (1994) hervorgeht. Es wäre allerdings irrig, anzunehmen, dass die Vergangenheit keine Spuren hinterlassen hat. Hierfür liefert der Auszug aus Orly Castel-Blooms Roman Dolly City (1992) einen eklatanten Beweis. Darin kommen die Deutschen als die "allergrößten Schweine der Geschichte" vor. Weitab von diesem Extrem beschreibt Aharon Megged in Der Besuch von Frau Hilde Hofer (1989) eine an Missverständnissen reiche Begegnung, die die deutsch-israelische Versöhnungsgeschichte vielleicht am prägnantesten widerspiegelt.

I. Brüchiges Gedächtnis

Was empfinden denn junge Israelis am Gedenktag der Shoah, wenn landesweit Sirenen ertönen und plötzlich alles stehen bleibt, ganz egal ob Autofahrer, Fußgänger, Rentner oder Schulkinder? Können Kinder, wenn sie die Holocaust-Gedenkstätte besichtigen, das Unvorstellbare auch nur erahnen? Wahrscheinlich verlassen sie das Museum mit Wut im Bauch, Wut auf das deutsche Volk, das gewähren ließ oder, schlimmer noch, aktiv mitmachte. Ganz bestimmt versprechen manche Kinder beim Verlassen der Gedenkstätte Yad Vashem den Verstorbenen, niemals zu vergessen, das Land der Barbaren niemals zu betreten, aber was wird mit der Zeit aus diesen Versprechen, wo doch jedes Jahr die letzten Überlebenden dahingerafft werden? Obwohl der Staat Israel alles daran setzt, die Erinnerung wach zu halten und ehemalige Opfer die Bürde auf sich nehmen, über das Unvorstellbare zu berichten, gibt es nichts Fragileres als das menschliche Gedächtnis. Um diesen durchaus düsteren Themenkreis geht es in Etgar Kerets Erzählung Schuhe (6) (1994), in deren Mittelpunkt ein Paar Adidas-Turnschuhe steht. Der unbeschwerte Ton der Erzählung steht nur scheinbar im Widerspruch zur Ernsthaftigkeit des Sujets, in Wirklichkeit ist er ein Beweis dafür, dass Humor wirksamer sein kann als das übliche Betroffenheitsgetue.

Für den jungen Helden der Erzählung ist der Gedenktag der Shoah wie für alle seine Mitschüler Anlass zu einem Ausflug, bei dem die Kinder dazu verpflichtet werden, Schwarzweißbilder mit angehäuften Skeletten anzusehen, während Greise das Wort ergreifen, um an das geschehene Unheil zu erinnern, und manchmal, wie in der Erzählung, die Kollektivschuld des deutschen Volkes hervorzuheben. Der Redner, der vor dem jungen Helden auftritt, beschließt seinen Vortrag mit einem Hinweis darauf, "die Deutschen seien noch am Leben, und sie hätten immer noch einen Staat"(7). Für diesen Überlebenden haftet allem Deutschen etwas Abscheuliches an. Dies gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für das, was sie herstellen: "" […] jedes Mal, wenn ihr ein deutsches Erzeugnis seht, egal, ob das ein Fernseher ist, denn die meisten Fernsehmarken sind aus Deutschland, oder etwas anderes, denkt immer daran, dass sich unter der eleganten Verpackung der Ware Teilchen und Röhrchen befinden, die aus den Knochen, der Haut und dem Fleisch toter Juden sind"(8). Auch wenn diese Äußerungen überspitzt klingen, kann sich der Leser wohlgemerkt der Frage nicht erwehren, ob bestimmte Konzerne, deren Produkte heute in den Regalen der Warenhäuser thronen, ihr Vermögen nicht zum Teil der Ausbeutung von Zwangsarbeitern während der Nazi-Herrschaft verdanken.

In den Augen des ehemaligen Opfers sind alle Deutschen mitschuldig. Deshalb warnt es die Kinder und fleht sie an, sich jedes Mal, wenn ein Deutscher vor ihnen steht, auf das zu besinnen, was es ihnen erzählt hat. Der junge Erzähler, dessen Großvater im Holocaust umgekommen ist, steht also fassungslos da, als seine Mutter ihm ein Paar Turnschuhe aus Deutschland schenkt. Zuerst ist ihm unwohl, dennoch zieht er die Schuhe an, wobei er ununterbrochen an seinen verstorbenen Großvater denkt. Schließlich geht er herunter auf den Hof und gesellt sich einer Gruppe von Kindern zu, die gerade Fußball spielen. Anfangs sind seine Gesten sehr vorsichtig, denn jedes Mal, wenn er den Ball stößt, ist ihm, als würde er seinem Großvater einen Fußtritt versetzen, aber im Rausch des Spieles vergisst er langsam, woher die Schuhe kommen, die er an den Füssen trägt. Das hatte der alte Mann in seiner Predigt prophezeit: am Ende vergessen alle. Und doch, als das Spiel zu Ende ist, widmet in einem inneren Monolog der kleine Junge seinem Großvater das großartige Tor, das er geschossen hat. Dem Autor ist hier ein tiefsinniger Schluss gelungen. Beim Tragen der Schuhe merkt der kleine Junge, dass sie "schrecklich bequem und auch irgendwie viel federnder"(9) sind, als er es sich bei ihrem Anblick in ihrer sargförmigen Schachtel vorgestellt hatte. Die kindliche Begeisterung über die ungeahnte Leichtigkeit dieser deutschen Schuhe ist ein Zeichen dafür, dass die Vergangenheit nicht alles zu erdrücken vermag. Fast ohne Schaudern trägt ein junger Jude Schuhe aus dem Land des Grauens. Zwar stört ihn die Erinnerung, aber doch nicht unentwegt. Vom Spiel und vom Sog der Gegenwart mitgerissen vergisst das Kind das, was es sich versprochen hatte, niemals zu vergessen. Kann man es ihm übel nehmen? Der Mensch ist so beschaffen, dass er auch beim besten Willen nicht stets mit der Erinnerung leben kann. Gewiss, es wäre illusorisch, anzunehmen, dass die Vergangenheit das Verhältnis der Israelis zu Deutschland nicht länger überschattet. Mancher Text, auf den wir eingehen werden, beweist, dass das Ressentiment nicht verschwunden ist, aber beim Lesen von Etgar Kerets Erzählung spürt man, dass, wenn ein paar Überlebende nicht wären, Deutschland nur noch ein Name auf der Weltkarte, beziehungsweise ein Vermerk auf einer Verpackung sein würde und vermutlich bald auch sein wird: Made in Germany.

