Andere Umstände:
Von Magie, Medizin und Mäzenen
Eine Ausstellung im Jüdischen
Museum Fürth, 06.11.2007-30.03.08
Wer sich in "anderen Umständen" befindet,
durchlebt eine der alltäglichsten und gleichzeitig aufregendsten
Lebensphasen: die Zeit der Schwangerschaft und Geburt. Auf die "Herstellung"
und "Überwindung" dieses besonderen "Schwellenzustandes" versuchen Menschen
seit jeher Einfluss zu nehmen, sei es mit Hilfe von magischen, religiösen
oder medizinischen Mitteln.
Auch Ort und Umstand der Geburt spielen eine
wichtige Rolle. So ist Anfang des 20. Jahrhunderts für Frauen in
wirtschaftlicher und sozialer Not die Entscheidung zwischen Hausgeburt und
Klinik oftmals eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. Zu dieser Zeit
stiftet der Rechtsanwalt Alfred Nathan seiner Heimatstadt Fürth die
Geburtsklinik "Nathanstift" und verbessert so die Situation von Schwangeren
und Säuglingen.
Am Beispiel des vor hundert Jahren gegründeten
Nathanstifts nähert sich die Sonderausstellung den Themen Schwangerschaft
und Geburt im Spiegel jüdischer und christlicher Traditionen und
kontrastiert sie mit den Neuerungen des medizinischen Zeitalters. In einem
zweiten Teil erinnert die Ausstellung an die jüdische Stifterfamilie Nathan:
"Andere", durch den Nationalsozialismus eingeleitete "Umstände", zwingen die
letzten Familienmitglieder 1938 in die Emigration.
Gesamtleitung: Daniela F. Eisenstein
Projektleitung und Ausstellungskonzept: Heide Frenzel
Kuratorisches Team: Heide Frenzel, Christiane Twiehaus, Daniela F.
Eisenstein, Monika Berthold-Hilpert, Katrin Pieper
Fruchtbarkeit und Potenz
Die Verbindung von Mann und Frau erreicht in
fast allen Gesellschaften erst mit der Elternschaft ihre endgültige
Sinnerfüllung. Dabei verläuft zwischen dem Wunsch ein Kind zu bekommen und
dem Druck der Gesellschaft oft nur ein schmaler Grat. Aus religiöser Sicht
kann Unfruchtbarkeit als göttliche Strafe verstanden werden, Fruchtbarkeit
dagegen als Segen.
Im Judentum kann eine Ehe nach zehn kinderlosen
Jahren geschieden werden. Im Katholizismus ist jede Art von Verhütung
verboten, Kinder gelten als Gottesgeschenke. Das Weiterleben in den
Nachfahren, Selbstverwirklichung und Angst vor dem Alleinsein sind weitere
Motive für den Kinderwunsch. So unterschiedlich die Beweggründe sind, so
vielfältig fallen auch die Ideen aus, um Fruchtbarkeit und Potenz zu
steigern.
Zeit des Werdens
Die Zeit der Schwangerschaft ist eine Zeit des
Wartens, Hoffens, aber auch Bangens. Im Mittelpunkt steht die Sorge um das
werdende Kind. Jede Gesellschaft kennt zahlreiche mündlich oder schriftlich
überlieferte Verhaltensregeln für werdende Mütter. Viele dieser Kleidungs-,
Essens- oder Reinheitsvorschriften haben einen "wahren Kern" und basieren
auf Erfahrungswerten, andere sind reiner Aberglaube.
Die moderne Medizin reagiert auf die möglichen
Gefahren einer Schwangerschaft für Mutter und Kind mit neuen Untersuchungen.
So nimmt die medizinische Überwachung durch verfeinerte Mess- und
Kontrollmethoden heute einen breiten Raum in der Geburtsvorsorge ein.
