"Wie kann man da nicht Kommunist sein?":
Ein Gespräch mit Peter Gingold über Antisemitismus und
Befreiung
Tjark Kunstreich
Peter Gingold, 1916 in
Aschaffenburg geboren, ist von Geburt Jude und seit fast siebzig Jahren
Kommunist. Zuerst als junger Antifaschist in Frankfurt/Main vor 1933, dann
im französischen Exil und später als Angehöriger der Résistance kämpft er
gegen den Nazi-Faschismus. Zahlreiche Angehörige, darunter zwei Geschwister,
werden ermordet. Nach 1945 zieht er, der als 17jähriger Deutschland verließ,
mit seiner Ehefrau Etty, die er im Exil kennengelernt hatte, und den
gemeinsamen Kindern nach Frankfurt. Was für ihn eine Rückkehr ist, heißt für
Etty, die aus Rumänien kam, das Leben in einem Land, das sie eigentlich nie
betreten wollte.
Als Mitglieder der KPD sind
sie mit dem aggressiven Antikommunismus der Adenauerjahre konfrontiert, der
nicht selten von antisemitischen Untertönen begleitet war. Von 1956 bis 1968
arbeiten sie wieder illegal in der nun verbotenen KPD. Sie gehören zu den
Gründungsmitgliedern der DKP. Anfang der siebziger Jahre erhält ihre Tochter
Sylvia Berufsverbot. Seit 1989 liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten von
Peter Gingold in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes-Bund der
Antifaschisten (VVN –
BdA) und dem Auschwitz-Komitee in der BRD; er
beteiligt sich an Veranstaltungen und Ausstellungen zum Widerstand von Juden
gegen Besatzung und "Endlösung"
und zahlreichen anderen Aktivitäten gegen Nazis und Auschwitz-Leugner. Er
gehört 1989/90 zu den wenigen expliziten Gegnern der Wiedervereinigung aus
dem VVN-Spektrum. 1999 initiiert er zusammen mit anderen alten jüdischen
Antifaschistinnen und Antifaschisten einen Offenen Brief an die Minister
Fischer und Scharping, in dem sie deren Kriegspropaganda als "zweite
Auschwitz-Lüge" angreifen.
Kunstreich: Welche Rolle hat Deine Herkunft aus einer
jüdischen Familie für Deinen politischen Lebensweg gespielt, welchen Einfluß
hatte sie auf Deine Entscheidung, Kommunist zu werden?
Gingold: Das ist schwer zu beantworten. Mein politisches
Leben begann sehr früh: als ich mit 14 Jahren in die Gewerkschaftsjugend
eintrat. Das war mein erster Schritt zur politischen Organisierung in der
Arbeiterbewegung. Bis dahin war ich sehr religiös erzogen worden, ging immer
mit meinen Eltern in die Synagoge und war selbst sehr gläubig. Ich habe auch
mit 13 Jahren Bar Mizwah gehabt. Das hörte auf, als ich in die
Gewerkschaftsjugend eintrat und so in Berührung mit anderen Ideen gekommen
bin. Dort fing ich richtig an zu lesen. Bis dahin waren meine Kenntnisse in
Geschichte und Literatur sehr begrenzt, weil ich ja nur die Volksschule
besucht hatte. Es war vor allem die Realität, mit der ich als 14jähriger
1930 konfrontiert war, die mich politisch bewußt werden ließ: In der
Endphase der Weimarer Republik gab es viele Arbeitslose, ich hatte selbst
große Schwierigkeiten, eine Lehrstelle zu finden. Mein Vater war
Schneidermeister, ihn hatte die Krise schwer getroffen. In der
Gewerkschaftsjugend bekam ich Literatur zu lesen, die von dieser Realität
handelte: Lewis, Sinclair, London, Plivier. Ich hörte bei Diskussionen zu
und sah mir Filme an, die in unserer Gruppe gezeigt wurden. Obwohl die
Gewerkschaftsjugend eine sozialdemokratische Organisation war, gab es in
unserer Gruppe einen Linken, der marxistische Literatur hatte. Er merkte,
daß ich sehr interessiert war und versorgte mich mit Schulungsheften. So
begann ich, mich von meiner Religiosität abzuwenden. Ein Jahr später war ich
Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands (KJV).
Das ging schnell.
Ja. Da war ich 15. Bei dieser Entscheidung hat mein
Jüdischsein insofern eine gewisse Rolle gespielt, als die Judenhetze der
Nazis zunahm. "Die Juden sind unser Unglück", "sind an allem schuld" usw.
Eines Tages hatte ich meinen Vater gefragt, wieso er als Jude schuld an der
Krise haben soll, wo er doch genauso unter der Arbeitslosigkeit leidet wie
andere auch. Er erklärte mir, was ein Sündenbock ist und wozu die Leute
einen brauchen. Ich war wegen meiner jüdischen Herkunft vielleicht stärker
motiviert, gegen die Nazis, gegen die Aufmärsche der SA, gegen den
Straßenterror etwas zu tun, und die Kommunisten waren die konsequenteste
antifaschistische Kraft. Wobei ich mir einbilde, daß ich den gleichen Weg
auch gegangen wäre, wenn das Jüdischsein in meiner Kindheit nicht so wichtig
gewesen wäre.
