Es gibt sie nicht mehr:
Zum Mord an Anna Politkowskaja
Von Anna Schor-Tschudnowskaja
Anna Politkowskaja recherchierte über Themen, vor denen
die große Mehrheit der Journalisten in Russland zurückschreckt. Ihre engsten
Freunde wussten um ihre Angst, die sie über all die Jahre hinweg überwinden
musste. Sie berichtete aus dem entfernten umkämpften Tschetschenien, sah
sich dort Massengräber und Leichen mit Folterspuren an, schrieb unzählige
Berichte von Opfern von Entführungen und "Säuberungsaktionen" auf, sammelte
Photos von verschleppten Menschen, um nach deren Spuren zu suchen.
Sie registrierte Verbrechen für Verbrechen, hörte
fassungslosen Angehörigen zu, verlieh den unzähligen Opfern des
"vergessenen" – oder besser: verdrängten – Krieges in Tschetschenien eine
Stimme, lenkte die Aufmerksamkeit auf die dortige humanitäre Katastrophe. In
ihren Artikeln und Büchern machte sie klar: Die Vorgänge im Nordkaukasus
sind nicht von der Atmosphäre der rechtlichen und politischen Willkür, dem
Erstarren der politischen Öffentlichkeit wie auch einer "Gleichgültigkeit
aus Angst" in ganz Russland zu trennen.
Politkowskaja kämpfte gegen das Nicht-Wissen-Wollen und
die Furcht vor Widerstand. Sie hatte sehr wenig Verbündete. Man kann daher
nicht sagen, dass die Freiheit des Wortes und der Presse in Russland erst
nach diesem Mord massiv bedroht seien: Das war schon lange der Fall.
Politkowskajas Arbeit war durch eine zunehmend eingeschränkte
Meinungsfreiheit und fehlende Rechtstaatlichkeit behindert. Davon zeugt etwa
die jährliche Einstufung der weltweiten Pressefreiheit durch die bekannte
NGO "Reporter ohne Grenzen": Russland belegt unter 167 Staaten den 138.
Platz. Die Liste schließt mit Nordkorea, Russland ist nur 30 Plätze von ihm
entfernt.
Viele Beobachter reagierten erstaunt auf die bei seinem
Besuch in Dresden gemachte Aussage von Präsident Wladimir Putin, wonach
Politkowskaja eine unbedeutende Journalistin gewesen sei, deren Ermordung
dem Image Russlands und seiner politischen Führung viel mehr geschadet
hätten als ihre Arbeit. Das ist eine zynische Verdrehung der Tatsachen. Ihr
Verlust ist eine Tragödie für die zunehmend eingeschüchterte kritische
Öffentlichkeit Russlands wie auch für jene viele Menschen, deren Briefe mit
detaillierten Schilderungen und Bildern mit Toten und Gefolterten auf ihrem
Schreibtisch warteten und nun für immer unbeantwortet bleiben werden. Denn
sie – eine Stimme in einem Land mit über 143 Millionen Einwohnern – bewirkte
in den letzten Jahren unglaublich viel. Mit wenigen Gleichgesinnten trug sie
auf ihren Schultern Unrecht und Leiden des kaum noch beachteten Krieges in
Tschetschenien mit seinen Hunderttausenden Toten, Flüchtlingen und
Vertriebenen. Als Enthüllungsjournalistin und Kriegsberichterstatterin war
sie in Russland praktisch einzigartig. Sie berichtete nicht nur vom
abstrakten Kriegsgeschehen, sondern vielmehr über konkrete Schicksale von
Menschen – Opfer wie Täter – und nannte alle beim Namen. Das ermutigte
erstere und versetzte letztere in Wut.
Als Journalistin, Menschenrechtlerin und Schriftstellerin
vertrat Politkowskaja öffentlich die Anliegen Hunderter Menschen, die der
Gesetzlosigkeit, Gewalt und Korruption im Schatten des Krieges ausgesetzt
waren. Was sie tat, mag in Westeuropa selbstverständlich klingen, war aber
mit dem konsequenten Kurs der autoritären Innenpolitik Putins und seinem
politischen Willen offenkundig nicht vereinbar. Putin und seine Führung
profitieren eindeutig vom Mord an Politkowskaja – ganz unabhängig davon, wer
ihn nun initiiert hat.
Es gibt bereits mehrere Vermutungen, wer für den Mord in
Frage käme. Die Liste erstreckt sich von der obersten politischen Führung,
Geheimdiensten und Militärs, bis zu den zahlreichen bewaffneten
faschistoiden Gruppen, die "Feinde Russlands" systematisch verfolgen. Kaum
zu rechnen ist damit, dass der wahrer Auftraggeber jemals vor Gericht kommt.
Wichtig ist jedoch, sich die Länge dieser Liste vor Augen zu führen. Sie
zeugt vom Vorherrschen politischer Denk- und Handlungsmuster, die mit einer
Demokratie nach westeuropäischem Muster nichts gemeinsam haben.
Vor diesem Hintergrund ist das kürzliche Treffen Angela
Merkels und ihres russischen Partners auf dem Forum "Petersburger Dialog"
bemerkenswert. Die Bundeskanzlerin sprach von intensiven wirtschaftlichen
Beziehungen und selbst von einer Energieabhängigkeit Deutschlands von
Russland, verzichtete aber diesmal auf die freudige Feststellung
"gemeinsamer demokratischer Werte". Im Sinne einer Demokratieförderung und
Stärkung demokratischer Wert- und Denkmuster – ob im eigenen Land oder in
Russland – ist es unerlässlich, Tatsachen beim Namen zu nennen: Egal ob es
um den politischen Willen hinter dem Mord an Anna Politkowskaja oder ob es
um fehlende gemeinsame demokratische Werte geht. Sonst entsteht der
Eindruck, dass europäische Länder ihre fundamentalen Werte und Ideale selbst
nicht ernst nehmen und bereit sind, sie für eine gesicherte Versorgung mit
Erdgas zu verkaufen.
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