Die Geburt – Zwischen Amuletten und Apparaten
Trotz der Hilfe von Hebammen, Schwestern und
Ärzten ist der Geburtsvorgang seit jeher mit lebensbedrohlichen Gefahren für
Mutter und Kind verbunden. In vielen Kulturkreisen existieren bis heute
Gebete und Amulette, die den Verlauf der Geburt günstig beeinflussen sollen.
In den vergangenen 250 Jahren hat sich das
Verständnis von Geburt und der Umgang mit ihr grundsätzlich gewandelt: Von
der Hausgeburt führt der Weg über die Gebärhäuser zu den ersten
Geburtskliniken, wie beispielsweise dem Fürther "Nathanstift", das 1909
eröffnet wird. Hygienische Standards und moderne medizinische Apparate
bewirken einerseits einen deutlichen Rückgang der Säuglings- und
Müttersterblichkeit. Andererseits wird die Schwangere zunehmend als
Patientin wahrgenommen und als "medizinischer Fall" behandelt.
Schwangerschaft und Geburt rücken in den Fokus der Forschung.
Amulettbeutel mit Münzen für jüdische Säuglinge,
Deutschland, zweite Hälfte des 19. Jh.. Zum Schutz des Neugeborenen gegen
böse Geister wurden Amulette verwendet.
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main
Ankunft und Abschied
Nach der Geburt steht die Gesundheit von Mutter
und Kind im Vordergrund. In früheren Zeiten sterben viele Kinder in den
ersten Lebensmonaten aufgrund schlechter hygienischer und medizinischer
Bedingungen oder mangelhafter Ernährung. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
geht die Säuglingssterblichkeit in Deutschland zurück. Geburtskliniken wie
das Nathanstift tragen dazu bei.
Sind Mutter und Kind wohlauf, beginnen die
Aufnahmezeremonien: Verwandte, Nachbarn und Freunde kommen zu Besuch und
begrüßen das Kind mit Geschenken. Rituale wie Taufe, Beschneidung oder
Namensgebung symbolisieren die Aufnahme des Neugeborenen in die religiöse
Gemeinschaft. Geburtsurkunden markieren die Ankunft des neuen Bürgers in der
säkularen Welt.
Das Nathanstift in Fürth
Zu wenigen Stiftungen haben Fürther Bürger eine
so enge Verbindung wie zum "Nathanstift". Die Geschichte des Nathanstifts
beginnt 1906, als der Rechtsanwalt Alfred Nathan seiner Heimatstadt Fürth
300.000 Mark für die Errichtung eines Wöchnerinnen- und Säuglingsheims
schenkt. Mit der Bezeichnung "Nathanstift" setzt er seinen Eltern Amalie und
Sigmund ein ehrendes Denkmal. Ziel der modernen Klinik ist es, Frauen die
Geburt zu erleichtern und die hohe Säuglingssterblichkeit dieser Zeit zu
senken.
Bald gilt das Nathanstift als renommierte
medizinische und soziale Einrichtung: Eine Visite der Geburtsklinik steht
auf jedem Besuchsprogramm hoher Prominenz, so auch beim Besuch des
Prinzregenten Luitpold von Bayern 1913.
Während des Nationalsozialismus streicht die
Stadt Fürth auf Empfehlung des Vorstands der Nathanstiftung den jüdischen
Stifternamen. Nach Kriegsende wird das Stift wieder umbenannt. 1967 zieht es
in das Klinikum Fürth um. Dort wird es in die geburtshilfliche Abteilung der
Frauenklinik integriert. Auch heute, mehr als hundert Jahre nach Alfred
Nathans gemeinnützigem Engagement, sieht sich die "Frauenklinik mit
Nathanstift" in der Tradition der Werte, die den Philanthropen Alfred Nathan
zur Gründung des Nathanstifts bewogen hatten. Ihre Arbeit wird noch immer
mit Mitteln aus der "Nathan Stiftung" unterstützt, die auch Auftraggeber und
alleiniger Sponsor dieser Ausstellung ist.