II. Die allergrößten Schweine der Geschichte

Bei Etgar Keret gehört der unbändige Hass auf die Deutschen zur Generation der Überlebenden. Ohne sich dabei etwas zu denken, haben die Eltern des jungen Helden ihm ein Paar Schuhe deutscher Herkunft geschenkt, und aus dem Wohlgefühl, das das Kind beim Tragen dieser Schuhe verspürt, ist zu ersehen, dass es bald sogar stolz auf diese Schuhe sein wird. Während Etgar Keret die Fragilität des Gedächtnisses thematisiert, verweist Orly Castel-Bloom in ihrem Roman Dolly City (10) (1992) darauf, dass die Rache eine Speise ist, die kalt genossen wird. Auf den ersten Blick scheint ihre dem Medizinwahn verfallene Heldin, die selbst bei Strommasten Tumoren diagnostiziert, reichlich durchgeknallt. Genauso skurril erscheint deren Straffeldzug nach Deutschland – aber neigt man nicht leicht dazu, diese Frau für wahnsinnig zu erklären, weil sie das lautstark ausspricht, was sich viele ihrer Landsleute, ganz besonders in Bezug auf die Deutschen, im stillen Kämmerlein denken?

Mit reichlich Galgenhumor zeigt Orly Castel-Bloom, wie ihre Heldin sich auf die Suche macht nach einer Niere, die sie ihrem Sohn einpflanzen lassen möchte, denn sie hat vergessen, wie viele er derer besitzt, und doppelt genäht – beziehungsweise dreifach – hält bekanntlich besser. Statt auf einen potentiellen Spender zu warten, ist die Mutter fest entschlossen, ein Kind zu entführen, um es einer seiner Nieren zu berauben. Als erster möglicher Tatort fällt ihr Brasilien ein, denn das Land ist so tief gesunken, dass selbst Kinder Bordelle betreiben, aber Brasilien liegt weit weg, und wahrscheinlich müsste sie Samba tanzen! Natürlich sind da noch die Araber, an denen sie sich ohne größere Bedenken vergreifen könnte, hassen sie doch die Juden genauso sehr, wie die Juden sie hassen, aber wie jeder weiß, sollte man mit Arabern lieber nichts zu tun haben. Als die verzweifelte Mutter sich fragt, wer die allergrößten Schweine der Geschichte sind, die es mit ihrer Ungeheuerlichkeit verdient haben, dass man einen ihrer Sprösslinge um eine Niere bringt, fällt ihre Wahl auf die Deutschen. Ohne zu zaudern, macht sie sich auf den Weg zu einem Straffeldzug in einem Düsseldorfer Waisenhaus. Ihre Ankunft in Deutschland entspricht ihren Erwartungen. Neonazis schwingen Transparente und ballen die Fäuste, als ein Bus mit israelischen Insassen vorbeifährt. Die Heldin macht ein entlegenes Waisenhaus ausfindig. Sie packt ihren Sohn in einen Koffer mit Luftlöchern und begibt sich dorthin. Während der Fahrt werden alle Klischeevorstellungen über Deutschland bestätigt. Das Wetter ist scheußlich. Zuerst regnet es, dann schneit es, und der Taxifahrer ist so besserwisserisch wie jeder Deutsche, der etwas auf sich hält. Im Waisenhaus wird die Heldin von einer nymphomanischen jungen Frau empfangen, die ihr beichtet, dass sie ihr Leben den Kindern opfert, um für die Verbrechen ihres Großvaters, der früher bei der SS war, zu büßen. Allerdings kann sie die drückenden Schuldgefühle kaum noch ertragen. Das einzige, dem sie nun ihr Leben widmen möchte, ist Sex. Die beiden Frauen gehen ein teuflisches Bündnis ein. Die Krankenschwester willigt darin ein, Kinder an die Unbekannte auszuliefern unter der Bedingung, dass sie ihnen nicht nur eine Niere entfernt, sondern gleich den Kopf aufmacht, um herauszufinden, welche Schraube bei den Deutschen denn locker sitzt. Die Bittstellerin nimmt das Angebot an. Dabei ist sie fest entschlossen, sich nicht soviel Mühe zu geben. Warum sollte sie sich auch besonders anstrengen, um das herauszufinden, was jeder ohnehin schon weiß, nämlich, "dass die Deutschen einen Kopf voll Scheiße haben"(11)?

