Gedenkstunde:
"Fabrikaktion" 1943Von M.
Reisinger
Anlässlich des 63. Jahrestag der "Fabrikaktion"
veranstalteten jüdische Organisationen zusammen mit dem Bezirksamt Mitte von
Berlin eine Gedenkstunde an den Mahnorten in der Rosen- und der Großen
Hamburger Straße im Scheunenviertel. Bei dieser Veranstaltung erinnerte man
sich an den 27. und 28. Februar 1943, als die Nazis, zur Zwangsarbeit
verpflichtete Juden verhaftete und sie in "Sammelstellen", wie dem Jüdischen
Altersheim oder dem Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde brachte. Von
dort aus sollten sie in die Vernichtungslager deportiert werden.
Ein Großteil der verhafteten jüdischen Bürger lebten in so
genannten Mischehen mit nichtjüdischen Partnern zusammen. Deren
Ehefrauen demonstrierten damals tagelang in der Rosenstraße gegen
die Inhaftierung und erzwangen so die Freilassung ihrer Männer.
In Ansprachen bei der Gedenkstunde, organisiert von der
Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Israelitischen Synagogengemeinde Adass
Jisroel und dem Jüdischen Kulturverein, wurde deutlich gemacht, dass
Antisemitismus und Rechtsextremismus, trotz allem Positiven, was das
Zusammenleben von jüdischen mit nichtjüdischen Menschen angeht, nach wie vor
ein Problem in dieser Gesellschaft ist. Inakzeptabel ist es beispielsweise,
dass in einigen Bezirksparlamenten von Berlin eine Partei sitzt, die sich
Nationaldemokratische Partei nennt, die in der Tradition des
Nationalsozialismus steht und die in öffentlichen Rathäusern ihre
menschenverachtende Ideologie frönen kann. Dagegen sei Zivilcourage
gefordert.
Zivilcourage, so Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde, müsse in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Ein Problem sieht Joffe
allerdings, neben den Sympathisanten von antisemitischen Verbalattacken,
Friedhofsschändungen, physische Angriffe oder Hetzjagden auf Farbige, in der
schweigenden Mehrheit, die zwar nicht einverstanden ist, aber dennoch zu
häufig weghört und wegsieht. Weghört, wenn der Präsident des Irans dazu
aufruft, Israel, notfalls mit Atombomben, von der Landkarte zu tilgen.
Wegsieht, wenn, wie vor einigen Tagen geschehen, ein antisemitischer
Anschlag auf einen jüdischen Kindergarten verübt wird.
"Nachts", so Joffe, "waren glücklicherweise keine Kinder
im Kindergarten gewesen. Aber die Botschaft war eindeutig an den Wänden und
auf den Spielzeugen zu lesen. Sogar auf Kinderspielzeug wurden SS-Runen
geschmiert - hier in Deutschland, hier in Berlin, im Jahr 2007". Bei ihren
mahnenden Worten wies Irene Runge vom Jüdischen Kulturverein darauf hin,
dass die alten und neuen Nazis die Juden auch deshalb hassen würden, weil
sie Tage wie diese, nämlich den Februar 1943, nicht bereit sind zu vergessen
und weil sie solidarisch füreinander einstehen. Dieses Gedenken sei ein Teil
des heutigen jüdischen Lebens, welches bleiben wird, weil immer mehr Juden
in Berlin leben werden.
Nach dem El male Rachamim und dem Kaddisch-Gebet durch
Kantor Isaac Sheffer bewies der Chor der jüdischen Oberschulen mit seinem
abschließenden Gesang, dass es keine leeren Worte waren, die Irene Runge
kurz zuvor aussprach.
Ansprache von Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu
Berlin
[...]