Das Wöchnerinnen- und Säuglingsheim Nathanstift, 1909
© Jüdisches Museum Franken
Alfred Nathan – Stifter aus Tradition
Der Fürther Rechtsanwalt Alfred Nathan ist ein
herausragender Stifter und Mäzen. Damit reiht er sich in die mäzenatische
Tradition der Bankiersfamilie Nathan ein, die Ende der 1880er Jahre mehrere
Stiftungen in Fürth errichtet. Die Stiftertätigkeit der Nathans steht
beispielhaft für das wohltätige Engagement des deutsch-jüdischen
Großbürgertums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, das mit dem
Nationalsozialismus sein Ende findet.
Die bedeutendsten Spenden tätigt Alfred Nathan
für die Errichtung des Wöchnerinnen- und Säuglingsheims "Nathanstift" in
Fürth und für die Prinzregent-Luitpold-Klinik in Bad Reichenhall. Von beiden
Städten wird er daraufhin zum Ehrenbürger ernannt.
Die Anerkennung für sein wohltätiges Wirken ist
jedoch nicht von Dauer: Der zunehmende Antisemitismus in Deutschland nach
dem Ersten Weltkrieg verbittert seine letzten Lebensjahre. Nach seinem Tod
1922 erbt die Israelitische Waisenanstalt in Fürth sein gesamtes Vermögen.
Der Rechtsanwalt Alfred Nathan stiftete das Nathanstift
1906
Fotografie aufgenommen in Baden Baden, 1909
© Jüdisches Museum Franken
"Andere Umstände"
"Kein Wunder, dass Sie von Alfred Nathan so
wenig gefunden haben. Er war zwar ein großer Stifter, aber er war ein sehr
bescheidener Mensch, hat nie etwas für sich ausgegeben."
Margarete Meyers, geb. Midas, 2007
Margarete Meyers ist die Großnichte Alfred
Nathans und wird 1927 in Fürth geboren. Margaretes Mutter Thea Irene stammt
aus der angesehenen Bankiersfamilie Nathan. Der Vater Dr. Alfred Midas ist
Jurist und Teilhaber der Spiegelglasfabrikation J. L. Lehmann in Fürth. Die
Familie lebt assimiliert, feiert Weihnachten statt Chanukka. Als Margarete
1933 gezwungen wird, auf die Israelitische Realschule Fürths zu wechseln,
erfährt sie erstmals, dass sie Jüdin ist.
"Andere", durch den Nationalsozialismus
eingeleitete "Umstände", zwingen die Familie im Herbst 1938 zur Emigration
in die USA. Ihr in Deutschland verbliebenes Vermögen und ihre Immobilien
werden "arisiert". Auch wenn die Familie nach Kriegsende in den USA bleibt,
ist die großbürgerliche Herkunft und Stiftertradition der Nathans in Fürth
bis heute ein wichtiger Teil ihrer Familienidentität.
Born in Fürth
Mehr als 20000 Kinder werden zwischen 1909 und
1967 im Nathanstift geboren. Hunderte "Nathanianer" schickten dem Jüdischen
Museum Franken eine Kinderfotografie für diese Ausstellung. Die meisten
Bilder erreichten das Jüdische Museum Franken aus Fürth und Umgebung, einige
aus Australien, den USA, Israel und England. Darunter sind auch Bilder
jüdischer Bürger, die Deutschland aufgrund nationalsozialistischer
Verfolgung verlassen mussten. Schwarze Leerstellen auf der Fotowand stehen
für die jüdischen "Nathanianer", die im Nationalsozialismus deportiert und
ermordet wurden.
Dr. Thomas Jung, geb. 5.5.1961, im Nathanstift Fürth, Beruf:
Oberbürgermeister der Stadt Fürth, © Thomas Jung
Ute Anni Liegel, geborene Schönleben, geb. 22.07.1960, im Nathanstift Fürth
Beruf: Erzieherin, © Ute Anni Liegel
Andere Umstände
Von Magie, Medizin und Mäzenen
Ausstellung im Jüdischen Museum Franken in Fürth
6.11.2007-30.3.2007
http://www.juedisches-museum.org |