Du meinst, wenn du nicht aus einer religiösen Familie
gekommen wärst?
Aber das kann man nicht wissen. Meine Mutter war streng
religiös, sie hat die Vorschriften geachtet. Es gab koscheres und treveres
Geschirr. Die Feiertage wurden eingehalten. Mein Vater hat es nicht so genau
genommen, aber er hat darauf geachtet, das wir regelmäßig in die Synagoge
gehen. Damals lebten wir in Aschaffenburg, wo es nur eine kleine jüdische
Gemeinde gab, es hatte also auch sicherlich mit seinen geschäftlichen
Verbindungen zu tun.
Meine Eltern waren vor dem Ersten Weltkrieg aus Polen
eingewandert. Weil sie keine Papiere hatten, heirateten sie in England. Dort
war es kein Problem, man konnte einfach irgendein Datum angeben. Als Kind
wunderte ich mich, wieso sie am selben Tag geboren waren! Zuerst lebten sie
in Frankfurt/Main, nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurden sie nach
Aschaffenburg zwangsüberwiesen. Dort gab es viel Textilindustrie, und das
kam meinem Vater zugute, der als Konfektionsschneider arbeitete. Wir waren
arm, ich hatte noch fünf Geschwister; deswegen mußte meine Mutter als
Hausiererin dazuverdienen, sie fuhr in die umliegenden Dörfer im Spessart
und verkaufte Textilien und Seife. Oft begleitete ich sie, wenn es schwere
Sachen zu tragen gab.
Meine Eltern waren nie politisch organisiert. Sie hatten
nie die Schule besucht, beide konnten lesen, aber nicht schreiben. Gerade
ihren Namenszug konnten sie schreiben, aber das war sehr mühselig. Sie
konnten deutsch und jiddisch, aber jiddische Zeitungen waren in
Aschaffenburg nicht zu bekommen. Emotional unterstützten sie alles, was von
links kam, ohne selbst engagiert zu sein. Ich hatte politisch von zu Hause
nichts mitbekommen. Aber ich kann mich erinnern, daß wir eine ‘gute Stube’
hatten, in der auf dem großen Eßtisch eine Webdecke lag, auf der an jeder
Ecke das Kaiserpaar eingestickt war. Da war ich noch sehr klein.
Je mehr ich im KJV zu tun hatte, desto stärker wandte ich
mich von religiösen Überzeugungen ab, oder anders: Ich hörte auf, Jude zu
sein, das war für mich zunächst nichts anderes als katholisch oder
evangelisch zu sein. Ich ging auch nicht mehr in die Synagoge.
Was haben deine Eltern dazu gesagt?
Die waren immer noch religiös. Sie haben mir aber nie
Steine in den Weg gelegt oder waren mir böse. Dazu kam auch, daß wir 1929
nach Frankfurt umgezogen sind. In Aschaffenburg war die Gemeinde sehr klein,
und es fiel sofort auf, wenn jemand nicht in die Synagoge kam. In Frankfurt
ging ich zunächst auf die Jüdische Volksschule, wo ich das letzte Schuljahr
absolvierte. Die erste Zeit ging ich immer in die Börneplatz-Synagoge, mein
Vater ging in eine Jeschiwe, ab und zu begleitete ich ihn noch. Meine Eltern
gingen weiter zur Synagoge, bis sie Deutschland verließen. Daß ich nicht
mehr mitkam, spielte keine Rolle. Wichtig war, daß ich eine Lehrstelle
bekommen hatte und 30 Mark Lehrgeld verdiente, die ich zu Hause ablieferte;
ich bekam eine Mark Taschengeld. Alle meine Geschwister fanden ebenfalls
Ausbildungsstellen. Das war damals das wichtigste.
Wie hat man sich in der Gewerkschaftsjugend oder im
KJV mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt? Gab es Aufklärung?
Antisemitismus spielte keine Rolle. Es ging gegen die
Nazis, und das hieß für mich auch immer gegen den Antisemitismus, den ich in
meiner Jugend schon zu spüren bekommen hatte. In meiner Schulklasse in
Aschaffenburg war ich der einzige jüdische Schüler, und im Unterricht und
unter meinen Schulkameraden gab es kaum Antisemitismus. Aber wo wir wohnten,
gab es einen Hausmeister, der seinen Judenhaß deutlich demonstriert hat. Wir
waren ja nicht nur Juden, sondern unsere Eltern waren aus dem Osten
eingewandert! Als wir in unserer Wohnung meine Bar Mizwah feierten, kam, wie
es üblich ist, viel Besuch aus der Gemeinde. Unter den Gästen waren auch
vornehme Damen und Herren, und als sie in die Wohnung kamen, zeigten sie
ihre Handschuhe: Sie waren voller Senf, weil der Hausmeister das
Treppengeländer damit eingeschmiert hatte. Das ist nur ein Beispiel. Er
hatte einen scharfen Hund, vor dem wir als Kinder furchtbare Angst hatten.