Zwar klingt die Expedition wie ein hanebüchenes Epos, aber hat Orly Castel-Bloom hier nicht etwa auf skurrile Art und Weise jene Archetypen porträtiert, die im israelischen Unterbewusstsein, bzw. Bewusstsein geistern: die nymphomanische Blonde, die allgemeine nazistische Abstammung, der teuflische, der Menschlichkeit spottende faustische Wissensdurst, eine vorgetäuschte Sühne, die nur Theater ist, das Ganze gespickt mit ein paar meteorologischen Klischees über ein albtraumhaftes Land, in dem es entweder regnet oder schneit? In ihrem Übermaß bricht die Heldin alle Tabus. Das sonst Verschwiegene bricht hervor. Warum nur greift die Autorin zum Galgenhumor, um diese Tabus zu artikulieren, die sich sonst keiner so recht eingestehen mag? Vielleicht deshalb, weil ohne den Sauerstoff des Humors die Dinge unerträglich wären, wie etwa das Gefühl, dass die Sühne nur Fassade, der Nazismus dagegen unter dem Etikett "Neonazismus" immer noch lebendig ist.

III. Subtile Zwischentöne

Mit ihrem brachialen Hass auf die Deutschen steht Orly Castel-Blooms Heldin inmitten der israelischen Literaturlandschaft ziemlich einsam da. Nur in Lea Ainis Erzählung Höhe des Meeresspiegels kommt eine ähnlich krasse Germanophobie gelegentlich zum Ausdruck. Darin kommt ein alter Deutscher vor, dessen Tochter spurlos verschwunden ist und der den am Ufer des Sees Genezareth liegenden Badegästen das Bild der Vermissten händeringend vorweist. Ihm schlägt brutaler Hass entgegen. Die Badegäste, die davon ausgehen, dass sie nicht verstanden werden, wenn sie unter sich parlieren, nennen das Mädchen auf dem Foto eine blonde Kuh, beziehungsweise eine Hure, während aus dem Vater ein Nazi oder "Vater Hitler" wird. Alle die gemeint hatten, die Deutschfeindlichkeit wäre heute verschwunden, müssen sich bei diesem Blick in die Menge eines Besseren besinnen. In ihrer Darstellung der Deutschen scheinen die israelischen Schriftsteller allerdings ungemein zurückhaltender als der Mob, der sich hier zu Wort meldet. Es stellt sich also die Frage, ob  nicht etwa eine Kluft besteht zwischen den überempfindlichen Reaktionen der Menschen auf der Strasse und dem viel gemäßigteren Urteil der Intellektuellen, in deren Augen die Schuld der Väter nicht auf deren Kinder zurückfällt. Frappierend ist in der israelischen Literatur nämlich, dass die durch ihre Einfachheit verführerische Gleichung Deutsche = Unmenschen nicht vorbehaltlos gilt. Dies spiegelt die Reife dieser Literatur wider, denn es braucht viel Weisheit, um sich bei Millionen von Toten nicht von Rachegelüsten verleiten zu lassen. Als ein Beispiel für diese höchst differenzierte Haltung sei hier der Text Land der schwarzen Wälder (12) erwähnt, ein Auszug aus dem Roman von Hanoch Bartov Die Brigade (1965).

In seiner Geschichte hat der 1926 in Petach Tiqvah (heute Israel) geborene Prosaist und Dramatiker Hanoch Bartov Spannung und philosophische Botschaft gekonnt miteinander verflochten. Gebannt verfolgt der Leser den Vormarsch der jüdischen Brigade durch ein gespenstisches, seinem Schicksal überlassenes Deutschland. Eines Abends begegnen die jüdischen Soldaten der Brigade dem Feind. Überrascht stehen sie einer eher erbärmlichen als furchteinflössenden Gestalt gegenüber. Der Mann, ein ehemaliger Wehrmachtsoldat hat seine Schulterstücke abgerissen und steht in einer verbeulten Zivilhose auf einem Fahrrad. Unaufgefordert weist er die jüdischen Soldaten auf ein Haus hin, in dem SS-Leute sich aufhalten. Was über das undurchschaubare Verhalten des Mannes hinaus den Erzähler frappiert, ist das Gefühl, dass dieser Mensch ihm schon bekannt ist. Hat er doch den gleichen Akzent, die gleiche kräftige, fast fette Figur und das gleiche teigige Gesicht wie Holländer, ein deutscher Jude, der wie manche andere kurze Zeit davor in seine landwirtschaftliche Genossenschaft eingezogen ist und der im zur Bewässerung der Zitrushaine bestimmten Pumpenteich Schwimmunterricht erteilt. Kaum hat der Erzähler sich  gefragt, wie die schrecklichen Deutschen aussehen mögen, und schon fällt die Antwort. Tief erstaunt muss er feststellen, dass ihm von den Bergstiefeln bis hin zum breitreifigen Rad alles vertraut ist. Alles wäre viel einfacher, wenn sich das Ungeheuerliche den Menschen ins Gesicht prägen würde und bei genauerem Hinsehen ablesbar wäre, aber die ungeheuerlichen Deutschen sind im Grunde genommen, wie Hannah Arendt feststellen musste, schrecklich banal. Für Hanoch Bartov gehörte fraglos Mut dazu, zwanzig Jahre nach Kriegsende ein derart ungewöhnliches Porträt des Feindes zu entwerfen.

