Um jeden Preis:
Jude sein und dazu gehören
Teil 4 aus dem Ersten Kapitel: "Der
Flüchtling"
Ich erinnere mich noch bis heute an den Spott meines Vaters, als ich
im reifen Alter von neun Jahren an einem Versöhnungstag als einziger der
Familie fastete und in die Synagoge ging - was für jemanden wie mich, der
doch so gerne aß, gar nicht so leicht war.
Der kleine Junge, dessen Welt im Jahre 1936 zusammengebrochen war, wollte
eben unbedingt, oder, wie die Franzosen sagen, "à tout prix" ein
palästinensischer Jude, ein Israeli, werden, um endlich wieder das Gefühl zu
haben, dass er irgendwo ganz hingehört. Aber genau das war es, was sein
Vater nicht wollte. Er hatte nicht die Identitätskrise seines Sohnes
durchlebt und konnte oder wollte sie auch nicht nachvollziehen. Er war und
wollte weiterhin Deutscher bleiben, konnte oder wollte nicht verstehen warum
sein Sohn Jude werden wollte, und tat deshalb alles, was in seiner Macht
lag, um es zu verhindern. Um dem Konflikt zwischen der äußeren Welt und dem
Elternhaus zu entgehen, flüchtete ich zu Hause am liebsten in die
Fantasiewelt der Bücher und wurde langsam zu einer echten Leseratte, die
alles las, was ihr in die Hände fiel, und das waren insbesondere deutsche
Bücher. Hebräische Kinderbücher gab es damals noch nicht viele, und ich
glaube auch nicht, dass meine Eltern bereit gewesen wären, für "so einen
Schund" gutes Geld auszugeben. Noch dazu waren die Wohnungen all unserer
Nachbarn voll mit deutschen Jugendromanen, die deutsche Einwanderer für ihre
Kinder mitgebracht hatten und für die sich kaum jemand außer mir
interessierte. Sie waren froh sie loszuwerden, und für mich war das ein
wahrer Fund.
Während meine äußere Welt also immer stärker von Palästina und der
hebräischen Sprache geprägt wurde, blieb meine innere Fantasiewelt weiterhin
eine deutsche, bevölkert von den Figuren von Karl May, Dr. Dolittle und
Erich Kästner. Ich weiß bis heute nicht, welche der beiden Welten mich mehr
beeinflusst und geprägt hat.
Im Jahre 1939, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, zogen wir
wieder um. Meine Eltern hofften, dass eine meiner Großmütter doch noch nach
Palästina kommen würde und deswegen brauchten wir eine größere Wohnung. Ich
war es, der die neue Wohnung entdeckte, was ich später sehr bereut habe. Ich
wollte mich unbedingt meinem Vater gegenüber beweisen, beweisen, dass ich
auch etwas wert war. Zwar wohnten wir nachwievor in Haifa und immer noch auf
dem Berg Carmel, aber für mich war es, als ob wir in einer anderen Welt
gelandet wären. Unsere neue Wohnung lag in einer spärlich besiedelten
Wohngegend, buchstäblich am Ende der Welt.
Im Gegensatz zu unserer früheren Wohnung lag diese nicht in einer "deutschen
Kolonie". Die meisten Kinder meines Alters stammten aus "ostjüdischen", d.h.
polnischen oder russischen Elternhäusern und besuchten die örtliche
"öffentliche Volksschule". Als ich die Wohnung entdeckte, interessierte mich
das alles natürlich nicht. Ich wusste eben noch nicht, was mir wegen der
Einstellung meines Vaters der einheimischen Bevölkerung gegenüber noch alles
bevorstand. Es dauerte aber nicht lange, bis mir das klar wurde und ich
glaube, dass es dort war, wo ich zum ersten Mal der rauen Wirklichkeit des
Lebens in Israel begegnete.
Wir zogen also um und, neugierig wie ich war (und auch geblieben bin),
ging ich erst einmal los, um meine neue Welt und die
Kinder, die in ihr wohnten, kennen zu lernen. Da ich der Neue, der
Ankömmling war, wurde ich, wie es überall in der Welt üblich ist, von den
ansässigen t
Kindern gründlich beschnüffelt. Das war "völlig OK", das hatte ich erwartet
und schon einmal erlebt, und ich muss sagen, dass ich anfangs ohne all zu
große Schwierigkeiten angenommen wurde. Leider war das aber nur kurzfristig
und vorübergehend, und es stellte sich sehr schnell heraus, dass es zu viele
Dinge gab die meiner vollen Integration im Wege standen.