Aber sonst, auch beim Spielen auf der Straße, haben wir kaum etwas
mitbekommen.
Welchen Stellenwert hatte die antisemitische Hetze der
Nazis in der antifaschistischen Arbeit?
Es war so, daß gesagt wurde, das ist eine Ablenkung, die
Nazis propagieren Rassenhaß statt Klassenhaß. Es gab keine speziellen
Veranstaltungen gegen den Antisemitismus, aber er hatte einen wichtigen
Stellenwert in der Agitation. Außer mir gab es noch andere jüdische
Jugendliche in meiner Gruppe. Einer von ihnen war Emil Carlebach, den ich
1931 kennenlernte. Wir wurden einmal von der Hitlerjugend eingeladen zu
einer Diskussion. Das war einmalig, ansonsten haben wir uns mit denen nur
geprügelt. Jetzt lud uns der Scharführer ein, und wir gingen mit einer
ganzen Gruppe hin. Der Scharführer eröffnete die Diskussion und sagte: "Wer
zur Diskussion spricht, darf kein Jude sein." Wer sich damals als erstes
meldete, der ungemein schlagfertig war und gut agitieren konnte, war Emil.
Er stellte sich als Norbert vor und legte los. Es war schon komisch, als ich
da saß, aber ich war nicht überrascht darüber, daß sie antijüdisch waren.
Nach der Diskussion verbot die Reichsleitung der HJ solche Zusammenkünfte:
sie lagen argumentativ am Boden.
Wie ging es nach der Machtübergabe an die Nazis
weiter?
Ich war schon stark in den KJV eingebunden. Schon nach
zwei Wochen hatte ich eine Funktion bekommen, Lit-Obmann hieß das, ich mußte
Literatur vertreiben usw. Nach dem 30. Januar 1933 trafen wir uns weiter in
der Gewerkschaftsjugend, im KJV begannen wir, uns illegal zu organisieren.
Aber es ging ja nicht Schlag auf Schlag, sondern sukzessive. Die
Massenverhaftungen setzten nach dem Reichstagsbrand ein. Wir verteilten als
KJV illegale Flugblätter, die wir von Galerien in den Kaufhäusern
hinunterwarfen. Am 1. Mai 1933 trafen wir uns mit der Gewerkschaftsgruppe im
Stadtwald und haben uns selbstverständlich nicht am offiziellen Aufmarsch
beteiligt. Wir waren damals ganz schön leichtsinnig, daß wir uns öfters in
Gruppen trafen.
Wurde in dieser ersten Zeit der Illegalität der
besonderen Gefährdung der jüdischen Genossen Rechnung getragen?
Gar nicht. Die Massenverfolgung der Juden war noch nicht
so absehbar, obwohl es den Boykott-Tag gab. Zuerst ging es gegen die
Kommunisten und andere Hitler-Gegner. Von Dachau hatte ich damals schon
gehört. Aber für meine Eltern war der erste Boykott-Tag gegen die Juden am
1. April ein großer Schock. Ein Onkel von mir war auch schon verhaftet, aber
nach wenigen Tagen wieder freigelassen worden. Es gab eine große
Unsicherheit und Angst unter uns. Dieser Onkel ist gleich nach seiner
Freilassung mit seiner Familie nach Paris emigriert, und nach dem ersten
Boykott-Tag beschlossen meine Eltern ebenfalls, Deutschland zu verlassen.
Sie reisten ganz legal aus, konnten auch einen Teil der Möbel mitnehmen.
Aber alles wurde vorher von Beamten nach verstecktem Geld oder Schmuck
durchsucht, man durfte nicht mehr als zehn Reichsmark ausführen. Ich bin als
einziger geblieben. Meine Mutter hatte auch nach unserem Umzug nach
Frankfurt weiter als Hausiererin in der Spessart-Gegend gearbeitet. Mein
Vater hatte eine kleine Schneiderei in Frankfurt-Bockenheim. Beide hatten
noch zahlreiche Außenstände, weil die Leute nicht bezahlen konnten. Die
wollte ich noch eintreiben, bevor ich auch nach Paris fuhr. Das hat mich
damals sehr gereizt, es war nicht schlimm für mich, Deutschland zu
verlassen, es war mehr ein Abenteuer, auf das ich mich als junger Mensch
gefreut habe. Aber es war auch aufregend, allein zurückzubleiben. Ich wohnte
bei entfernten Verwandten in Aschaffenburg und bin unter der Woche über die
Dörfer gefahren, um das Geld reinzuholen, das ich zum Leben brauchte. In der
Zwischenzeit war ich arbeitslos geworden, meine Lehrzeit war Anfang Mai 1933
zu Ende gegangen. Das ging so, bis ich eines Tages im Mai, als ich mit dem
Fahrrad nach Aschaffenburg unterwegs war – die Eisenbahn war zu teuer –, in
der Nähe von Offenbach in eine SA-Razzia geriet. Ich wurde gefilzt, und man
fand bei mir nichts bis auf meinen polnischen Paß, den ich hatte, weil meine
Eltern polnische Staatsbürger waren. Deswegen wurde ich festgenommen und ins
Polizeigefängnis eingeliefert. Wahrscheinlich hatten die SA-Männer den
ganzen Tag da gestanden und brauchten einen ‘Erfolg’, und ich war der
einzige, bei dem sie einen entsprechenden Vorwand fanden.