In einer anderen Erzählung, Das Erdbeermädchen (13) (1992) von Savyon Liebrecht, baut eine junge Jüdin in einem KZ Erdbeeren an und versorgt damit die Frau des Obersturmbannführers. Bei den Nazis und ihren Gattinnen weckt das Mädchen alle menschenmöglichen Gefühle. Die Autorin verfolgt nicht die Absicht, die Mörder sympathisch zu machen, sondern die Komplexität der menschlichen Seele bloßzulegen. Neben der Erzählerin, einer sensiblen, mitleidsfähigen Person, die nicht ahnt, was für Tragödien sich im Lager abspielen, stehen grausame Figuren wie ihr Ehemann, der seinen Sohn verprügelt und für die Schwachen nur Verachtung übrig hat oder die Frau des Obersturmbannführers, die das Erdbeermädchen ohne Gewissensbisse vergasen lässt. Durch die breitgefächerte Palette von Figuren, die in der Erzählung vorkommen, zeigt Savyon Liebrecht nicht den Deutschen, sondern die Deutschen. Die Dosierung scheint genau richtig. Hätte die Autorin in der unmittelbaren Nähe eines Vernichtungslagers unbefangene Figuren voller Nächstenliebe platziert, dann hätte die Erzählung jede Glaubwürdigkeit eingebüsst, wobei die Autorin nicht ausschließt, dass einige Deutsche wie die Erzählerin sich das Grauen nicht richtig vorzustellen vermochten, da es ja unfassbar war. Offensichtlich hat nicht der Hass Hanoch Bartov oder Savyon Liebrecht zu ihren Erzählungen inspiriert, jener Hass, der – so Inge Deutschkron – am Ende des Zweiten Weltkriegs in Israel das dominierende Gefühl war. Man kann heute nicht mehr so undifferenziert schreiben, wie Inge Deutschkron dies 1970 in Bezug auf die Nachkriegszeit tat: "Jeder einzelne Israeli schien in seiner Einstellung zu den Deutschen fixiert zu sein, ohne dass eine Möglichkeit der Revision seiner Ansichten bestand"(14), denn ausgerechnet zu einer Revision dieser Ansichten fordert die israelische Literatur seit mehreren Jahrzehnten auf.

Ein weiteres Beispiel dafür liefert Nava Semel mit ihrer Erzählung Reise in die geteilte Stadt (15) (1985). Der Held, David Berger, ist ein unglücklicher Mann. Seine Frau hat ihn verlassen, und seine Mutter ist gerade verstorben. Beim Aufräumen der mütterlichen Wohnung findet er einen Brief aus dem Jahre 1964, der an seinen Vater adressiert war. Damals war David Bergers Vater unterwegs in Deutschland, und im Brief bat seine Frau ihn darum, einen gewissen Heinz Klein aufzufinden, ehe es zu spät war. Später, bei einem Streit zwischen den Eltern hatte David gehört, wie seine Mutter rief: "Wenn Heinz Klein mich doch nur nicht gerettet hätte!"(16) Sobald er den an seinen Vater adressierten Brief findet, kann er nicht umhin, an diesen Heinz Klein zu denken. Da seine Mutter eine gebürtige Berlinerin war, nimmt er sich vor, nach Berlin zu fliegen. Beim Blättern im Westberliner Telefonbuch findet er einen Heinz Klein, aber als er ihn anruft, erfährt er, dass dieser 35jährige Mann drei Jahre vorher unter tragischen Umständen umgekommen ist. David Berger nimmt sich also vor, einen Tag jenseits der Berliner Mauer zu verbringen – daher der Titel der Erzählung: Reise in die geteilte Stadt. In Ost-Berlin wird David Berger bei seiner telefonischen Suche fündig. Schließlich trifft er einen alten Mann, der sich zum Geständnis durchringt, dass er David Bergers Mutter, geborene Wagner, gekannt habe. Es war während der Nazi-Zeit. Anna Wagner war in einem Arbeitslager. Man hatte sie in die Fabrik geschickt, wo Heinz Klein beschäftigt war. Als letzterer festgestellt hatte, dass sie nicht nur hübsch war, sondern auch Rilke-Gedichte auswendig kannte, hatte ihn diese Entdeckung erschüttert, und allen Reichsgesetzen zum Trotz hatte er sich in die junge Frau verliebt. Heimlich brachte er ihr zu essen. Als sie erkrankte, versteckte und pflegte er sie. Damals hatte er gar davon geträumt, seine Frau zu verlassen, um nach dem Krieg Anna zu ehelichen.

