Rechnitz, März 1945:
"Gottgläubig-neuheidnische" Party der SS mit Massenmord?
Von Clemens Heni
In der Nacht vom
24. auf den 25. März 1945 wurden nahe Schloss Rechnitz unmittelbar an der
österreichisch-ungarischen Grenze gelegen, bis zu 200 Juden ermordet. Die
genaue Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt. An dem Massaker nahmen
Partygäste einer SS-Gesellschaft teil. Die SS hatte das Schloss zu der Zeit
benutzt, die Hausherrin, Margit von Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza,
war gleichwohl mit Ehegatten auch anwesend, wie eine jahrelange Recherche
eines englischen Historikers, David Litchfield, der ein Biograph der
Thyssen-Familie ist, ans Tageslicht brachte.
"Als die Rote
Armee schließlich nur noch fünfzehn Kilometer von Rechnitz entfernt war
und die SS sich auf die Schlacht um Rechnitz vorbereitet, wurde am 24.
März, dem Abend vor Palmsonntag, im Schloss ein Fest veranstaltet, zu
dem dreißig oder vierzig Personen geladen wurden, darunter führende
Persönlichkeiten der örtlichen NSDAP, der SS sowie der Gestapo und
Mitglieder der Hitlerjugend. Das Fest begann um neun Uhr abends und
dauerte bis in den frühen Morgen. Man tanzte, es wurde viel getrunken.
Um den Gästen eine zusätzliche Unterhaltung zu bieten, brachte man um
Mitternacht zweihundert halbverhungerte, als arbeitsunfähig eingestufte
Juden mit Lastwagen zum Kreuzstadel, einer vom Schloss aus zu Fuß
erreichbaren Scheune. Franz Podezin, NSDAP-Ortsgruppenleiter von
Rechnitz und Gestapo-Beamter, versammelte fünfzehn ältere Gäste in einem
Nebenraum des Schlosses, gab Waffen und Munition an sie aus und lud die
Herren ein, 'ein paar Juden zu erschießen'. Man zwang die Juden, sich
nackt auszuziehen, bevor sie von betrunkenen Gästen des Fests ermordet
wurden, die dann ins Schloss zurückkehrten, um bis zum frühen Morgen
weiter zu trinken und zu tanzen. Nach Aussagen von Zeugen prahlten
einige Gäste des Festes am nächsten Morgen mit den in der Nacht
begangenen Gräueltaten. Ein gewisser Stefan Beiglböck rühmte sich sogar,
er habe mit eigener Hand sechs oder sieben Juden 'erschlagen'."[1]
Litchfield hat eine
umfassende Biographie des Familie Thyssen geschrieben. Die Finanzierung
Hitlers ist dabei nur ein Kapitel, der "danse macabre" von Rechnitz der
schockierendste. In typisch österreichischer Manier wurden Berichte über das
Massaker nach 1945 abgewehrt, als "bloße Propaganda" der Sowjets abgetan.
Nach Informationen Litchfields hat Margit von Batthyány Mördern dieser
Todesnacht zur Flucht verholfen, Hinweise darauf wurden 1963 nicht weiter
verfolgt. Der österreichische Filmemacher Eduard Erne hat bereits 1994
seinen Film Totschweigen auf Rechnitz aufmerksam gemacht. Er meint,
Litchfields Anschuldigungen seien das mindeste, ja dessen "Vorwürfe seien
eher noch zurückhalten formuliert. Es habe zwischen der Thyssen-Erbin und
den nationalsozialistischen Behörden geradezu eine 'Kollaboration'
gegeben."[2] Durch eine weitere Historikerin wird das untermauert:
"Nach Angaben des
Simon Wiesenthal Centers habe bereits die österreichische Historikerin
Eva Holpfer nachgewiesen, dass das Paar Batthyány bei dem
'Kameradschaftsfest' anwesend war. Ermittelt wurde in Deutschland und
Österreich. Die Täter wurden jedoch nie zur Rechenschaft gezogen, das
Massengrab ist bis heute nicht gefunden worden. Zwei mutmaßliche
Tatzeugen wurden 1946 ermordet. 'Deshalb fordern wir die Behörden in
Österreich und Deutschland auf, die Vorgänge genau unter die Lupe zu
nehmen', erkläre [Efraim] Zuroff [Leiter des Centers] in Jerusalem. Auch
die Rolle der Familie Thyssen sollte dabei untersucht werden."[3]
Die letzten 60 Jahre haben gezeigt, dass gerade die
Täterländer Deutschland und Österreich überhaupt nicht interessiert waren an