Da schmorte ich dann im Polizeigefängnis und wurde auch
vernommen, aber nicht gefoltert oder mißhandelt. Die Schließer waren noch
alte Sozialdemokraten. Einer nach dem anderen wurde hier eingeliefert, alles
Kommunisten, die dann in das KZ Osthofen überstellt wurden. Bei mir hatten
sie nur ein paar Gewerkschaftsunterlagen gefunden, aber keine
antifaschistischen Flugblätter oder anderes Material. Eines Tages wurde ich
entlassen mit der Auflage, in wenigen Tagen das Land zu verlassen. Dann habe
ich, was ich noch hatte, zusammengerafft und bin ins Saarland gefahren. Ich
hatte eine Adresse bekommen, bei der ich mich in Saarbrücken melden sollte,
ein Schreibwaren- und Tabakgeschäft mitten in der Stadt. Dort wurde ich von
einer jungen Frau empfangen, die mich dann über die französische Grenze
schleuste. Ich habe erst später erfahren, wer sie war: die bekannte
Sozialdemokratin Johanna Kirchner, die im Frankfurter Stadtrat gesessen
hatte. Ihre Spezialität war die Grenzarbeit. Später machte sie das gleiche
von der anderen Seite und wurde dann, während der Besatzung, in Frankreich
verhaftet und später ermordet. Ein halbes Jahrhundert später wurden alle
Frankfurter Bürgerinnen und Bürger, die sich am Widerstand gegen die Nazis
beteiligten, mit der Johanna-Kirchner-Medaille von der Stadt Frankfurt
geehrt, darunter auch meine Frau Etty und ich.
Nun war ich in Frankreich, hatte kein Geld und sprach kein
Wort Französisch, aber immerhin wußte ich, wohin ich gehen konnte – im
Unterschied zu vielen anderen, die geflohen sind, hatte ich die Adresse
meiner Eltern.
In welcher Verfassung waren Deine Eltern, als du sie
wiedersahst?
Mir fiel auf, daß die religiösen Dinge sehr in den
Hintergrund traten. Sie waren nie wieder Mitglied einer Gemeinde. Mal sind
sie in die Synagoge gegangen, aber nur sehr selten. Die Hauptsorge war das
Überleben. Wir hatten zunächst keine Aufenthaltserlaubnis und also auch
keine Arbeitserlaubnis – und wir waren ausgewiesen worden. Es war eine
schlimme Zeit, mein Vater trug sich mit Selbstmordgedanken, weil er so
verzweifelt war. Wir hatten nur eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung
bekommen, die wir alle zwei Monate verlängern lassen mußten. Dann ging
unsere achtköpfige Familie zur Préfecture de la Police, wo wir um die
Verlängerung baten. Und jedesmal geschah ein Wunder, und unsere
Aufenthaltsgenehmigungen wurden um zwei Monate verlängert. Wir standen da
mit Zittern und Bangen: Was, wenn sie nein sagen? Das ging zwei Jahre so,
von 1933 bis 1935. Wir arbeiteten selbstverständlich schwarz, von irgendwas
mußten wir ja leben. Mein Bruder und ich hatten großes Glück, wir kamen beim
"Pariser Tageblatt" unter, einer antifaschistischen, liberalen Exil-Zeitung.
Ich saß jeden Tag im Büro des Chefredakteurs Georg Bernhard, einem Klassiker
des Journalismus, und sah ihm zu, wie er die Leitartikel schrieb, die ich
dann immer in letzter Minute mit dem Fahrrad zur Druckerei brachte.
Ansonsten erledigte ich technische Arbeiten in der Redaktion.
Wie hast Du Kontakt zum Jugendverband hergestellt?
Man hatte mir gesagt, wenn du nach Paris kommst, geh’ ins
Büro des Weltfriedenskongresses der Jugend; dort würde ich einen Rothaarigen
treffen, der mich mit Genossen zusammenbringt. Ich bin in dieses Büro ‘rein,
habe als Jungkommunist mit der Faust und ‘Rot Front’ gegrüßt. Es blieb ganz
still. Dann kam ein Rothaariger auf mich zu und flüsterte: "Das sind hier
nicht alles Genossen. Hier sagt man nicht ‘Rot Front’." Das war mein erster
Kontakt. Es war der Genosse Roman Rubinstein, der 1999 verstorben ist, und
er sagte mir, daß es eine Gruppe des KJV gibt und lud mich zum Treffen ein.
1936 gründeten wir zusammen mit anderen linken Jugendgruppen die Freie
Deutsche Jugend (FDJ). Da war auch Willy Brandt dabei.