Heute fragt sich Heinz Kleinz, ob diese Liebe nicht das einzige ist, was ihm ein menschliches Gesicht verleiht. Als David noch in Israel war, geisterte Heinz Klein in seinen Albträumen. Der uniformierte Deutsche rief ihm zu: "Komm! Komm nach Deutschland, dreckiger Jude. Komm und schaue dir an, was wir mit deiner Mutter gemacht haben"(17). Und plötzlich steht er einem alten Mann gegenüber, der weiß, dass er bald sterben wird. Entgegen allen Erwartungen empfindet David keinen Hass gegenüber diesem ehemaligen Nazi, der nach dem Krieg zehn Jahre in russischer Gefangenschaft gelebt und vergeblich darauf gewartet hat, dass Anna zurückkommen würde, um von seiner früheren Unterstützung zu zeugen. Seine Geschichte besteht zwar aus den Irrungen und Wirrungen eines Nazis – denn er gibt zu, dass er mal ein überzeugter Nazi war –, aber es ist auch die Geschichte eines Menschen, der nicht frei von Schwächen ist und bei dem die Leidenschaft einmal stärker war als der politische Verstand. Letztendlich ist es die sehnsuchtsvolle Geschichte eines verletzten Menschen, dessen Liebe unerwidert blieb. Zu seiner großen Überraschung muss der von seiner Frau verlassene David Berger zwischen dem "Ungeheuer" und sich eine Gemeinsamkeit feststellen: "Heinz Klein und mir ist die Rolle des Nichtgeliebten zugefallen"(18).

 Einmal wieder bekommt das archetypische Bild des Nazis Risse. Der Unmensch ist nicht ganz unmenschlich. Heinz Klein war nicht nur ein überzeugter Nazi, sondern auch der unglückliche Liebhaber einer jungen Jüdin. Vielleicht sollte man sich davor hüten, die Täter näher kennen zu lernen, denn zu groß ist die Gefahr, dass dabei  allzu bequeme Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten. Vor dieser Gefahr schreckt Nava Semel, die Autorin, nicht zurück. Wäre sie Deutsche, könnte man ihr vorhalten, dass sie dabei den Mördern ein menschliches Gesicht verleiht, und es läge nahe, sie der Verklärung der Vergangenheit zu bezichtigen. Im vorliegenden Fall entfällt die Kritik, denn Nava Semel ist Mitglied des Massua-Instituts für Holocauststudien und sitzt im Verwaltungsrat der Gedenkstätte Yad Vashem. Umso mutiger erscheint ihr Versuch, jede Schwarzmalerei zu vermeiden, auf die Gefahr hin, dass sie sich hierdurch der öffentlichen Meinung entfremdet, die altvertraute Feindbilder bevorzugt.

IV. Und die Töchter sollen für ihre Väter büßen

Verlässt Nava Semels Held Israel, um sich für ein paar Tage in Berlin aufzuhalten, so lädt Lea Aini in ihrer Erzählung Höhe des Meeresspiegels (19) zu einer Reise in die entgegengesetzte Richtung ein, aber darf man noch von "Reise" sprechen, um ein extremes existentielles Abenteuer ohne Rückkehr zu bezeichnen? Bei der Lektüre dieser Erzählung wohnt der Leser einer richtigen Verwandlung bei. In aller Augen ist die Heldin eine beliebige Eisverkäuferin, die in ihrem Van am Ufer des Sees Genezareth den Durst der Urlauber stillt. Niemand würde auf die Idee kommen, dass diese kurzhaarige, braungebrannte Frau, die Hebräisch mit israelischem Einschlag spricht, in einem früheren Leben Deutsche war. Ihr außergewöhnlicher Lebensweg ist der Leitfaden dieser Erzählung.

Alles beginnt damit, dass sie, als sie, als junges Mädchen, sich vornimmt, Einblick zu gewinnen in das, worüber alle Geschichtsbücher mit Stillschweigen hinweggehen. Ihre Hartnäckigkeit wird belohnt, und sie bekommt schließlich jene halbtoten, klapperdürren Gestalten, jene bleichen, zusammengekauerten Leichen zu Gesicht, die man ihr hat verbergen wollen. Zu gleicher Zeit entdeckt sie das Tagebuch, in das ihr Großvater seine Liebesgeschichten eingetragen hat. Darin ist von einer heißgeliebten jungen Frau die Rede, die Palästina besichtigt und ihm ganz entzückt von einer Stadt erzählt hat, die "wie ein Türkis da[liegt], funkelnd mit den sandfarbenen Häuptern ihrer Dattelpalmen"(20). Diese Zeilen beflügeln die Fantasie der jungen Leserin. Sie beschließt, in die Fußstapfen jener "süßen Sünderin" zu treten, die "beim Liebesspiel [...] wie eine Wüstenleopardin den Namen des Herrn herausschrie"(21). Sie nimmt sich vor, den Muff des Provinzgymnasiums und ihren Vater, der heimlich den Arm zum Hitlergruss erhebt, hinter sich zurückzulassen und macht sich auf den Weg ins gelobte Land.