Das Wichtigste war wahrscheinlich die Tatsache, dass ich in eine andere,
weit entfernte Schule ging und deshalb an vielen Aktivitäten der Kinder, die
von der Schule organisiert waren, nicht teilnehmen konnte. Ich war und blieb
eben auch weiterhin der Fremde, der erst am späten Nachmittag aus seiner
Schule kam und deshalb oft auch nicht verstand, worüber die anderen Kinder
redeten und was sie bewegte. Ich glaube nicht, dass es sich bei ihnen um
bösen Willen handelte, sondern dass sie mich einfach nicht brauchten. Sie
hatten ihre Welt, die sie erfüllte, und da ich nichts Besonderes anzubieten
hatte, verloren sie sehr schnell das anfängliche Interesse an mir. So
drifteten wir auseinander, bevor wir uns überhaupt näher gekommen waren.
Der zweite störende Punkt war die Tatsache, dass ich aus einem anderen
Milieu als sie kam und meine Eltern einer anderen gesellschaftlichen Schicht
angehörten. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die zum großen Teil einfache
Arbeiter und Angestellte waren oder Inhaber kleiner Läden, wie es sie früher
in den Kleinstädten Polens gab, war mein Vater der Geschäftsführer einer
großen Fabrik und verdiente doppelt oder sogar dreimal so viel wie sie. Dazu
kam noch, dass wir aus dem "westlichen, hoch zivilisierten" Deutschland
kamen und sie aus dem, in den Augen meines Vaters, "primitiven" Osten
Europas. Das war von Anfang an eine fast unüberbrückbare Kluft, die von
meinen Eltern noch vertieft wurde. Für sie, und insbesondere für meinen
snobistischen und autokratischen Vater, waren diese Kinder "nicht gut genug"
für seinen Sohn. Mit Kindern "aus solchen Häusern" durfte der "Sohn des
Herrn Direktors" nicht spielen, das war "streng verboten", und als ich es
dennoch versuchte, wurde ich immer aufs Neue schwer bestraft. Auch die
Umschulung in die Volksschule kam natürlich nicht in Frage. Die war meinem
Vater viel zu plebejisch, und vielleicht auch zu jüdisch? Auf jeden Fall
wäre das "unter seiner Würde" gewesen. Nach vier Jahren war ich also
plötzlich wieder und aufs Neue ein Außenseiter.
Genau wie im letzten Jahr meines Lebens in Deutschland (nach der
"Stürmer-Affäre", s.o.) fühlte ich mich wieder als jemand, der seiner
Herkunft wegen nicht "dazugehören" durfte. In Deutschland war es mir nicht
erlaubt, weil es sich herausstellte, dass ich meiner Eltern wegen das war,
was ich am wenigsten sein wollte, nämlich ein Jude, und im jüdischen
Palästina erlaubte es mir mein Vater nicht, weil ... Wieder fragte ich mich,
warum, denn das "Weil", der Grund für das Verbot, war mir damals
unbegreiflich. Ich war es doch, der für meine Eltern diese Wohnung gefunden
hatte, und statt mir dafür dankbar zu sein, bestraften sie mich noch! Wieder
fühlte ich mich als ein Opfer, wieder und aufs Neue war ich einer
willkürlichen Macht und Starrsinnigkeit hilflos ausgesetzt, diesmal der
meines Vaters, und so zum Leiden und Alleinsein verurteilt. Man muss
bedenken, dass ich zu der Zeit gerade mal zehn Jahre alt war und viele
Märchen gelesen hatte, und dass mein Vater eben mein Vater war, jemand mit
dem es sich schwer diskutieren ließ. Wahrscheinlich hasse ich seitdem alles,
was mit Autorität zusammenhängt.
Da ich wahrscheinlich schon von meiner Geburt an etwas von einem Rebellen
habe, war ich natürlich nicht bereit, das alles einfach so hinzunehmen.