Wie habt ihr die Situation in Deutschland in dieser
KJV-Gruppe diskutiert?
Zunächst einmal, wir haben sehr viel diskutiert. Es war
eine offene, lebendige Gruppe und immer haben wir diskutiert, auf Treffen,
auf Veranstaltungen, auf Wochenendfahrten. Es war alles mit Schulung
verbunden. Dazu standen bekannte Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller
aus der deutschen Emigration zur Verfügung, wie Hermann Duncker, Anna
Seghers (über Kunstgeschichte), ihr Lebensgefährte Johann Schmidt (über
politische Ökonomie), Anton Ackermann, Herbert Wehner, den wir damals nur
unter dem Namen Kurt Funke kannten, und andere. Desöfteren war auch Bert
Brecht in unserem armseligen engen Raum, den wir im Hinterhaus der Rue
Richer 23, gegenüber des Varietés "Folie Berger", gemietet hatten. Dort
probte er seine beiden Pariser Stücke, "Die Gewehre der Frau Carrar" und
"Furcht und Elend des Dritten Reiches".
Jeden Montag trafen sich in einem Café auf dem Boulevard
Saint Germain die emigrierten Intellektuellen, und wir gingen immer hin, nur
um ihren Diskussionen zuzuhören. Wir haben uns so eine politische Heimat
geschaffen und in dieser Zeit auch wichtige politische Aufgaben übernommen,
zum Beispiel haben wir während des Spanienkrieges, als es möglich war,
Radiosendungen nach Deutschland auszustrahlen, die Jugendsendungen gemeinsam
erarbeitet, vor allem Stephan Hermlin; wir haben geschrieben, Hermann Axen
hat viele Vorträge gehalten.
Wir haben zu Hause viele von denen durchgefüttert.
Materiell ging es uns etwas besser, seit wir eine Arbeitserlaubnis hatten.
Meine Mutter konnte sehr gut kochen, und in Frankreich konntest du in der
Wohnung eine Art Restaurant einrichten. Wir mieteten eine entsprechend große
Wohnung und haben mit guter, jüdischer Kost geworben. Das war kein
Restaurant-Essen, aber es war billiger und sehr gut, und kaum hatte sich das
herumgesprochen, standen die Leute Schlange vor der Tür. Mein Vater und
meine beiden Schwestern haben geholfen. So konnten wir die Genossen immer
zum Essen einladen.
Wir waren sehr gut informiert über das, was sich in
Deutschland abspielt. Es gab direkte Kontakte nach Deutschland, einige von
uns wurden sogar mit Aufträgen hingeschickt, und es kamen ja immer noch
Menschen illegal von Deutschland nach Frankreich. Unsere spezielle Aufgabe
bestand darin, die französische Öffentlichkeit auf die Vorgänge in
Deutschland aufmerksam zu machen. Wir erstellten oder übersetzten Broschüren
auf Französisch. Es gab keine Kundgebung oder Demonstration der
französischen Linken und Gewerkschaften, an der wir nicht teilgenommen und
Unterschriften gesammelt hätten, zum 1. Mai, zum 14. Juli usw., vor allem
während des Reichstagsbrandprozesses oder nach der ersten Hinrichtung, der
von Edgar André, dessen Ehefrau bei uns war – es ging um die Solidarität mit
den Verfolgten. Es war eine Aktivität, die uns prägte, die uns formierte.
Wir waren gefestigt, stabil. – Es war kein Zufall, daß wir nach der
Besetzung Frankreichs 1940 zu den ersten illegalen Gruppen der Résistance
gehörten. Wir fingen sofort an, als wir uns gefunden hatten. Das waren
zuerst Roman Rubinstein, meine Ehefrau Etty sowie Sali Grünvogel, ich kam
etwas später dazu. Wir hatten ja auch gleich Kontakt zu den Franzosen.
Der Antisemitismus war in unseren Broschüren der dreißiger
Jahre – aus heutiger Sicht – unterbelichtet. Aber, im Gegensatz zu vielen
anderen, haben die Kommunisten überhaupt etwas gesagt, unter anderem nach
dem Novemberpogrom von 1938. Aber angesichts des Umfanges der
Judenverfolgung, war es nicht angemessen. Dieser Kritik stimme ich zu.
War das Ausmaß der Judenverfolgung in Paris nicht
unmittelbar augenfällig, allein an der Vielzahl der Juden, die aus
Deutschland dorthin geflohen waren? Und es gab das Fanal von Herschel
Grynszpan, der Anfang November 1938 einen deutschen Diplomaten erschoß.
