Jugendrichterin
Herz erzählt:
Recht persönlich
Ruth Herz, bekannt aus der TV-Serie „Das Jugendgericht“, tauschte die
gewohnte Atmosphäre des Gerichtssaales vier Jahre lang mit den Kameras der
Fernsehstudios aus. In einem Buch schildert sie ihre Erfahrungen in beiden
Welten entlang ihrer außergewöhnlichen deutsch-israelischen Biographie, die
ihre Einstellung zum Beruf entscheidend beeinflusst hat.
Ruth Herz schildert ihre Zeit bei der Fernsehgerichtsserie „Das
Jugendgericht“ und erlaubt so einen Blick hinter die Kulissen des
Massenmediums. Sie bringt dem Leser jedoch auch den realen Gerichtssaal
nahe.
Anhand der von ihr verhandelten Fälle stellt sie ihr Bemühen um einen fairen
und respektvollen Umgang mit den Jugendlichen dar. Ausführlich kommen dabei
auch wichtige Stationen ihrer eigenen Biographie zur Sprache. Als Tochter
eines assimilierten jüdischen Rechtsanwalts, der 1933 von Breslau nach
Palästina emigrieren musste, und einer israelischen Mutter, die einer
Gründerfamilie der Stadt Tel Aviv entstammt, beschreibt die Autorin ihre
Kindheit in Jerusalem. Sie berichtet von ihren Erfahrungen, als sie mit
ihren Eltern aus Israel in das Deutschland der Nachkriegszeit kam, und
schildert den mitunter steinigen Weg in ihren Beruf sowie ihr Engagement in
Lehre und Forschung.
In ihrem
Buch
erzählt sie auf Seite 9 - 14 vom Tag ihrer Vereidigung:
1. Anpassen der Robe
Am 2. Januar 1974 wurde ich zur Richterin vereidigt. Ich war sehr aufgeregt,
denn zum ersten Mal in meinem Leben trug ich eine Richterrobe, schwarz und
mit einem Kragen aus Samt. Allerdings war sie geborgt, meine eigene hing
noch beim Schneider. Die Minimode war zu dieser Zeit auf ihrem Höhepunkt,
und ich hatte darauf bestanden, dass meine Robe der Mode entsprach. Der
Kammervorsitzende, der mir seine Robe, die mir bis zu den Füssen reichte,
geliehen hatte, sagte mit ernstem Ton: «Sie werden noch hineinwachsen
müssen» und meinte dies unmissverständlich im übertragenen Sinn.
Ich bezweifele, dass er mir damit Mut machen wollte. Seine Äußerung schien
mir eher ein Ausdruck seiner Skepsis darüber, ob eine sehr junge Frau dieses
Amtes würdig sei. Meine Freude darüber, dass ich meinen Traum verwirklichen
konnte, Richterin zu werden, konnte er indessen nicht dämpfen.
Mit meiner Berufswahl setzte ich unsere Familientradition fort. So erzählte
mein Vater, Rudolf Pick, Rechtsanwalt in Düsseldorf, mit sichtbarem Stolz
einem Kollegen im Anwaltszimmer des Gerichts: «Meine Tochter ist gestern zur
Richterin ernannt worden.» Nicht nur mein Vater, sondern auch mein Großvater
war Rechtsanwalt gewesen. Juristen waren seit Generationen in meiner Familie
stark vertreten. An Feiertagen, wenn die Familie zu den festlichen
Mahlzeiten zusammenkam, saßen nicht weniger als 17 Juristen am Tisch – sie
alle mussten im Jahr 1933, dem Jahr der Machtergreifung Hitlers, ihren Beruf
aufgeben und aus Deutschland auswandern, weil sie Juden waren.
Viele Richterinnen gab es Mitte der 70er Jahre nicht. Die Justiz war immer
noch eine Männerwelt, nur 10 Prozent aller Richter waren damals weiblich.
