Am Horizont die Hebräische Universität, davor der
Felsendom mit der Westmauer (Klagemauer, Kothel). Am rechten Rand sehen Sie
den z.Z. umstrittenen Aufgang zum Mugrabi-Tor. (Foto: Shmuel Spiegelman)
Tragischer Ausgang einer Fahrt auf den Spuren Jesu:
Das Jerusalem Syndrom
Anfang des Monats ereignete sich am Ben-Gurion Flughafen eine schreckliche
Tragödie. Ein schwedischer Tourist warf seinen kleinen Sohn von einer
Balustrade und sprang dann hinterher. Während der Kleine mit schweren
Verletzungen im Krankenhaus liegt, kam für den Vater jede Hilfe zu spät. Es
wird angenommen, dass der Mann am "Jerusalem-Syndrom" litt.
Die schwedischen Behörden meldeten, der Mann habe schon
vor seiner Reise an psychischen Problemen gelitten. Das Jerusalem-Syndrom
habe seinen Zustand wohl kritisch verschlechtert. Das Syndrom befällt
hauptsächlich Christen. Das Zusammentreffen mit den Orten, an welchen
Jesus gelebt und gewirkt hat, wühlt entsprechend empfindsame Personen so
auf, dass es sie verwirrt und sie glauben, sie besäßen überirdische Kräfte.
Ihr Verhalten wird sonderbar und manchmal auch gefährlich, für sich und für
andere.
Das "Jerusalem-Syndrom" bezeichnet eine psychische Erkrankung, von der
vereinzelt Besucher oder Einwohner der Stadt Jerusalem betroffen sind. Die
Bezeichnung stammt vom israelischen Arzt Yair Bar El, der Anfang der 1980er
Jahre als erstes dieses Krankheitsbild diagnostizierte und seitdem über 400
Betroffene in der psychiatrischen Klinik "Kfar Shaul" behandelt hat.
Grundsätzlich ist die Erkrankung nicht gefährlich und die Betroffenen sind
in der Regel nach wenigen Tagen vollständig genesen. Allerdings zeigte die
große Mehrzahl der erkrankten Personen bereits vor dem Jerusalem-Syndrom
psychische Auffälligkeiten, so dass eine gewisse Disposition vorausgesetzt
werden kann. Etwa 50 Menschen erleiden pro Jahr das klassische
"Jerusalem-Syndrom", Tendenz ist steigend.
Die Erkrankung besitzt den Charakter einer Psychose und äußert sich als
Wahnvorstellung: Der oder die Betroffene identifiziert sich vollständig mit
einer Person aus dem "Alten" oder "Neuem Testament". Sehr prominente und
wichtige biblische Personen werden dabei besonders häufig zum Objekt einer
solchen Identifizierung, so zum Beispiel Moses, Joschua, der Prophet Elias.
Auch Henoch, Malkizedek und Mordechai sind beliebte Figuren. Aus dem "Neuen
Testament" kommen vor allem Jesus und Johannes der Täufer, Josef und Maria
Magdalena zum Einsatz.
Männer wählen männliche Personen und Frauen weibliche Personen. Es gibt auch
konfessionelle Präferenzen. Juden wählen Personen aus dem Alten Testament,
Christen tendieren eher zu solchen aus dem Neuen Testament. Die
Identifizierung geht oft einher mit einer entsprechenden Selbstdarstellung
und wird oft begleitet von öffentlichen Predigten oder Gebeten. Die
klassische Form beginnt oft damit, dass der Betroffene Reinigungsrituale
befolgt, sich absondert und statt seiner üblichen Kleidung auf weite
Gewänder oder Bettlaken und Sandalen umsteigt.
Die größte Gruppe unter den Patienten ist männlich, stammt aus Europa oder
den USA und ist protestantisch. Ber-El erklärt dies mit
einer besonderen Verwundbarkeit, die daraus resultiere, dass Protestanten
ihre Gebete an einen unfassbaren Gott richten. Im Gegensatz zu den
Katholiken haben sie keinen Papst, keine Heiligen, wenig Spiritualität.