Wir waren in unserer Gruppe mehrheitlich Kommunisten
jüdischer Herkunft, und unsere Reaktion auf das Attentat war großes
Erschrecken. Wir fürchteten die Reaktion, wir wußten, daß die Leidtragenden
die sein würden, die in Deutschland geblieben waren. Wir hatten auch zuvor
schon die Nürnberger Gesetze und die zahlreichen anderen Maßnahmen durchaus
wahrgenommen, aber im Vordergrund standen die Kriegsgefahr und der
Bürgerkrieg in Spanien, der Terror gegen die Arbeiterbewegung und die
Antifaschisten. Im Zentrum unserer Argumentation stand die Parole "Hitler
treibt zum Krieg" – so hieß auch ein Buch, das in Paris herausgegeben worden
war. Aber das war auch schon vor 1933 die Parole der Kommunisten. Dann kamen
Spanien und die Nichtinterventionspolitik der späteren Alliierten, das
Münchener Abkommen und der Anschluß Österreichs – jedem war klar, daß das
nicht friedlich enden würde. Aber unsere Hoffnung die ganzen dreißiger Jahre
hindurch bestand darin, daß Hitler noch an sozialen inneren Widersprüchen
scheitern würde.
Wenn heute ein Kriegsbefürworter wie Cohn-Bendit sagt, der
Kosovo-Krieg ist ein gerechter Krieg, weil er so alternativlos wie der Krieg
gegen Nazideutschland sei, dann antworte ich: Unsere Losung damals lautete
"Hitler muß am Frieden ersticken", wir wollten ein kollektives
Sicherheitssystem, das deutsche Ansprüche neutralisiert. Gerade weil
Nazideutschland auch ökonomisch alles auf Krieg setzte, hofften wir auf
einen ökonomischen Kollaps, wenn der Krieg ausbliebe.
Wir haben nicht gesehen, daß der Judenhaß zunehmend zu der
ideologischen Klammer des Nazi-Faschismus wurde, ebenso wie die Massenbasis
des Faschismus von uns weit unterschätzt wurde. Sonst hätte es vielleicht
eine andere Taktik der illegalen Arbeit gegeben. Wir haben viel Material
über die soziale Lage veröffentlicht, über die Liquidierung der Grundrechte,
die Senkung der Löhne und die Steigerung der Arbeitsintensität, über die
Probleme der Jugend usw.
Letzteres war ja nicht falsch, diese Maßnahmen
produzierten jedoch keine "sozialen
Konflikte".
Eher das Gegenteil, muß ich heute sagen.
Es folgte, was in Frankreich
‘drôle de guerre’ genannt wird, die
Zwischenphase, in welcher der Krieg erklärt, aber noch nicht ausgebrochen
war.
Wir wurden interniert. Es gab zwei Phasen der
Internierung. Alle männlichen Deutschen, die in Frankreich lebten, waren
gleich zu Beginn des Krieges interniert worden. Ohne Unterschied, gleich, ob
es sich um einen Flüchtling oder einen Nazideutschen oder Geschäftsmann
handelte. Bekannte führende deutsche Kommunisten, darunter auch Frauen,
waren bereits vorher verhaftet worden. Von der Internierung waren zunächst
die Deutschen befreit, die ausgebürgert worden und nun Staatenlose waren. Im
Mai 1940, als der "drollige Krieg" zuende war und das große Erschrecken über
die Invasion einsetzte, wurden auch diese interniert, darunter auch ich.
Kurz zuvor hatte ich noch Etty geheiratet. Nach einer kurzen Zeit in
Angoulême wurden wir zu "Prestateurs" – Arbeitssoldaten – erklärt und in die
Nähe von Nîmes ans Mittelmeer verlegt. Wir sollten an die Front nach Norden,
dort sollten wir Schützengräben ausheben usw. Aber dazu kam es gar nicht
mehr.
Nach der Kapitulation ließ ich mich ganz normal
demobilisieren und ging zurück nach Paris, im Oktober 1940. Dort traf ich
meine Genossen wieder. In der ersten Phase der Besetzung Frankreichs
normalisierte sich das Leben zunächst schnell. Obwohl es sofort antijüdische
Maßnahmen gab – Juden wurden aus der Administration entlassen, "Jud Süß"
wurde in den Kinos gezeigt usw. –, war die Mehrheit der jüdischen
Bevölkerung sich der drohenden Gefahr nicht bewußt. Das war noch vor der
Einführung des Sterns. Daß der Antisemitismus zentral für die Politik des
"Dritten Reiches" war, wußten wir selbstverständlich alle, aber worauf sie
zielten: auf die Vernichtung aller Juden, das konnte sich niemand
vorstellen. Irgendwie darüber hinwegkommen, irgendwie überleben – das stand
im Vordergrund, auch weil es das zu allen Zeiten gegeben hat.
Als sie die ersten geholt haben, Ende 1941, einige tausend
jüdische Männer, glaubte man, sie wollten nur die Männer. Im Sommer 1942
fand die große "raffle" statt, und viele jüdische Männer versteckten sich –
aber sie wollten nicht nur die Männer, sie wollten alle: sie nahmen die
ganzen Familien mit.
Schon im Juli 1940 hatten die Genossen begonnen, kleine
Klebezettel gegen die deutschen Besatzer zu verteilen. Das war der Anfang
der "Travail allemand" oder "Travail anti-allemande", kurz TA: Unsere
Aufgabe sollte später darin bestehen, deutsche Soldaten zu agitieren, den
Widerstand zu unterstützen und so Informationen zu beschaffen. Mein Chef saß
in Toulouse, und ich kann mich an ein Gespräch noch während der Internierung
erinnern – wir hatten ja Ausgang –, ich sah nach den ganzen deutschen Siegen
kein Licht mehr am Ende des Tunnels, und er sagte mir: Wir werden noch
erleben, daß es Volksaufstände gibt. Mir kam es vor, als würde er am
Meeresufer stehen und den Wogen Einhalt gebieten wollen.