Die Frauenemanzipationsbewegung hatte viele Frauen ermutigt, gegen die
Übermacht der Männer zu kämpfen, und ich wollte nicht abseits stehen. Als
junge Ehefrau und Mutter zweier kleiner Kinder bestand ich auf einer
gleichberechtigten Position im Berufsleben. Meine Mutter Eva (Chawa) Berkus
war mein Vorbild, nicht nur in dieser Hinsicht. Sie, die Tochter einer der
Gründerfamilien der Stadt Tel Aviv, hatte im Jahr 1930 die große
Schiffsreise vom fernen Palästina nach Europa alleine angetreten und an der
Universität in Brüssel Bakteriologie studiert. Zu jener Zeit war dies für
eine junge Frau doch recht unüblich.
Im Gegensatz zur allgemeinen gesellschaftlichen Situation in Deutschland war
die Gleichberechtigung in unserer Familie selbstverständlich. Es war mir
wichtig, nicht nur für meine Tochter Daniela, sondern auch für meinen Sohn
Manuel neben ihrem Vater, meinem Mann Thomas, der Soziologieprofessor war,
Vorbild für ein mögliches Rollenmodell zu sein. Als meine damals achtjährige
Tochter gefragt wurde, was sie später einmal werden wolle, antwortete sie:
«Am Abend werde ich Balletttänzerin und am Tage Richterin!» Auch mein damals
fünfjähriger Sohn schien meine Berufstätigkeit zu schätzen. Als ich eines
Tages angestrengt von der Arbeit nach Hause kam und überlegte, ob ich mich
nicht beurlauben lassen sollte, sagte er: «Aber Mami, Du willst doch nicht
zu Hause bleiben mit der Schürze wie Frau Dambach!» Frau Dambach war unsere
Nachbarin.
Während meiner Referendarzeit beim Amtsgericht wurde ich von einer Richterin
ausgebildet, die aufgrund ihrer Strenge von den Referendaren gefürchtet
wurde. Ich bewunderte ihre Geduld mit den Referendaren, aber auch die
Autorität, die sie ausstrahlte. Sie beeindruckte mich nicht nur durch ihr
souveränes Auftreten, sondern besonders auch durch ihr analytisches Denken
und ihre Hartnäckigkeit, mit der sie nach gerechten Lösungen suchte. Sie
hatte dabei stets einen Sinn für Ironie und verlor auch in schwierigen
Situationen niemals ihren Humor. Ich habe viel von ihr gelernt, sie wurde
mein berufliches Vorbild.
An meinem ersten Tag als Richterin setzte ich mich in meinem eigenen Zimmer
im Gericht an meinen Schreibtisch. Die Atmosphäre, die Kollegen, die Akten,
sie waren mir vertraut. Dennoch schlug ich mit leichtem Herzklopfen die
oberste Akte auf. Nachdem ich sie von vorne bis hinten studiert hatte,
musste eine Entscheidung gefällt werden, für die ich nun erstmals voll und
ganz selbst verantwortlich war. Das fiel mir nicht leicht, würde mein Urteil
doch den Lebensweg eines Menschen bestimmen.
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, mit der besonderen Verantwortung des
Richters zu leben. Die richterliche Tätigkeit beruht nicht auf Willkür und
Intuition, sondern auf Gesetzen. Das ist das Handwerkszeug, mit denen
Richter systematisch arbeiten. Dennoch verspürte ich immer wieder eine
gewisse Ambivalenz zu meinem Beruf. Der Idee nach versucht der Richter, in
jedem Verfahren Objektivität, Fairness und Unbestechlichkeit zu wahren und
durchzusetzen. Aber Richter sind wie die Angeklagten Teil der Gesellschaft.
Jeder von ihnen bringt seine eigene Persönlichkeit, seine Vergangenheit,
seine persönlichen Erfahrungen und Einstellungen mit, was zweifellos ihre
Sicht der Dinge prägt und auch die vermeintliche Objektivität des Richters
beeinflusst. Das wurde mir im Laufe der Jahre immer bewusster.
