Neuanfang in der Karibik:
Das Wunder von Sosua
Über 800 deutsche Juden konnten sich
vor Hitlers Schergen durch Flucht in die Dominikanische Republik retten
Von Michael Merkle, Sosua, im
März 2001
Als die Algonquien im Juli 1941 das letzte Mal in See
stach, hatte sie historische Fracht an Bord. Insgesamt 51 Juden aus
Deutschland, denen die Flucht vor den Nazis im letzten Moment noch geglückt
war, sollte das portugiesische Frachtschiff in Freiheit und Selbstbestimmung
führen. Unter ihnen war der damals 32jährige, aus Hamburg stammende Arturo
Kirchheimer.
Bestimmungsort des Frachters war der Hafen von Puerto Plata
an der Nordküste der Dominikanischen Republik. Hier endete für die Juden
eine monatelange Odyssee quer durch Europa, von Deutschland nach Luxemburg,
von Frankreich nach Spanien und schließlich nach Lissabon, wo die Algonqien
bereits wartete. Es sollte die letzte Fahrt des Frachters werden. Auf dem
Rückweg von Puerto Plata, kurz nachdem die Juden dominikanischen Boden
betreten hatten, lief es auf eine Mine und versank.
Keine halbe Autostunde von Puerto Plata entfernt wartete ihr
neues Domizil auf die jüdischen Flüchtlinge: unweit der Mündung des kleinen
Flusses Sosua bekamen sie von den Behörden eine Siedlung zugewiesen auf
einem Landflecken, direkt an der Küste zum Atlantik. Außer ein paar alte
Baracken, dereinst von der United Fruit Company benutzt und mittlerweile
völlig verwahrlost, stand da nichts, was ihnen in ihrer deutschen Heimat so
gewohnt war: es gab keine Straßen, keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine
Geschäfte. Aber es gab Wald, tiefster, undurchdringlichem Dschungel, der
sich bis unmittelbar an die wenigen Siedlerbaracken erstreckte. Doch das
alles störte sie nicht. Verblieb ihnen doch das Wichtigste, was sie besaßen:
ihr Leben.
Jüdische Einwanderer in Sosua, um 1940 (historische
Aufnahme)
Vor ihnen lag nun eine Zukunft, die sie sich mit eigenen
Händen gestalten konnten. Doch was hinter ihnen lag, bezeichnet Kirchheimer
als "schlimmste Zeit" seines Lebens. Und dabei hatte er gegenüber Millionen
seiner Leidensgenossen großes Glück gehabt. Zweimal ist es ihm begegnet,
jeweils in unterschiedlicher Gestalt. Das erste Mal, als er 1937 nach
Luxemburg geflüchtet war. Das ging damals mit seinem deutschen Pass noch
relativ einfach. Seine bisherige Arbeitsstelle im Hamburger Kaufhaus Hermann
Tietz (dem späteren Hertie) hatte er wie alle anderen dort beschäftigten
Juden verloren. Danach konnte er sich drei Jahre freiberuflich
durchschlagen. Doch bald ging auch dies für Juden nicht mehr.
Nur in Luxemburg war man noch halbwegs sicher vor den Nazis.
Allerdings war der Aufenthalt in dem Kleinstaat auf vier Wochen begrenzt –
es sei denn, man arbeitete bei einem Bauern. Das tat er denn auch. Ganze
zweieinhalb Jahre lang verdingte er sich als Knecht auf einem
luxemburgischen Bauernhof, wo er die Landwirtschaft erlernte. Ein Segen, wie
sich sehr bald herausstellen sollte. In Lateinamerika (wo, wußte er nicht)
wurden jüdische Pioniere gesucht. Wichtigste Bedingung für den Erhalt eines
Ausreisevisums: Kenntnisse in der Landwirtschaft.