Langsam fing ich an zu begreifen, dass ich keine Chancen hatte meinen Vater
umzustimmen, dass ich andere Wege suchen musste, um mich aus meiner
"Einsamkeit" zu befreien. So landete ich bei der sehr snobistischen
Jugendbewegung, die sich "Der Pfad der Pfadfinder" nannte und damals gerade
Kinder meines Alters als Nachwuchs suchte. Das war eine Bewegung, von der
ich glaubte, dass sie ganz im Sinn meines Vaters sei. Sie war international,
hatte als Vorbild die englischen Scouts und wurde von der besten Schule
Haifas gefördert, einer sehr angesehenen, teuren und snobistischen
Privatschule mit unglaublich hohen Ansprüchen auf allen Ebenen. Da diese
Schule gerade in ein neues Gebäude in unserer Nähe eingezogen war, hatte ich
keine großen Schwierigkeiten, meine Eltern zu überreden, dass sie mich
dorthin umschulten. Meine Motivation war natürlich, dort Freunde zu finden,
die auch für meine Eltern "akzeptabel" wären. Wie sich leider etwas zu spät
herausstellte, war das nicht so einfach, wie ich es mir gedacht hatte. Meine
neuen Klassenkameraden lernten schon seit vier Jahren zusammen, kannten sich
alle noch vom Kindergarten her und bildeten deshalb mir, dem fremden
Neuankömmling gegenüber, eine ziemlich verschlossene Gruppe. Noch dazu
wohnten sie alle nebeneinander in einem Nachbarort, der sieben Kilometer
entfernt war, und als die Schule in die neuen Gebäude umzog, kamen die
Schüler einfach mit. Jetzt war es nicht mehr ich, der nach dem Ende des
Unterrichts in den Bus stieg und nach Hause fuhr, sondern meine
Klassenkameraden. Was mich und meine Probleme anbelangte, hätten sie genau
so gut auf der anderen Seite des Mondes wohnen können.
Der Pfad der Pfadfinder hatte mich also vom Regen in die Traufe geführt:
In der alten Schule hatten mich zumindest die Kinder meiner Klasse
angenommen, die wie ich zum großen Teil aus deutschen Familien stammten;
jetzt war auch das vorbei. Von einer Schule, in der ich der beste Schüler
und der Anführer der Klasse gewesen war, wechselte ich freiwillig in eine
andere Schule über, deren Anforderungen so unglaublich hoch waren, dass ich
dort nur noch als mittelmäßig galt. Ich war plötzlich jemand, dem man einen
Gefallen oder sogar eine Gnade erwiesen hatte, dass man ihn überhaupt
aufnahm, und dem man von Anfang an klar machte, dass er viel nachzuholen
hatte. Ich erinnere mich noch genau an die erste Begegnung mit dem Direktor
der Schule, wo er mir eindeutig zu verstehen gab, dass es eigentlich gegen
seine Prinzipien war, jemanden aus einer anderen Schule aufzunehmen. Nur
meiner Eltern wegen war er bereit, bei mir eine Ausnahme zu machen. Die
Botschaft war klar und eindeutig: Um überhaupt in dieser Schule bleiben zu
können, musste ich mich sehr anstrengen und mich immer wieder aufs Neue
beweisen. Aber nicht nur den Lehrern, sondern auch meinem Vater gegenüber
wollte ich mich beweisen. Die Umschulung war schließlich meine Idee gewesen,
und über alles fürchtete ich, falls ich versagte, seinen Spott. So etwas wie
Mitleid oder gar Mitgefühl glaubte ich nicht von ihm erwarten zu können. Als
meine Zensuren im ersten Jahr nach meiner Umschulung nachließen, hatte ich
eine solche Angst meinem Vater dieses Zeugnis zu zeigen, dass ich es vorzog,
einige der Zensuren zu fälschen. Es dauerte nicht lange, bis die Einstellung
des Direktors zu den Lehrern durchsickerte und von dort zu den Schülern. Ich
war derjenige, der sich beweisen musste, oder ... Für sie galt ich von nun
an als vogelfrei und wenn ich es wagte, mich zu beklagen, wurde ich zum
Petzer...