Der Richterberuf ist für eine Frau nicht immer einfach. Als Frau wird man
immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. «Sie sind Richterin? Sie sehen
gar nicht so aus. Richter habe ich mir ganz anders vorgestellt», solche
Bemerkungen hörte ich häufig. Richter sind als Berufsgruppe oder als
einzelne Personen in der Gesellschaft namentlich oder persönlich kaum
bekannt, sie sind nicht sichtbar, sie geben selten Interviews und sind in
den Massenmedien nicht präsent. Umfragen haben ergeben, dass in der
Vorstellung vieler Menschen der Richter männlich ist und Würde sowie
Ernsthaftigkeit verkörpert. Diesem Klischee begegnete ich zu Beginn meiner
Laufbahn häufig. Immer wieder klopfte jemand an meine Tür, schaute herein
und sagte: «Entschuldigen Sie, Frolleinchen, ich möchte den Richter
sprechen.» Dabei war an der Tür ein Schild mit meinem Namen und dem Zusatz
«Richterin am Amtsgericht» angebracht.
Die Vorstellung, dass Richter männlichen Geschlechts sind, existiert nach
wie vor und schien zuweilen auch unter meinen Kollegen zu herrschen. Vor
wenigen Jahren fuhr ich zusammen mit meinen sieben männlichen
Jugendrichterkollegen anlässlich eines gemeinsamen Besuches der
Jugendarrestanstalt unseres Gerichtsbezirks nach Remscheid. Wir wollten mit
eigenen Augen sehen, wohin wir die Verurteilten schickten. Nach unserer
Ankunft wurden wir zum Anstaltsleiter, einem in Jeans und Tweedjackett
jugendlich gekleideten, knapp fünfzigjährigen Amtsrichter geführt. Er
begrüßte uns, freute sich über unser Interesse und bemerkte dann in einem
Nebensatz, dass er es besonders nett fände, dass die Kölner Kollegen ihre
Geschäftsstellenbeamtin mitgebracht hätten. Damit meinte er mich – die
einzige weibliche, dafür aber promovierte Richterin der Gruppe. Wie konnte
ihm entgangen sein, dass zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 20 Prozent aller
Kollegen weiblich waren und im Übrigen mit Jutta Limbach eine Frau an der
Spitze des Bundesverfassungsgerichts stand?
In der Tat sollte ich noch mehrfach erfahren, dass es subtile Mechanismen
gibt, die es Frauen im Richterberuf nicht leicht machen. So werden
beispielsweise gerichtsorganisatorische Fragen zu «Frauenfragen» stilisiert,
um die Eignung von Frauen für den Richterberuf anzuzweifeln. Es wird
behauptet, Frauen seien aufgrund ihrer «Doppelbelastung» von Beruf und
Kindererziehung nicht so belastbar wie ihre männlichen Kollegen. Ihnen
werden auf diese Weise Mängel zugeschrieben, die jedoch nur aus der Sicht
derjenigen, die die Regeln und damit die Norm formulieren, als solche
wahrgenommen werden. Man könnte jedoch die «Doppelbelastung», die Fähigkeit
also, unterschiedliche Aufgaben gleichzeitig zu meistern, ebenso gut als
eine besondere persönliche Stärke definieren. In der Kritik an den Frauen
spiegeln sich auch Missachtung und Ignoranz gegenüber der in der
Gesellschaft so wichtigen Aufgaben wie der Kindererziehung oder der Pflege
kranker und alter Familienmitglieder, die meistens von Frauen erfüllt
werden. Auch ich machte diese Erfahrung. Wegen der Kinder arbeitete ich viel
zu Hause. Als ich eines Tages deshalb erst am späten Vormittag im Gericht
erschien, empfing mich ein Kollege mit den Worten: «Ach, Sie sind mal wieder
im Hause, Frau Kollegin?» Dabei spielt es im Richterberuf keine Rolle, an
welchem Ort die Arbeit verrichtet wird. Und ich hatte nicht das geringste
Problem, mein Arbeitspensum zu erfüllen, was der Kollege auch wusste. Auch
dass ich zum Mittagessen oft nach Hause ging, um bei meiner Familie zu sein,
wurde nicht gern gesehen.