Das zweite Mal begegnete ihm das Glück in Dax, Südfrankreich,
in Gestalt eines deutschen Offiziers. Kirchheimer befand sich mit weiteren
300 jüdischen Ausreisewilligen in einem Güterzug auf einer Irrfahrt quer
durch Europa. Eigentlicher Bestimmungsort war Lissabon, von wo aus sie in
die Dominikanische Republik verschifft werden sollten. Doch die Gestapo,
denen die mit einem Ausreisevisum versehenen Juden ein Dorn im Auge war,
verweigerten ihnen plötzlich die bereits genehmigte Weiterreise und
dirigierte den Güterzug in ein deutsches Militärlager nach Dax. Dort sollte
über ihr weiteres Schicksal entschieden werden. Die Juden wußten jedoch: Dax
war ein Durchgangslager für Judentransporte nach Auschwitz. Seit Tagen
hatten sie nichts zu essen und zu trinken. Die hygienischen Zustände in den
Waggons waren unbeschreiblich. Es stank bestialisch nach menschlichen
Exkrementen. Einige der Juden waren bereits gestorben und wurden unweit der
Gleise beerdigt. Das Ende schien gekommen.
Die nicht mehr erhoffte Rettung erschien diesmal in Gestalt
von Lorentzen, eines deutschen Offiziers. Lorentzen ließ die Waggons mit den
Juden kurzerhand an einen deutschen Militärzug ankoppeln, der deutsche
Soldaten von Dax nach Bayonne brachte. Dort angekommen, erhielten sie "die
erste Suppe seit Tagen", frisches Wasser und endlich eine Schlafgelegenheit
in einem ausgedienten Proviantlager. "Lorentzen", so Kirchheimer, "war
unsere eigentliche Rettung. Er muss ein Engel gewesen sein. Wegen ihm allein
habe ich mich später bereit erklärt, als Vertreter der Deutschen Botschaft
auf der Dominikanischen Republik zu fungieren."
Arturo Kirchheimer vor seinem Haus in Sosua,
Dominikanische Republik
So hart das Leben am Anfang auch war, auf der Dominikanischen
Republik fühlte er sich sicher. Deren damaliger Staatspräsident, der
Generalissimus Rafael Leonidas Trujillo, erklärte sich als einziger
Staatspräsident der an der Konferenz von Evian teilnehmenden insgesamt 31
europäischen und lateinamerikanischen Staaten bereit, Juden in sein Land
aufzunehmen. Diese Konferenz wurde im Juli 1938 vom US Präsident Franklin D.
Roosevelt ins Leben gerufen mit dem Ziel, das Flüchtlingsproblem der Juden
aus Deutschland und Österreich zu erörtern. Als sich die größeren Länder der
Konferenz jedoch nicht bereit erklärten, weitere Juden als Flüchtlinge
aufzunehmen, schlossen sich die kleineren Länder dieser Haltung an - mit
Ausnahme der Dominikanischen Republik. Trujillo hatte nämlich noch etwas gut
zu machen. Die internationale Reputation seiner Person und seines Landes war
nämlich auf dem Nullpunkt, seitdem er im Oktober 1937 über 20.000 Haitianer
von seinen Truppen grausam umbringen ließ. Hintergründe dieses Verbrechens
waren traditionelle antihaitianische Ressentiments sowie ein
weitverbreiteter Rassismus auf der Dominikanischen Republik, der die
Menschen bis heute in Pigmentkategorien einteilt: je heller, desto besser.
Trujillo, selbst von dunkler Hautfarbe, schminkte sich
täglich mit weißem Talkum-Puder auf Gesicht und Händen, um die Spuren der
verhassten schwarzen Rasse zu verwischen, die er von seiner Mutter geerbt
hatte. Und so erschien ihm die Einwanderung weißer europäischer Juden ein
mehr als willkommener Anlass, sein Land mit weißer Hautfarbe aufzunorden.
100-200.000 Juden wollte er in sein kleines, damals gerade mal 1,5 Millionen
Menschen zählendes Land aufnehmen. Einzige Bedingung war: maximal zehn
Prozent der Flüchtlinge durften verheiratet sein.
Ganze 850 Juden haben es in die Dominikanische Republik dann
tatsächlich geschafft. Sie alle kamen nach Sosua, wie der Ort nach dem
nahegelegenen Fluss inzwischen genannt wurde. Von 1904 bis 1916 hatte die
US-amerikanische United Fruit Company dort Bananen angebaut, hatte aber das
Land aufgegeben, weil der Boden nicht ertragreich genug dafür war.
