Teil 3 aus dem Ersten Kapitel: "Der
Flüchtling"
Was unser Familienleben anbelangt, so sahen wir meinen Vater während
der Woche meist nur, wenn wir etwas verbrochen hatten. Dann wurden wir zum
"gestrengen Richter" gerufen, wovor ich, im Gegensatz zu meinem Bruder und
obwohl er mich nie geschlagen hatte, furchtbare Angst hatte, denn ich hatte
ihn nie als einen gütigen, liebenden Vater erlebt.
Für mich war er immer nur eine Autoritätsfigur, die immer drohte wie ein
zürnender Gott, aber seine Drohungen nie wahr machte, sondern mich immer in
der Schwebe ließ, in Ungewissheit und mit vielen Schuldgefühlen. Als ein
Erwachsener, der selbst oft sein Domizil gewechselt und viel mit
Flüchtlingen aller Art gearbeitet hat, sehe ich heute natürlich alles
anders, als das Kind, das ich damals war. Heute kann ich gut verstehen, wie
schwer es meinem Vater gefallen sein muss, sich der neuen Umgebung und dem
neuen Klima anzupassen, in denen er sich aus reiner Notwendigkeit befand.
Dazu kam noch, dass er, trotz aller Vorbereitungen, fast sein ganzes
Vermögen auf dem Wege nach Palästina verloren hatte, und dass auch seine
neue Existenz nicht ganz so sicher war, wie er es erhofft hatte. Bevor er
Deutschland verließ, hatte er nämlich sein ganzes Geld in Maschinenteile für
die neue Fabrik, für die er nach Palästina ging, angelegt, und diese Teile
kamen niemals an.
Alle Nachforschungen blieben fruchtlos oder ergaben zynische Antworten, wie
zum Beispiel: "Wenn sie uns nicht glauben wollen, können Sie ja zurückkommen
und selbst (im KZ) danach suchen."
Das wenige Bargeld, das er mitgebracht hatte, wurde ihm während der ersten
Nacht in Palästina aus dem Hotelzimmer gestohlen. Kurz nach seiner Ankunft
wurde er dann auch noch schwer krank und hatte Angst, dass er deshalb seinen
Posten verlieren und sich, wie so viele deutsche Juden, die er um sich herum
sah, in einen Flüchtling und Habenichts verwandeln würde.
Als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, brach einige Tage vor
unserer Ankunft der erste große arabische Aufstand in Palästina aus, von dem
berüchtigten Großmufti aus Jerusalem ausgerufen und vom
nationalsozialistischen Deutschland unter der Parole "Tötet alle Juden und
Ungläubigen" unterstützt und finanziert. Der Aufstand war neben einem Kampf
gegen die britische Völkerbundsmacht, ein dezidiert antisemitischer
Aufstand, so diente das Hakenkreuz als Erkennungssymbol und auch der
deutsche Gruß spielte eine Rolle.
Das erste Opfer dieses Aufstands, der damals euphemistisch "Unruhen"
genannt wurde, war ausgerechnet der Vetter meines Vaters, mit dessen Hilfe
er fest gerechnet hatte. Jetzt hatte er noch dazu die Witwe am Halse.
Das war die Atmosphäre, der mein Vater jeden Tag ausgesetzt war. Sein Weg
zur Arbeit führte genau durch arabische Stadtviertel und auch die Arbeiter
in der neuen Fabrik waren zum großen Teil Araber.
Das war die Welt, in der er sich plötzlich befand: Eine Welt, in der die
Angst, die Unsicherheit und der Hass herrschten. All das wurde ihm
tagtäglich hautnah zu Bewusstsein gebracht, denn so ganz als "Sahib" fühlte
er sich doch nicht, und gegen eine arabische Kugel war er bestimmt nicht
gefeit. Es ist es deshalb auch kein Wunder, dass er damals weder die Kraft
noch die Geduld hatte, sich mit uns und unseren "kleinen" Problemen zu
befassen. Außerdem war er, was man heute einen "workaholic" oder
Arbeitssüchtigen nennt, jemand, dem die Arbeit und Pflicht weitaus wichtiger
sind als die Familie. Er war eben ein Deutscher, und das war eine
Einstellung, die damals sehr typisch für deutsche Männer war. Seine
englischen Vorgesetzten hatten nie zuvor erlebt, dass jemand in einem
tropischen Land so arbeitete. Sie verbrachten lieber ihre Zeit im Club und
auf dem Golfplatz. Als mein Vater einmal einen neuen englischen Mitarbeiter
einstellen wollte, stand in dessen Bewertung "Er spielt ausgezeichnet Golf."
- Das war, worauf es ankam, und diese Einstellung hat mein Vater nie
verstanden.