Viele männliche Kollegen hielten mich für eine «milde» Richterin und meinten
dies durchaus herabsetzend. Vielleicht waren sich die Kollegen dessen nicht
bewusst, gleichwohl: Ein Kollege, der ähnlich urteilte wie ich, wurde nicht
als «milde», sondern als «väterlich und verständnisvoll» bezeichnet. Erst
nach und nach habe ich verstanden, dass diese Erfahrungen nur Teile eines
Puzzles darstellen. Ein Puzzle, das nach der Vervollständigung des Bildes
die Situation der weiblichen Richterin wiedergibt. Richterinnen wird häufig
Milde bei ihren Entscheidungen zu gesprochen; belegt ist dies freilich
nicht. Vielmehr konnten bei einer wissenschaftlichen Untersuchung keine
Unterschiede zwischen den Entscheidungen von männlichen und weiblichen
Richter festgestellt werden. Offenbar passen sich Frauen aus Schwäche oder
sogar unbewusst den herrschenden (männlichen) Maßstäben an, um in der
Männerwelt nicht anzuecken.
Die männerdominierte Richterschaft bestimmt auch den Inhalt des Amtes.
Strenge scheint als Gütesiegel der Justiz zu gelten, dennoch werden strenge
Richterinnen häufig kritisiert. Frauen stehen in dem Ruf, ein ausgeprägtes
soziales Verständnis zu haben; Strenge passt da offenbar nicht hinein. Es
stimmt vermutlich, dass Frauen ein besonderes soziales Verständnis haben,
doch soll das bedeuten, dass sie mit sachfremden Argumenten arbeiten, dass
sie keine ernsthaften Juristen sind? Das ist selbstverständlich nicht der
Fall. Wie sie es im Studium gelernt haben denken Richterinnen zuerst
systematisch an Rechte und Ansprüche der Betroffenen – wie ihre männlichen
Kollegen.
Eigentlich spricht das den Richterinnen nachgesagte, besondere soziale
Verständnis dafür, sie bevorzugt in Jugenddezernaten einzusetzen, doch das
ist nicht der Fall. Obwohl Frauen ein Fünftel aller Richter ausmachen, ist
nur gut ein Zehntel der Jugendrichter weiblich. Das liegt vermutlich an der
gängigen Auffassung, dass männliche Richter Autorität besser als Frauen
vermitteln können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Jugendliche sogar
enttäuscht waren, wenn sie feststellten, dass eine Frau über ihr Verhalten
entscheiden sollte – also eine Mutter- und nicht eine Vaterfigur. Als mein
Gerichtspräsident mir seinerzeit mitteilte, ich würde Jugendrichterin, war
ich selbst zunächst enttäuscht, weil ich diese eher mütterliche
Aufgabenstellung bekam, obwohl ich doch einen Männerberuf gewählt hatte.
Dabei war es eine Art Auszeichnung, was ich jedoch noch nicht wusste.
Jugendrichter werden in der Tat als besondere Richter angesehen, und in der
jugendstrafrechtlichen wissenschaftlichen Literatur wird ihnen besondere
Beachtung geschenkt.
[BESTELLEN?]
Ruth Herz, Dr. jur., studierte nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin
Rechtswissenschaften in Genf, München und Köln. Zahlreiche Publikationen zum
Jugendstrafrecht und zur Kriminologie. Sie vertrat die Bundesrepublik im
Europarat als Expertin für Jugendstrafrecht und erhielt für die Einführung
des Täter-Opfer-Ausgleichs das Bundesverdienstkreuz. Ruth Herz lebt und
forscht in Köln und Tel Aviv.
[BESTELLEN?]
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