Die Kühnheit von Lea Ainis Erzählung liegt daran, dass diese Reise gleichermaßen ein Selbstfindungsprozess und eine erotische Entdeckungsreise ist. Die junge Frau verdingt sich in einem Kibbuz, und zwar nicht nur mit der Absicht, Obst zu pflücken. Sie gibt sich den Kibbuzarbeitern hin, "um zu büßen und zu sündigen"(22). Die Tochter aus einem schuldigen Volk hat es darauf abgesehen, die Enkel der Opfer fleischlich zu lieben und sie zur Ekstase zu bringen. Was die Erzählerin hier treibt, ist vielleicht nicht Liebe zu einem Volk im üblichen Sinne des Wortes, aber Liebe gehört ganz bestimmt dazu, auch wenn mancher Leser versucht sein könnte, in dieser Geschichte nichts weiter als Pornographie zu sehen . Lea Aini inszeniert beispielsweise eine Begegnung zwischen ihrer Heldin und einem jungen Juden, der im Bett philosophiert über "die Volontärpussis, die allesamt bloß aus Verzeihen und Sühne gemacht seien, so dass man sie wie mit dem Mähdrescher ernten könne, wobei sie einen nur mit diesem zuckersüßen Schafslächeln anlächelten"(23). In Wirklichkeit finden bei Lea Aini Deutsche und Juden, die der Hass geschieden hat, im Sex wieder zueinander. Die Frage des jungen Kibbuzbewohners: "dieser jüdische Schwanz tut dir gut, ah?" wird von der Erzählerin bejaht. Es wäre allerdings irrig, diese Erzählung als sexuellen "Bildungsroman" in der Fremde zu interpretieren. Zwar lässt sich die Hauptfigur auf viele Abenteuer mit Kibbuzmitgliedern ein, aber der Sex ist es nicht, was sie in Israel zurückhält. Vielmehr hat sie endlich ihre Heimat gefunden. Deutschland war gestern. Plötzlich ist im Herzen der Erzählerin eine inbrünstige Liebe zum Land Israel erwacht, und wenn aus Liebe Leidenschaft wird, wächst der Wunsch, mit dem anderen zu verschmelzen. Deshalb ist die Erzählerin selbst eine Tochter von Zion geworden. Sie hat in Israel Wurzeln geschlagen, die Sonne hat ihre Haut gebräunt, "ihre Augen, blau wie die schlesischen Seen verdunkelten sich  [...], ihr Haar wurde sehr hell, bis es vollkommen ausgeblichen war und der landesüblichen Weizenart glich"(24). Hier wird ein Wunsch wahr, der, wenn man sich auch Hals über Kopf in ein Land verliebt, dazu verdammt ist, unerfüllt zu bleiben, nämlich der Wunsch, als ein Kind dieses Landes geboren worden zu sein. Diese Sehnsucht ist bei Lea Ainis Heldin so stark, dass letztere sich gleich einer Schlange häutet  und in eine neue Körperhülle schlüpft. In ihrem Fleisch ist sie nun eine Tochter Israels, und keiner würde auf den Gedanken kommen, dass sie je ein anderer Mensch war, nicht einmal ihr verwahrloster, halb verrückter Vater, der am Ufer des Sees Genezareth seine Tochter sucht, die Badegäste um Hilfe bittet und ihnen ein Bild vorzeigt, auf dem eine junge Frau zu sehen ist, die es nicht mehr gibt. Gelegentlich erbarmt sich die Eisverkäuferin des alten Mannes und schenkt ihm einen Eisbecher, aber darüber hinaus geht ihr Mitleid nicht. Wenn er ihr das Bild seiner Tochter hinhält, ohne zu ahnen, dass sie ihm gegenübersteht, kann sie nur behaupten, dass sie diese junge Frau nicht kennt. Dieser Mann ist nämlich nicht länger ihr Vater und sie ist nicht mehr seine Tochter.

In dieser von jeglichem Pathos freien Erzählung inszeniert Lea Aini die deutsch-israelische Versöhnung auf höchst originelle Art und Weise. Es zählt zu den Verdiensten der Autorin, dass sie hier an ein Tabu rührt, und zwar die unterschwellige erotische Dimension, die von der Begegnung zwischen den Nachkömmlingen von Opfern  und Henkern nicht auszuschließen ist, eine anrüchige Faszination, die sich sonst keiner so recht eingestehen mag. Zwischen Bußfertigkeit und süßen Rachegelüsten wird die Fortsetzung der deutsch-jüdischen Geschichte im Bett geschrieben. Aber hier geht es eigentlich um mehr als um eine Begegnung, es geht nämlich um eine authentische Verwandlung, die aus der leidenschaftlichen Liebe zu einem Land und seinen Einwohnern entspringt. Gewiss, nur wenige Deutsche treiben die Liebe zu Israel und den Juden so weit wie Lea Ainis Heldin. Viele bleiben auf halbem Wege stehen. Wie Irmgard und Helmut Kehr in Gabriele Wohmanns Erzählung Das Biotop (1994) lassen sie es damit bewenden,  sommers in einem Kibbuz zu arbeiten, beziehungsweise ihren Sohn Isaak zu nennen. Und doch kann man nach Lea Ainis Erzählung sich des Verdachts nicht erwehren, dass irgendwo zwischen Haifa und der Negev-Wüste sich Israelis aufhalten, die in einem früheren Leben katholisch, beziehungsweise evangelisch und Deutsche waren. Aufgrund einer Pendelbewegung der Geschichte ist  die Liebe zu den Juden heute bei den Deutschen mitunter so stark wie früher der Hass(25).

V. Der Weg des Dialogs

Diese Liebe zu Israel und den Juden wird in einer Erzählung Aharon Meggeds von Frau Hilde Hofer verkörpert (Der Besuch von Frau Hilde Hofer(26), 1989). Letztere repräsentiert jene zahllosen jüdisch-christlichen, beziehungsweise deutsch-israelischen Freundschaftsvereine, die aus den Trümmern des Holocausts entstanden. Die Wunden waren zu tief, um über Nacht zu vernarben, die Versöhnung geht also nicht reibungslos vonstatten. Ausgerechnet auf jene kleinen Reibungen und Meinungsverschiedenheiten geht Aharon Megged in seiner Erzählung ein. Selbst wenn eine einzige Erzählung die vielfältigen Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis nicht in allen ihren Schattierungen widerzuspiegeln vermag, gelingt es dem Autor, überzeugend zu beweisen, dass trotz aller guten Vorsätze beiderseits der Weg des Dialogs nicht selten ein unbequemer Weg bleibt.