der Bestrafung der deutschen oder österreichischen Massenmörder, von den
etwas unterer Chargen ganz zu schweigen. Beide Länder hatten vielmehr ihre
Nazis als Staatsoberhäupter, siehe die Fälle Karl Carstens bzw. Kurt
Waldheim. Insofern ist diese Aufforderung des Simon Wiesenthal Centers
Jerusalem so wichtig, nachvollziehbar wie naiv. Interessant ist, was sagt
die Antisemitismusforschung? Zuerst wurde natürlich beim Zentrum für
Antisemitismusforschung nachgefragt, dessen Leiter Wolfgang Benz gern
Auskunft gab:
"Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz wandte im
Deutschlandradio ein, gegen die schockierende Story vom Judenmord als
Partyspass spreche der Zeitpunkt. Am 24. März 1945 hätten selbst
Fanatiker nur noch daran gedacht, ihre Haut zu retten. Eine Feier,
während die Rote Armee bereits 15 Kilometer vor Schloss Rechnitz steht,
wäre demnach unwahrscheinlich."[4]
Ohne selbst zu
diesem Massaker geforscht zu haben, weiß der deutsche Vorzeigehistoriker in
Fragen des Holocaust offenbar Bescheid. Judenmord als "Party" könne es zu
diesem Zeitpunkt gar nicht gegeben haben. Hat Benz Zeugen befragt? Kennt er
Quellen, welche dieses Fest als solches belegen oder widerlegen? Woher nimmt
er das Wissen, ob die SS und ihre Freunde, inclusive der Thyssen-Erbin, an
jenem Tag nicht lustvoll-sadistisch Menschen ermorden wollte?
Weitaus kritischer,
nachfragender, ja diese unfassbare Szene in jener Nacht auf Palmsonntag 1945
analysierend und nicht fabulierend sind Analysen und Forschungen des
Religionswissenschaftlers Schaul Baumann. Er hat sich in seiner Dissertation
an der Hebräischen Universität Jerusalem schon vor Jahren mit der
Deutschen
Glaubensbewegung und ihrem Gründer Jakob Wilhelm Hauer befasst.[5]
Die neu-heidnische, pagane Religion war antimonotheistisch und völkisch. Die
SS war ein wichtiger Vertreter des 'artgetreuen Glaubens', auch das
Ahnenerbe der SS passt in die Germanophilie. Baumann kann mit seiner
Forschung erhellen, was die SS, die ja ideologisch fanatisiert war wie keine
zweite Organisation im Nationalsozialismus, bewogen haben mag, in jener
Nacht:
"Laut Hauer und
seinen Mitarbeitern hatte ein Ritual vor allem eine gesellschaftliche
Funktion. Es trug zur Gruppensolidarität bei, wirkte
bewusstseinsfördernd und hatte zudem auch spielerische Aspekte. Ein
Zusammenwirken all dieser Elemente erzeugt die nötige Gefühlsspannung,
die dem Menschen die Annäherung an das 'Mysterium' ermöglicht. Ein
Ritual fungiert als Dialog zwischen Gott und Mensch und fördert die
Kohärenz und Solidarität innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen
Gruppe. Religiöse Feiertage ermöglichen einer solchen Gemeinschaft, ihr
Heiligstes – wie die Vereinigung mit Gott – zu zelebrieren, zu
modifizieren und zu erneuern."[6]
Baumann kann sehr
luzide zeigen, wie wichtig der Tod für die 'Gottgläubigen' war, was ja bei
der SS mit dem Symbol des Totenkopfes noch gesteigert wurde. Am 18.1.1937
legte Heinrich Himmler, Chef der SS, fest, dass Angehörige der SS drei
Möglichkeiten hätten, ihre Religionszugehörigkeit zu bestimmen: "1.
Zugehörigkeit zu einer religiösen Vereinigung, wie z. B. einer Kirche 2.
Gottgläubig, 3. Ohne Glauben."[7] Es wäre wichtig zu erfahren, wie dieses
Fest in Rechnitz abgelaufen ist. Gab es rituelle Handlungen, vor, während
oder nach dem Massenmord an den Juden? Wurden Reden gehalten? Welche
Bedeutung hat die Verherrlichung des eigenen Todes für Nazi-Deutschland im
Verhältnis zur Opferung der Feinde? Ist es aus SS- und gottgläubiger Sicht
womöglich 'wichtiger' einen rituellen Massenmord zu veranstalten, ihn zu
genießen als Zeichen göttlicher Umkehr, gerade weil der militärische Gegner,
die Rote Armee, nur 15 Kilometer entfernt steht, als das Weite zu suchen?