Am Anfang erwartete die jüdischen Siedler Moskitos, Malaria
und dichter Regenwald. Der musste erstmal gerodet werden, eine harte Arbeit,
da mit Hand und ohne maschinelle Unterstützung gearbeitet wurde. Viele
Siedler waren den Strapazen nicht gewachsen, einige starben an den für sie
unbekannten Tropenkrankheiten, andere wanderten aus in die USA. Doch
diejenigen, die blieben, schufen das Wunder von Sosua.
Inmitten von nichts errichteten sie eigene Häuser und
begannen ihre Selbstversorgung mit Gemüsebau. Ein erster großer Erfolg. Das
Gemüse konnten sie bald in den umliegenden Märkten und besonders auf den
Großmärkten Puerto Platas verkaufen. Es dauerte nicht lange, bis sich dessen
erstklassige Qualität herumgesprochen hatte und die Einheimischen selbst
nach Sosua kamen, um Gemüse an Ort und Stelle zu kaufen. Von der DORSA,
einer internationalen jüdischen Hilfsorganisation gegründeten Organisation
für jüdische Pioniere in der Dominikanischen Republik, bekamen die Siedler
pro Person neun Kühe. Die Juden gründeten darauf eine Molkerei und schufen
mit ihr den Grundstein für eine Milch- und Käseindustrie, deren Produkte
bald weit über die Dominikanische Republik hinaus bekannt wurden. Die
Geschäfte liefen blendend, die Siedler mussten sogar einheimische
Arbeitskräfte einstellen. Bereits 1943 konnte sich Kirchheimer ein Auto
leisten, das erste Auto der ganzen Gegend, "einen alten Buick", wie er stolz
erzählt.
Typisch deutsch, organisiert er die ersten Messen für
landwirtschaftliche Produkte auf der Insel. Sie fanden zuerst in Puerto
Plata und noch im selben Jahr in der Hauptstadt St. Domingo statt, damals
umbenannt in "Ciudad Trujillo". Auch dies ein durchschlagender Erfolg. Der
Diktator ließ es sich nicht nehmen, einige der Siedler – darunter
Kirchheimer - persönlich einzuladen und ihnen zu ihrem Erfolg zu
gratulieren. Kirchheimer berichtet, dass Trujillo nicht glauben wollte, dass
die aus Sosua stammenden Schweine und das Geflügel nicht "aus dem Ausland"
importiert, sondern auf der Insel selbst gezüchtet worden war. Trujillo
schloss bei einer dieser Gelegenheiten Kirchheimer in die Arme mit den
Worten: "Wenn wir nur eine Handvoll Männer Ihres Schlages in unserem Land
hätten, wären wir die meisten Probleme los." Sosua erhielt über die Jahre
150 Trophäen allein für erfolgreiche Schweinezucht.
Was Kirchheimer damals nicht wissen konnte, war die
Blutrünstigkeit und Brutalität, mit der Trujillo sein kleines Land regierte.
Trujillo behandelte die Dominikanische Republik wie seinen persönlichen
Privatbesitz, er besaß über 90% des Staatsvermögens und auch einen Großteil
aller Privatvermögen wurden per Erlaß sein Eigentum. Die Bevölkerung
erzitterte unter seiner gnadenlosen Herrschaft, seine Brutalität und sein
Sadismus ließ ihn zum Idi Amin der Karibik werden. Auf Vorteil bedachte
Staatsangestellte oder in Ungnade gefallene ehemalige Günstlinge boten dem
sexuell unersättlichen Potentaten ihre minderjährigen Töchter an. Folter,
Hinrichtungen und Verfolgung waren an der Tagesordnung. Gefangene wurden
tagelang bis zum Mund in mit Jauche und Urin gefüllte Tanks gesteckt, Kinder
vor der Augen der Eltern zwecks Erpressung von "Geständnissen" vergewaltigt
oder zu Tode gefoltert. Trujillos Geheimdienst hielt sich Hunde, die auf das
Abreißen männlicher Geschlechtsteile trainiert waren, und in dem
Swimmingpool seiner Residenz schwammen Haifische, denen zum allgemeinen
Vergnügen anwesender Partygäste lebende Häftlinge zum Fraß vorgeworfen
wurden.
Bereits 1963, zwei Jahre nach dem gewaltsamen Ende der 31jährigen Herrschaft
Trujillos, beschrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay "Bildnis eines
Landesvaters" als vermutlich erster Intellektueller dessen grausame Ägide.