In Deutschland gehört Frau Hilde Hofer einem Institut für menschliche Verantwortung an. Einmal entdeckt sie durch einen Artikel in einer Zeitschrift den Israeli Kurt Levi und seinen Kreis für moralische Verantwortung. Sie setzt sich mit ihm in Verbindung. Kurt Levi hat 1932 Deutschland verlassen und hat, nachdem er in einem Kibbuz als landwirtschaftlicher Arbeiter tätig war, seinen Kreis gegründet, um seine Mitglieder davon zu überzeugen, dass Moral in erster Linie Sache des Einzelnen ist. Ihn stört die Selbstgerechtigkeit seiner Landsleute, die eine individuelle moralische Reflexion für überflüssig halten, weil sie davon ausgehen, dass eine Gesellschaft mit so edlen Einrichtungen wie den Kibbuzim per Definition moralisch ist. Er führt das Beispiel eines Kibbuzmitglieds an, das achtlos an einem Bettler vorübergeht, weil das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die moralische Ansprüche auf Gleichheit und Gerechtigkeit erhebt, ihm jeden Gewissenskonflikt erspart – ein nach Kurt Levis Ansicht unvertretbarer Standpunkt. Vielmehr fordert Kurt Levi die Menschen dazu auf, sich von der kollektiven Moral loszulösen, sich mit ihr auseinander zu setzen und erst nachher den Weg in die Gemeinschaft wieder einzuschlagen. Aus diesem Grund hat er selbst 1946 den Kibbuz verlassen. Anschließend reiste er um die Welt, schmiedete seine eigene Moral und kehrte in die israelische Gesellschaft zurück.

Hilde Hofer erinnert sich an den Besuch, den Kurt Levi ihr in Deutschland abgestattet hat und an ihr damaliges Gefühl,  in nichts unterscheide sich das Anliegen der in ihrem Institut um sie versammelten evangelischen Glaubensgenossen von dem Kurt Levis. Anlässlich dieses Besuchs hatte sie eine Stelle aus Hermann Cohens Deutschtum und Judentum vorgelesen, einem Werk, das in Kurt Levis Jugend eine Art Bibel gewesen war. Bei Hermann Cohen hieß es, zwischen Deutschtum und Judentum bestünden so unbestreitbare Gemeinsamkeiten, dass der Nationalsozialismus nur als eine Katastrophe sondergleichen aufgefasst werden könne. Dieser Botschaft getreu hatte Hilde Hofer unternommen, gemeinsam mit Kurt Levi die abhanden gekommene Harmonie wieder herzustellen. Der Israeli hatte zwar  kein Hehl daraus gemacht, wie schwer es ihm gefallen sei, das Land erneut zu betreten, das er kurz vor Hereinbrechen der Finsternis verlassen hatte, aber gleichzeitig hatte er sich darüber gefreut, in einem neuen Deutschland eine so junge und liebenswürdige Gemeinschaft begrüßen zu dürfen. Den Kindern seien die Verbrechen der Väter nicht anzukreiden, hatte er damals gemeint.

Am Anfang der Erzählung hält sich Hilde Hofer in Israel auf, wo sie Kurt Levi einen Besuch abstattet. Trotz ihrer Herkunft schlägt ihr wohlgemerkt keinerlei Feindseligkeit entgegen, aber ihr Vorhaben, eine ihrem deutschen Institut vergleichbare Stiftung in Israel zu gründen, um die Verbindung zwischen dem deutschen und dem israelischen Volk sichtbar zu machen, stößt bei Kurt Levi auf Ablehnung. Hilde Hofer handelt aufgrund der menschlichen Verantwortung, die ihrer Ansicht nach die Deutschen den Israelis gegenüber "verpflichtet",  aber ausgerechnet jene kollektive Verantwortung – und jenes Sühnezeichen im Namen der Gemeinschaft – sind Kurt Levi zuwider. Ihm scheint, dass in einem solchen Zentrum, der vorgegebene moralische Rahmen jede persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, jede ethische Reflexion beim Einzelnen vereiteln würde.