Wäre das eigene Opfer, sollte die Rote Armee sehr bald das Schloss
einnehmen, geradezu Teil der NS-Ideologie und jenseits 'rationalen'
Handelns, die eigene Haut retten, wie der Berliner Historiker insinuiert
ohne sich all diese Fragen auch nur zu stellen? In einem Manuskript fasst
Baumann seine These an diesem Punkt so zusammen:
"Als
Religionswissenschaftler, der die Religionen vieler Gesellschaften
erforscht hatte, wusste Hauer um die zentrale Bedeutung des Opfers in
der Religion. Das Opfer als eine Gabe des Menschen an Gott hob er auf,
sowohl wie es in der Antike in Tempeln dargebracht worden war, als auch
den Opfertod des Gottessohns für die Erbsünde des Menschengeschlechts.
Dies alles sei eine Erfindung der Semiten, wodurch die Welt unters Joch
der Schuld geworfen werden sollte. Dagegen sei eine Umwertung des Opfers
geboten, um es in den Dienst der 'arischen Rasse' zu stellen. Das Opfer
müsse zur völligen Hingabe des Einzelnen an die Forderungen des
Schicksals für Führer, Volk und Vaterland werden. So werde die Rasse von
der Unreinheit geläutert, die ihr durch die Beimengung 'fremden
Menschenmaterials' und Gedankenguts anhaftete. Wenn die Juden zuvor des
Gottesmordes bezichtigt und daraufhin zum Sündenbock geworden waren, so
sollten sie nun für das Unrecht der christlichen Apologetik
verantwortlich gemacht werden, durch die sie indirekt die Weltmacht
angestrebt hätten."[8]
Die Forschung täte gut daran, sich mit diesen kritischen
Analysen zu befassen, exemplarisch könnte dieses Massaker ein Beispiel für
die antizivilisatorischen, jenseits von Gut & Böse mordenden Deutschen
darstellen. Es ist in jedem Fall ein Teil des Holocaust, der sinn-losen
Vernichtung der europäischen Juden, die ermordet wurden, weil sie Juden
waren. Aus keinem anderen Grund. Das hat es weder davor noch danach je
gegeben.
In Anlehnung an
Simon Wiesenthal gilt festzuhalten: "Wir werden euch nicht vergessen". Die
Erforschung der heidnisch-germanischen Ideologie und ihr Beitrag zum
Holocaust bleibt allerdings weiterhin eine sehr wichtige Forschungsaufgabe.
Abwiegelungen à la Benz helfen nicht weiter, vielmehr indizieren sie das
Niveau deutscher Antisemitismusforscher, die schon vor der empirischen und
theoretischen Analyse wissen, um was es sich bei Rechnitz wohl gehandelt
habe. Dagegen sind religionskritische Forschungen wie jene von Schaul
Baumann enorm wichtig und helfen, die Bedeutung des Paganismus für die
nationalsozialistische Ideologie und Praxis gleichermaßen zu erhellen. Der
Fall Rechnitz wäre eine Möglichkeit dem exemplarisch nachzugehen. Doch wer
hat daran schon Interesse?
Anmerkungen:
David
R.L. Litchfield (2007): Die Gastgeberin der Hölle, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 242, 18. Oktober 2007, S. 37.
Andreas
Platthaus (2007): Massaker von Rechnitz. „Beispiel der Banalität des Bösen“,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 246, 23. Oktober
2007, S. 46.
Tagesspiegel, 20.10.2007,
http://www.tagesspiegel.de/kultur/;art772,2403156 .
Joachim
Günther (2007): Die Mordnacht von Rechnitz. Ein englischer Publizist erhebt
Vorwürfe im Zusammenhang mit einem Massaker im März 1945, in: Neue Zürcher
Zeitung online, 01.11.2007,
http://www.nzz.ch/nachrichten/wissenschaft/die_mordnacht_von_rechnitz_1.571985.html.
Schaul
Baumann (2005): Die
Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962),
Marburg: diagonal-Verlag (Religionswissenschaftliche Reihe, Band 22).
"Meiner Mutter Lotte Baumann gewidmet, die als Kriegswitwe ihres Lebens
sicher zu sein glaubte und deren letzte Ruhestätte nicht bekannt wurde".
Ebd.:
106.
Ebd.: 199.
Zusammenfassung der Dissertation, Manuskript Dr. Schaul Baumann, im Besitz
des Verfasser. |