Hatte vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni
1941 der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt einen direkten Einfluß auf
eure Widerstandstätigkeit?
Einen Tag nach dem Nichtangriffspakt kam Anton Ackermann
vom illegalen Politbüro der Partei in unsere Gruppe und analysierte die
Situation. Es hat keine Alternative zu diesem Vertrag gegeben, das sehe ich
heute noch so. Aus unserer Gruppe war es einzig Stephan Hermlin, der fast
daran verzweifelte.
Aber daß die Kommunisten sich erst nach dem Überfall auf
die Sowjetunion am Widerstand beteiligt hätten – das stimmt nicht! Überhaupt
nicht! Es gab die völlig unbegründete Hoffnung, die Nazis könnten in ihrem
Umgang mit den Kommunisten mit Rücksicht auf die SU etwas nachlässiger
werden – eine gefährliche Illusion. Ein anderer Ausdruck davon war, daß die
Spitze der Pariser Sektion der KP Frankreichs bei der deutschen Kommandantur
anfragte, ob sie denn ihre Zeitung herausbringen könnten, was dann aber von
der illegalen Führung der KPF scharf kritisiert wurde.
Die Nazis machten mit Erschießungen und Verhaftungen von
Kommunisten schon im Oktober 1940 klar, daß es genauso wie in Deutschland
werden sollte. Diese Verunsicherungen hatten jedoch keinen Einfluß auf den
Aufbau unserer Organisation, überhaupt für unsere Tätigkeit: Wir waren
illegal, wir haben alles riskiert.
Aber der bewaffnete Widerstand begann von
kommunistischer Seite doch erst nach dem Überfall auf die SU.
Der bewaffnete Widerstand begann schon Anfang 1941. Bis
dahin gab es nur Waffenverstecke. Die Waffen, die von den zurückströmenden
französischen Soldaten liegen gelassen worden waren, wurden nach dem Aufruf
"Wir können sie eines Tages gebrauchen" eingesammelt. Das Fanal war die
erste Aktion des "bataillon de jeunesse": ein Kommando, geführt von dem
legendären Kämpfer Colonel Fabien, erschoß einen hochrangigen deutschen
Marineoffizier in einer Metrostation. Sie heißt heute noch "Colonel Fabien".
Gegen Ende des Krieges war ich in seiner Kompanie. Der bewaffnete Widerstand
gewann eine andere Qualität, als ganz Frankreich besetzt wurde und der
"maquis" entstand.
Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion gab es den
ersten Aufruf in Radio Moskau, in dem von der Vernichtung der sowjetischen
Juden die Rede war. Das Jüdisch-Antifaschistische Komitee wurde gegründet,
der Aufruf international verbreitet.
Soweit ich mich erinnere, haben wir es da noch nicht
richtig als Vernichtung wahrgenommen. Was das wirklich bedeutet, Ausrottung,
Vernichtung, das haben wir erst später begriffen. Auch wir glaubten den
Berichten über die deutschen Verbrechen nicht immer, hielten sie manchmal
für übertrieben. Vorher kam noch die Kennzeichnungspflicht, dann durften
Juden nur noch einen bestimmten Waggon in der Metro nutzen.
Das änderte sich erst mit den Massendeportationen, das war
1942. Während der großen Razzia war ich in Paris, illegal, ich hatte falsche
Papiere, ein illegales Quartier, ein bestimmtes Gebiet, in dem ich
eingesetzt war. Wir konnten meine Eltern und die Kinder noch in einem
Versteck in Sicherheit bringen, ihnen ist nichts passiert; Etty und ich
gingen in den Untergrund und schlossen uns der Résistance an.
Dummerweise hatten sich ja fast alle Juden registrieren
lassen und nun ein "J" in der Kennkarte. Also sagte ich zu meinem Bruder, du
nimmst meine echte Kennkarte, die ich ja nicht brauchte. Ich hatte mich
nicht registrieren lassen. Und ich bot ihm mein Quartier an. Ich schlief in
einer Pension. Mein Bruder bezieht dieses Quartier und wird morgens um fünf
herausgeholt. Er wird als Peter Gingold, wie es auf seiner Kennkarte stand,
verhaftet. Später erfuhr ich, daß dieses Quartier von einem Juden angemietet
worden war, und den wollten sie holen. Er war ein Jahr älter als ich. Er
kehrte aus Auschwitz nicht zurück, wir haben nach dem Krieg keine Spur von
ihm finden können. So habe ich überlebt, und er wurde ermordet.