Viele der Betroffenen kommen aus streng religiösen Familien, in denen
die Bibel das einzige Buch im Haus ist.
Dr. Jordan Scher, ebenfalls Psychiater in Jerusalem, vermutet, dass die
heilige Stadt mit ihrer speziellen geistigen Atmosphäre, viele Hilfesuchende
anzieht. Eine spezielle Form des Syndroms könnte als "Messianismus-Komplex"
bezeichnet werden. In Jerusalem wimmelt es von Leuten, die sich für den
Messias halten, ihn kennen, ihn vermissen, ihn getroffen haben, auf ihn
warten. Andere fühlen einen Drang, das Kommen des Messias zu beschleunigen.
Bedrohlich wird dieses Phänomen, wenn es politisiert wird.
Eine der berühmtesten Personen, die an dem Syndrom erkrankten, ist Michael
Rohan, ein australischer Christ, der im Jahre 1969 versuchte, die El-Aksa
Moschee in Brand zu stecken.
Auf jüdischer Seite kann hier die Chabad-Bewegung als Auffangbecken dienen.
Ritual und mystische Spiritualität, gepaart mit einem Gefühl spezieller
Erhabenheit, scheint ein ideales Rezept zu sein, um Sehnsüchte nach einem
sicheren Hintergrund und einer festen Identität zu befriedigen.
Für viele wird die Kothel, die sogenannte "Klagemauer", zum
Kristallisationspunkt der Berufung. Der israelische Philosoph Jeschajahu
Leibowitz sprach deshalb von der Diskothel und bezeichnete derartiges oft
als Götzendienst.
Unter den besonders Aktiven an der Kothel ist Elyakim. Er macht sich hier
fast täglich bemerkbar indem er seine Stimme erschallen lässt. Die ist
nämlich so stark, wie ein ganzes Blasorchester. Ganz in weise Tücher
gehüllt, gekrönt von einer bucharischen Kipah, die auf einen wirren Kranz
gedrehter Haare sitzt, ruft er den Touristen zu: "Welcome America, es lebe
Amerika!". Wenn er seine Gebete von der Balustrade herab erschallen lässt,
meinen manche der Pilger, es handle sich um eine himmlische Stimme. Elyakim
berichtet von vielen, die er zur sofortigen Tschuwah, zur Umkehr zum
religiösen Lebenswandel, gebracht hat.
Auch die tanzenden "Brooklyn Boys" sehen sich auf dem besten Weg zum Zadik.
Ihre Rufe "Moshiach now, now, now!" sollen die sofortige Erlösung bewirken,
irgendwann. Bis dahin versuchen sie jeden, der vorbeikommt, zu
beglückwünschen, zu segnen und zur Umkehr aufzurufen.
Wenn es dunkel wird, kommt Bat Zion und verteilt an ihre Boyz Bagels. Sieben
Stück für jeden hätte sie gerne, denn sieben bringt die Erlösung. Leider hat
sie nicht soviele Bagels auftreiben können, die Araber seien schuld daran,
weil sie das Mehl versteckt haben.
In einer arabischen Teestube, nicht weit von der Mauer, sitzt Hasan, der
Schöne. Er berichtet vom Ring des Königs Suliman. Den hätten die Juden unter
dem Felsendom vergaben und wollten ihn nun wieder hervorholen. Dies sei aber
nur ein Vorwand, um das erhabene Heiligtum zu zerstören. Vielleicht war es
ja Hasan, der Bat Zion das Mehl gestohlen hat. Sicher hat er es nur gut
gemeint, denn die rundlichen Bagel Boyz aus Brooklyn können irgendwann nicht
mehr tanzen, wenn sie noch mehr von Bat Zion's Bagels essen.
Ein Pendant findet das "Jerusalem-Syndrom" übrigens im "Florenz-Syndrom",
dort ist es die massive Präsenz der Kunst, die den Betroffenen den Kopf
verdreht. |