Und der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa lässt in seinem vor
kurzem erschienenen Roman "Das Fest des Ziegenbocks" das blutrünstige
Szenario dieses wahnsinnigen karibischen Massenmörders in seiner ganzen
unvorstellbaren Grausamkeit wieder auferstehen.
Dies waren in etwa die politischen Hintergründe in der
Dominikanischen Republik während jener Zeit, als Kirchheimer und die übrigen
Juden dort ihre Zuflucht fanden. Von alledem wusste Kirchheimer jedoch so
gut wie nichts. Wie hätte er auch? Während seiner letzten Jahre in
Deutschland war die Presse bekanntlich zensiert und internationale
Nachrichten so gut wie nicht erhältlich. Und auch in der Abgeschiedenheit
des von St. Domingo entlegenen Ortes Sosua waren kritische Informationen zum
aktuellen Tagesgeschehen nicht verfügbar. Denn selbstverständlich hatte
Trujillo auch und besonders die Presse seines Landes unter strengster
Kontrolle.
Doch selbst wenn er davon gewusst, selbst wenn er das
eigentliche Motiv Trujillos für die Aufnahme der Juden gekannt hätte: hätte
er sich der damals einzig möglichen Rettung entziehen können? "Trujillo hat
sehr viel Schlechtes gemacht, aber in unserem Fall auch etwas Gutes. Er war
und bleibt unsere Rettung. Dafür bin ich dem Land bis heute dankbar", so
Kirchheimer.
Die ursprünglichen, an der Idee von Kooperativen orientierten
Organisationsstrukturen der Siedler haben die Jahre nicht überdauert. Die
Molkerei-Genossenschaft wurde 1963 in eine GmbH umgewandelt, nach dem
gewaltsamen Tod Trujillos schließlich in eine Aktiengesellschaft. Die
anfängliche kibutz-ähnliche Siedlung wandelte sich nach und nach in ein
Agrar-Unternehmen großen Stils, dessen "Productas de Sosua" bald die ganze
Insel mit Käse, Wurst, Süßrahmbutter und weiteren Molkereiprodukten
versorgen sollte. Auch als Kirchheimer auf Rinderzucht umsattelt, heimst er
bald reihenweise Preise ein. Kirchheimer bemühte sich aber neben seinen
beruflichen Aktivitäten auch darum, dass die Siedler, die 1953 die
dominikanische Staatsbürgerschaft erhielten, unter Adenauer auch wieder
deutsche Pässe und die ihnen zustehende Rente bekamen. Kirchheimer wurde
deutscher Honorarkonsul auf der Insel und blieb dies ganze 43 Jahre lang.
Mit 13 deutschen Botschaftern hat er zusammengearbeitet, schließlich, 1989,
erhielt er vom damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker persönlich das
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Sosua, Historische Aufnahme
Heute leben auf der Insel noch etwa 250 Juden, circa 50 davon
in Sosua. Die übrigen sind längst wieder zurück zu ihren Familien nach
Europa, den USA oder nach Israel gezogen. Kirchheimer lebt jedoch immer noch
im gleichen Haus, in welches er nach seiner Ankunft 1941 eingewiesen wurde.
Vom aktiven Berufsleben hat er sich mittlerweile zurückgezogen, ohne jedoch
untätig zu sein. Er liest täglich seine Zeitung, hat viel Kontakt zu seiner
Familie. Seine 92 Jahre sieht man ihm nicht an. Ab und zu kommt er nach
Deutschland, um Freunde aufzusuchen, aber auch wegen des "Heimatgefühls",
das, wie er sagt, in seinem Fall "genügend missbraucht" worden ist. Und er
hört nicht auf, immer wieder über die Geschichte der Flucht der Juden nach
Sosua zu berichten. Weil er daran interessiert ist, dass "in Deutschland
nicht vergessen wird, was in der Hitlerzeit passiert ist."
Nachtrag d. Red.: Arturo Kirchheimer starb am 15.
August 2004. Die Deutsche Botschaft in Santo Domingo hat über die
Lebensgeschichte von Don Arturo ein Buch veröffentlicht, das über die
Botschaft bestellt werden kann. |