Die Heldentat der Frauen war ein Akt gewaltlosen Widerstands gegen das
Unrechtsregime. Diese Frauen von damals sind Vorbilder für heute. Wenn wir
an andere Helden erinnern, zum Beispiel der Retter der Synagoge in der
Oranienburger Straße, Wilhelm Krützfeld, oder an Oskar Schindler und an viel
andere Helden - leider viel zu wenige andere Helden -, dann müssen wir auch
an die nichtjüdischen Frauen erinnern. Frauen, die durch
ihre Demonstration ihre jüdischen Ehemänner freibekommen wollten. Die
Situation heute ist glücklicherweise nicht vergleichbar. Gott sei Dank leben
wir in einer Demokratie. Der Staat bedroht uns nicht, wenn wir Zivilcourage
leisten. Zivilcourage, dieses Stichwort, muss in Zukunft an Bedeutung
gewinnen. Antisemitische Verbalattacken, Friedhofsschändung, Schmieren von
Hetzparolen, physische Angriffe, ausländerfeindliche Ausschreitungen,
Hetzjagd auf Farbige, und und und. Die Täter sind ein Fall für Polizei,
Staatsanwaltschaft und Justiz. Ein Problem hierbei sind die Sympathisanten,
die hämisch im Stillen Beifall zollen. Das größte Problem aber, ist die
schweigende Mehrheit, die zwar nicht einverstanden ist, aber dennoch zu
häufig wegsieht und weghört.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder, Berlinerinnen und Berliner, das
Ziel, das mit jeden Gedenktag einhergeht, ist die Botschaft, nie wieder. Nie
wieder dürfen Kinder, Frauen und Männer, harmlose Menschen ermordet werden,
weil sie einer anderen Religion oder einer anderen Rasse angehören. Können
wir aber in der Tat mit dem Brustton der Überzeugung sagen, dass
beispielsweise nie wieder Juden ermordet werden, weil sie Juden sind.
Im Iran herrscht ein Präsident, der Israel notfalls mit Atombomben von der
Landkarte tilgen möchte. Das Ergebnis wären wieder Millionen ermordeter
Juden. Millionen Juden könnten nicht mehr in Europa ermordet werden. Aus
einem einfachen Grund. Es gibt kaum noch Juden in Europa. Dennoch, einzelne
ermordete Juden hätte das Ergebnis des Anschlags vom Wochenende seien
können, wenn der Brandsatz [Anschlag] nicht während der Nacht - wenn keine
Kinder da sind - geworfen [durchgeführt] worden wäre, sondern tagsüber, wenn
Kinder noch im Kindergarten gespielt hätten. [fälschlicherweise sprich Joffe
hier von einem Brandsatz; es wurde allerdings "nur" eine Rauchbombe durch
das vorher zertrümmerte Fenster geworfen, M.R.]
Nachts sind glücklicherweise keine Kinder im Kindergarten gewesen. Aber die
Botschaft war eindeutig an den Wänden und auf den Spielzeugen zu lesen.
Sogar auf Kinderspielzeug wurden SS-Runen geschmiert - hier in Deutschland,
hier in Berlin, im Jahr 2007.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Berlinerinnen und Berliner, wir haben
noch eine Menge Arbeit vor uns. Das sind wir auch den Frauen aus der
Rosenstraße schuldig. Ihr Andenken zu ehren, heißt, dass wir heute alle
hinschauen, uns einmischen, zusammenstehen und Nein sagen müssen zu jeder
verbalen Entgleisung, zu jeder tätlichen Bedrohung, zu jeder Person oder
Organisation, die Menschen verfolgen möchte, weil sie anders aussehen oder
weil sie an einen anderen Gott glauben.
Liebe Berlinerinnen und Berliner, lassen sie uns nicht nur heute die Frauen
der Rosenstraße ehren.
Ansprache von Irene Runge, Jüdischer Kulturverein
[...]
Das Naziregime hatte alle Juden, egal ob orthodox, konservativ, liberal,
säkular, ob politisch oder nicht, arm, reich, Männer, Frauen und Kinder zur
Vernichtung vorgesehen. Ari Abraham Offenberg ist rechtzeitig emigriert.
Viel später kehrte er nach Berlin zurück, denn das war die Stadt, wo sein
Großvater, sein Vater und sogar er selbst zu den Gründern und Bewahren der
Gemeinde Adass Jisroel gehört hatten.
[...]
Die Wut der alten und neuen Nazis richtet sich gegen uns alle. Gegen unsere
Gemeinden, gegen unsere jüdischen Kindergärten und Schulen. [...]
Sie hassen uns auch deshalb, weil wir Tage wie diese, nämlich den Februar
1943, nicht bereit sind zu vergessen und wenn wir solidarisch für einander
einstehen. Das ist ein Teil unseres heutigen Lebens, und beim Gedenken an
die Fabrikaktion und dem Frauenprotest ist es wichtig festzustellen, dass
die Stadt Berlin heute alles andere als "judenfrei" ist. Und ich glaube,
dabei soll es nicht nur bleiben, sondern es werden immer mehr Juden, die
hier leben. |