Als Kind hatte ich von all dem natürlich keine Ahnung, denn, als ein
typischer deutscher Familienvater, war mein Vater nicht bereit seine Sorgen
mit uns zu teilen, oder, was auch typisch für die damalige Generation war,
uns Gefühle zu offenbaren, das hätte er als Schwäche angesehen. Auch dessen
war sich der kleine acht oder neunjährige Eli nicht bewusst. Das Einzige,
was er empfand, war, dass für ihn der Vater immer nur da war, wenn er etwas
"verbrochen" hatte, und niemals, wenn er ihn brauchte. Auch heute kann ich
mich nicht daran erinnern, je ein gutes Wort oder ein Zeichen von Liebe,
Zärtlichkeit oder selbst Anerkennung von ihm bekommen zu haben.
Der große, erwachsene Eli, der später vielen neuen Einwanderern geholfen
hat, kann natürlich verstehen, dass die Welt in der der kleine Eli damals
lebte und in die er versuchte sich zu integrieren, für seinen Vater
vollkommen fremd war. Da er, sein Vater, auch kein Hebräisch sprach, war sie
für ihn auch unverständlich und in gewisser Weise sogar feindlich, denn sie
unterminierte seine väterliche Autorität. Dazu kam noch, dass die Helden der
Kinder des neu entstehenden Israel der jüdischen Arbeiterbewegung
angehörten, die den Jüdischen Staat im Staat" aufbauten, in einer Region,
die die Engländer als ihre Kolonie betrachteten. Es ist natürlich ironisch,
dass die Helden seines Sohnes ausgerechnet die bedrohlichsten Gegner seiner
angloarabischen Arbeitgeber waren und dadurch auch die seinen.
Seine Art, seine Autorität dem kleinen Eli gegenüber aufrecht zu erhalten
und ihn auf den Weg zurückzuführen, den er für den einzig richtigen hielt,
war wieder typisch für die damalige deutsche Generation und bestand aus
Strenge, Tadel, Kritik und Vorwürfen. Außerdem tat er alles, um das, was dem
kleinen Eli damals wichtig war, auf eine sehr ironische Art und Weise in den
Dreck zu ziehen. So musste sich der kleine Eli jedes Wochenende anhören, wie
er, der Vater, den er als die "höchste Instanz" ansah und nach dessen Liebe
und Anerkennung er sich über alles sehnte, alle "Missetaten" der jüdischen
Arbeiterbewegung beschimpfte, und alles, was mit der jüdischen Kultur oder
Religion zusammenhing, verspottete.
Ironisch und kalt sein - das verstand Elis Vater aufs Beste, das war seine
Waffe, und es war das, wovor der kleine Eli am meisten Angst hatte. Wenn der
Vater doch einmal stolz auf ihn war, bekamen andere und nicht Eli es zu
hören. Kinder mussten gehorchen lernen und durften unter keinen Umständen
eine eigene Meinung haben. Wenn Sie zufällig doch eine hatten, wurde diese
gewöhnlich spöttisch abgetan, insbesondere wenn sie vom Judentum oder von
Israel beeinflusst war.
Dass sein Sohn eine eigene Meinung haben könnte, war für ihn undenkbar; und
noch heute höre ich die Worte meines Vaters: "Du willst wohl ein Großer in
ISRAEL werden, ha?" So war er erzogen worden (Kinder darf man sehen, aber
nicht hören) und so wollte er seine Kinder erziehen. Einen anderen Weg
kannte er nicht. Das war seine und vielleicht überhaupt die damalige
deutsche Art Kinder zu erziehen.
Wir lebten aber nicht mehr in Deutschland, sondern in einem Land, in dem
Kinder anders behandelt und so zu freien Menschen wurden. Ich hingegen
entwickelte nur Angst und Schuldgefühle. Am schlimmsten waren für mich die
jüdischen Feiertage wie Pessach und Neujahr, die auch in den Familien der
nicht-religiösen Mehrheit gefeiert wurden, der meine Klassenkameraden
angehörten. Meine Eltern, und insbesondere mein Vater, (anerkannten nur die
deutschen (christlichen) Feiertage, Weihnachten und Ostern, und die konnten
wir natürlich nicht mehr feiern. Andere Feiertage kannten sie nicht, denn
von der jüdischen Tradition und den besonderen Sitten und Gebräuchen der
jüdischen Feiertage hatten sich schon ihre Eltern bzw. Großeltern gelöst.
Das einzige Fest, das bei uns doch noch gefeiert wurde, war Chanukka, und
auch das in einer Art, die man am besten als "Weihnukka" bezeichnen kann:
ein Weihnachtsfest, bei dem der Baum durch einen Leuchter ersetzt wurde.
Dazu sangen wir ein Lied, dessen Melodie eine Mischung aus einem
protestantischen Choral und einem deutschen Soldatengesang aus dem 15.
Jahrhundert war - und wir bekamen Geschenke. Die anderen Feiertage waren nur
durch eine etwas bessere Mahlzeit gekennzeichnet...