Ich wurde im Jahre 1929 in Hamburg geboren, das zweite Kind einer
gutbürgerlichen und alteingesessenen Familie. Mein väterlicher Großvater war
Direktor und Mitgründer einer großen Bank, der mütterliche Inhaber eines
großen Modegeschäftes.
Obwohl meine Mutter Zionistin war, waren meine beiden Eltern völlig
assimiliert und fühlten sich an erster Stelle als deutsche Deutsche, und
nicht wie so viele andere deutsche Juden als Deutsche mosaischen Glaubens.
Wie viele damalige Intellektuelle waren sie Atheisten oder Agnostiker und
fanden ihre Befriedigung in der reichen Kultur des Landes, das sie als ihre
Heimat empfanden. Religionen waren für sie nichts anderes als die Überreste
primitiven Aberglaubens, die im erleuchteten 20. Jahrhundert überflüssig
geworden waren. Da wir aber nun mal in Deutschland lebten, feierten sie der
Kinder wegen Weihnachten und Ostern, mit einem großen Tannenbaum und
begeistertem Eiersuchen. Sogar das typischste jüdische Kennzeichen, das
Beschneiden ihrer Kinder, hatten meine Eltern aufgegeben, denn sie waren
doch Deutsche und wollten es vermeiden, dass wir, ihre Kinder, eines alten
Aberglaubens wegen, womöglich als Fremde angesehen würden. Auch sonst gab es
bei uns zu Hause nichts, was uns als Juden kennzeichnen konnte. Selbst die
Kunstobjekte meiner Mutter waren christlich geprägt, sodass sich später alle
unsere israelischen Putzfrauen sicher waren, dass die sehr blond aussehende
Dame des Hauses keine Jüdin war.
Der wachsende Antisemitismus in Deutschland berührte mich als Kind sehr
wenig, und so hatte ich eine glückliche und sichere Kindheit, an die ich nur
sehr wenige Erinnerungen habe. Den Bildern nach muss ich ein sehr
zufriedenes Kind gewesen sein, und meine Mutter erzählte mir später, dass
man mich sogar als Weihnachtskind für eine Zeitschrift fotografieren wollte,
bis man hörte, dass ich ein jüdisches Kind war.
Außerdem hätten meine Eltern so und so nie ihre Zustimmung dafür gegeben.
So etwas passt nicht zu einer angesehenen Familie. Mit sechs Jahren bekam
ich eine große Schultüte, ging in die Volksschule die sich in der
Nachbarschaft befand, lernte fleißig die gotische Schrift und war, wie alle
Kinder meines Alters, von dem ganzen Pomp des Nationalsozialismus tief
beeindruckt.
Retrospektiv gesehen, erscheint es heute ironisch, dass ich gerade den
"Stürmer", die nationalsozialistische Hetzzeitung, benützte, um mein neu
erlerntes Lesen zu üben, aber so sind nun mal Kinder. Schon damals liebte
ich das Lesen über alles, den Stürmer gab es an jeder Ecke, und außerdem war
er mit den komischsten Abbildungen nur so angefüllt - ähnlich wie die
heutigen Comics war er ein wahrer Leckerbissen für ein deutsches Kind, das
gerade mit dem Lesen anfängt. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum mir
mein Kindermädchen Bertha nicht erlaubte, mich länger dort aufzuhalten, und
warum meine Eltern immer einen großen Umweg machten, wenn sie Stände mit
diesen Zeitungen sahen.
So tat ich eben was jedes andere Kind in meiner Lage auch getan hätte:
Ich benützte jede Minute, in der ich frei und ohne Aufsicht war, um zur
nächsten Straßenecke zu laufen und mich in die verbotene Lektüre zu
vertiefen. Wenn Bertha und meine Eltern es so streng verbieten, muss doch
etwas daran sein, selbst wenn ich nicht immer alles, was dort stand,
verstehen konnte.
Eins verstand ich aber nur zu gut: Dass die Juden das schlimmste Gesindel
sind, das es auf dieser Welt gibt, und dass es die Aufgabe jedes anständigen
Menschen ist, dieses Gesindel so schnell wie möglich auszurotten. Zwar hatte
ich noch nie einen Juden gesehen, aber wenn es schwarz auf weiß an jeder
Straßenecke steht, muss es sie doch irgendwo geben. Und wenn der Stürmer
sagt, dass man sich vor ihnen vorsehen muss, dann muss auch ich anfangen
aufzupassen. So fing ich an alle Menschen, die ich auf der Straße sah,
argwöhnisch zu beobachten: vielleicht versteckt sich unter ihnen ein Jude?
Meine Eltern und Bertha konnte ich natürlich nicht fragen, denn sonst hätten
sie doch mein größtes Geheimnis entdeckt. Aber andererseits stand auch im
Stürmer, dass der Führer gekommen war, um uns von den Juden zu retten. Das
beruhigte mich etwas.
Dann, eines Tages ertappte mich Bertha, zerrte mich von dem Schaukasten
weg und erklärte mir eindeutig, dass diese Zeitung nichts für mich sei; denn
ich sei ein Jude. Eine Welt brach für mich zusammen. Was hatte Bertha da
gesagt? Ich sollte eine der grotesken Figuren aus dem Stürmer sein? Diese
gebückten Gestalten mit langen, krummen Nasen sollten meine Angehörigen
sein? Das kann doch wohl nicht war sein! Ich brauchte doch nur in den
Spiegel zu gucken, um zu erkennen dass ich ein Deutscher und kein Jude war!
Die Juden sind doch Untermenschen, Ungeziefer, Ratten mit langen Krallen und
Schwänzen, schmutzig, zerlumpt... So steht es doch schwarz auf weiß an allen
Straßenecken; im Stürmer, den ich und so viele Menschen andächtig lesen. Das
hat doch nichts mit mir zu tun. Da musste sich Bertha geirrt haben, als sie
sagt: "Du bist ein Jude, ein Jude, ein Jude...!". ICH BIN KEIN JUDE und
werde auch nie einer werden!!!
Und seitdem, während meines ganzen Lebens, gehörte ich niemals mehr "ganz zu
etwas oder zu jemanden", sondern lebte immer zwischen zwei Welten. Ich wurde
zum Opfer des jüdischen Eigenhasses, ein Gefühl, das mich noch viele, viele
Jahre begleiten sollte. Auch jetzt, während ich dieses Buch schreibe,
siebzig Jahre später, fühle ich mich unangenehm berührt, wenn man mich einen
Juden nennt. Ich fühle mich nicht als Jude, als Deutscher kann ich mich
nicht fühlen, und so bleibt mir nur eines übrig: Ich bin ein Israeli und
stolz darauf...