In Deutschland hatte zwischen Kurt Levi und Hilde Hofer eine tiefe Harmonie geherrscht. Umso enttäuschender fällt die Wiederbegegnung in Israel aus. Frau Hofer dachte, sie würde in Kurt Levis Bibliothek jenen Band wiederfinden, den sie ihm gewidmet hatte, ein von ihrem Onkel, einem Pfarrer, verfasstes Werk mit dem Titel Er hat wahrlich eure Krankheiten auf sich genommen, "eine Anklageschrift gegen das Christentum hinsichtlich seiner Beziehung zum Judentum"(27). Entgegen allen Erwartungen findet sie das Buch in einer Jerusalemer Bücherei wieder. Kurt Levi ist es losgeworden. Wahrscheinlich hat er sich mit der Figur vom Sohn Gottes, der die ganze Menschheit von ihren Sünden befreit, also jedes individuelle Schuldgefühl überflüssig macht, nicht anfreunden können. Kein Wunder, dass die enttäuschte, ratlose Hilde Hofer schließlich auf den Stufen der Dormition-Kapelle in Jerusalem ausrutscht und in einem Krankenhausbett landet, in dem sie sich mit dem Gedanken plagt, dass sie für eine Sünde bestraft wurde, die sie noch in sich entdecken muss. Hat Hilde Hofer gesündigt, so ist Kurt Levi auch nicht unschuldig. Aharon Megged verschont den Moralprediger nicht, der kein einziges Mal Frau Hofer im Krankenhaus besucht. Außerdem, war es wirklich "moralisch", sich eines Geschenkes zu entäußern? Der Schluss klingt also etwas bitter. Auch wenn deutscher und jüdischer Idealismus offenbar Gemeinsamkeiten aufweisen – siehe die auffallend ähnlichen Namen beider Kreise – stößt der Dialog allen Annäherungsversuchen und Verständigungsbemühungen zum Trotz auf Überempfindlichkeit und Missverständnisse. "Man kann nie wissen, wie gute Absichten von den Mitmenschen aufgefasst werden"(28), bekennt Frau Hofer voller Einsicht. Schnell kommt es zur Kränkung, auch wenn jeder es mit dem anderen gut meint. Die Wunden sind nicht abgeheilt. Stellenweise sind Schmerzen noch spürbar. Der Weg der Versöhnung ist holperiger, als man denkt.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Zukunft nicht jenen vor dem Krieg geborenen Figuren gehört, sondern der Generation des Adidas-Schuhe tragenden Helden von Etgar Keret. Dieser Generation steht es zu es, nach vorne zu blicken, ohne von der Last der Vergangenheit erdrückt zu werden. Heute schon ist vorauszusehen, dass der Deutsche eines Tages als literarische Figur des Unheimlichen wenn nicht ganz verschwinden, so doch immer seltener vorkommen wird. Kein Grund zur Trauer. Wenn es soweit ist, heißt das nämlich, dass der Deutsche nicht mehr der Andere ist, sondern dass er seine Banalität vollends wieder erlangt hat – und somit sein menschliches Gesicht.

Benoît Pivert ist Dozent für Deutsch an der Universität Paris XI. Sein Forschungsbereich umfasst die deutsch-jüdische Literatur. 

Anmerkungen:
(1) Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen, Köln, Verlag Wissenschaft und Politik, 1970, S. 31
(2) Anat Feinberg, Wüstenwind auf der Allee, Berlin, Aufbau-Verlag, 1998, S. 9-10.
(3) Fania Oz-Sulzberger, Israelis in Berlin, Suhrkamp (Jüdischer Verlag), Frankfurt am Main, 2001.
(4) Umschlag des Buches
(5) Anat Feinberg, op. cit., S. 14.
(6)
Gaza Blues, Tel-Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1994. Deutsche Übersetzung: Die Schuhe von Barbara Linner in Wüstenwind auf der Allee, S. 42 ff.
(7) Ebenda S. 43
(8) Ebenda.
(9) Ebenda. S. 45
(10) Tel Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1992. Deutsche Übersetzung von Mirjam Pressler, Reinbek, Rowohlt Verlag, 1995. In der Wüstenwind auf der Allee wurde der Auszug aus dem Roman "Die deutsche Niere " betitelt, S. 194 ff.
(11) Ebenda, S. 196
(12) Auszug aus dem Roman von Hanoch Bartov, Die Brigade, 1965, Am Oved Publishers, Tel Aviv. Deutsche Übersetzung von Ruth Achlama in Wüstenwind auf der Allee ab S. 165.
(13) Savyon Liebrecht, Das Erdbeermädchen, 1992, Keter Publishers, Jerusalem. Deutsche Übersetzung von Helene Seidler in Wüstenwind auf der Allee ab S. 165.
(14) Ebenda.
(15) Tel Aviv, Sifryat Hapoalim, 1985. Deutsche Übersetzung: Reise in die geteilte Stadt von Mirjam Pressler in Wüstenwind auf der Allee, S. 89 ff.
(16) Ebenda, S. 93.
(17) Ebenda, S. 96.
(18) Ebenda, S. 116.
(19) Tel Aviv, Zmora Bitan Publishers, 1997. Deutsche Übersetzung von Markus Lemke, Höhe des Meeresspiegels in Wüstenwind auf der Allee, S. 176 ff.
(20) Ebenda, S. 186.
(21) Ebenda.
(22) Ebenda, S. 191.
(23) S. 188-189.
(24) Ebenda.
(25) Siehe dazu Gabriele Wohmann, Das Biotop (1994): "Isaak, der einstige Liebling, vor einundzwanzig Jahren ein Goldschatz, den die Kehrs im ersten Ehejahr gehoben hatten, damals in ihrer philosemitischen Zeit, in der sie dauernd nach Israel gefahren waren und sogar einmal für acht Wochen in einem Kibbuz mitgearbeitet hatten". in « Das Salz, bitte ! », München/Zürich, Piper Verlag, 1994, S. 145.
(26)
Tel Aviv, Am Oved Publishers, 1989. Deutsche Übersetzung: Der Besuch von Frau Hilde Hofer von Monika Zemke in Wüstenwind auf der Allee, S. 51 ff.
(27)
S. 82.
(28) S. 84.

hagalil.com 26-05-2008

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