Nach der "raffle" erfuhren wir zunächst, daß die
Verhafteten nach Drancy gebracht worden waren und später weiter nach Osten
verlegt werden sollten. Ich weiß nicht, wann ich das Wort "Auschwitz" zum
ersten Mal hörte, es muß später gewesen sein. Wir hörten ja jeden Tag Radio,
man kroch förmlich mit dem Kopf ins Radio, und mit viel Glück hörten wir
dann BBC oder Radio Moskau. Aber auch da war immer noch nicht genau klar,
worum es ging – es hieß, sie sollten arbeiten. Das andere sickerte erst
allmählich durch.
Wir bauten in dieser Zeit die TA aus, es war uns gelungen,
einige deutsche Soldaten und Offiziere zu gewinnen. Die "Blitzkriege" waren
vorbei, der Nimbus der unbesiegbaren Wehrmacht angekratzt, der Glaube an den
"Endsieg" schwand zusehends. Die deutschen Soldaten hatten Angst, nach dem
Osten zu kommen, wollten lieber in Frankreich bleiben: die Voraussetzungen
unserer Tätigkeit verbesserten sich. Stalingrad war eine Wende, und unsere
Frauen, die Agitation betrieben, konnten ein kleines Netz unter den
Deutschen aufbauen – insgesamt zwischen hundert und hundertfünfzig
Angehörige der Wehrmacht. Ritter, der Beauftragte von Sauckel für die
"service travail obligatoire", die Zwangsarbeit im Reich, wurde mit einer
Wehrmachtspistole erschossen, die ein Offizier, der mit uns
zusammenarbeitete, uns geliehen hatte. Hinterher hat er sie wiederbekommen.
Die Genossen unserer Gruppe bekamen verschiedene Aufgaben.
Ich mußte in Ostfrankreich – Dijon, Troyes, Châlon-sur-Marne usw. –
umherreisen, in Zusammenarbeit mit den Partisanengruppen. In Reimes konnte
ich Flugblätter auf deutsch drucken lassen.
Nach 1945 wurde immer mehr bekannt über das Ausmaß der
Verbrechen.
Wir wußten ja schon einiges. Wir haben die Gestapo in
Paris ja erlebt, wir waren mitten drin. Wir haben die ganzen Jahre etwas
erfahren. Ich hatte immer noch gehofft, daß meine Schwester und mein Bruder
zurückkommen. Ich kann mich noch an ein kleines Treffen im Rahmen der gerade
gegründeten VVN in Frankfurt/Main erinnern, auf dem ein
Auschwitz-Überlebender sagte: "Das wird mir niemand glauben, was ich gesehen
habe." Der war in einer solchen Verfassung, deshalb kann ich mich an ihn
erinnern – ich war erschüttert. Ich vermute, es ging den meisten
Überlebenden so.
Warum seid ihr 1945 zurückgekehrt?
Etty wäre lieber in Paris geblieben. Ich werde das oft
gefragt. Ich war einer der wenigen Juden, die tatsächlich zurückkehrten, die
also vor 1933 schon hier gelebt hatten, und unter denen war ich einer der
ersten. Ich war schon im Juni 1945 in Berlin, und im Oktober bin ich nach
Frankfurt gezogen. Ich habe nur eine Antwort auf die Frage: Mein Vater
sagte, er wird keinen Fuß mehr in dieses Land setzen, das er "bahaime"-Land
nannte. "bahaime" ist das jiddische Wort für Rindviecher. Meine Schwestern
und mein Bruder blieben auch in Paris. Ich bin nur aus Parteidisziplin
hierher gekommen. Um hier zu leben oder einfach, um Geld zu verdienen, wäre
ich niemals wieder gekommen. Aber man hatte uns gesagt, wir sollten gleich
nach der Befreiung zurückkehren, um die Gemeinsamkeit aller deutschen
Hitler-Gegner zu erhalten und um ein anderes, ein
antifaschistisch-demokratisches Deutschland aufzubauen.
Warum bist Du nicht in Berlin, in der späteren DDR
geblieben?
Obwohl ich nie daran gedacht habe, nach Ostdeutschland zu
gehen, war die DDR doch immer meine politische Heimat, mein Rückzugsgebiet.
Als ich in Berlin war, legten mir die Genossen, vor allem Hermann Axen und
Erich Honecker, nahe, zu bleiben. Aber Frankfurt war einfach näher an Paris.
Das war der eigentliche Hintergrund. Wir sind dann als eine kleine Gruppe
nach Westen aufgebrochen, und uns wurde mit auf den Weg gegeben, daß wir
große Schwierigkeiten haben werden, denn der Imperialismus besetze jetzt den
Westen.
1948 begann die Kampagne gegen die
"West-Emigranten" unter den
Kommunisten. Warst Du davon betroffen?
Nein, aber enge Genossen und Freunde von uns. Es war eine
schlimme Atmosphäre; es war so, daß jeder "West-Emigrant" von vornherein
verdächtig war. Wir wurden auch über mehrere Ecken von Noel Field versorgt.
Die meisten wurden von ihren Funktionen entbunden, einige wurden in die DDR
bestellt und verschwanden. In dieser Situation dachte ich mir, womöglich
bist du objektiv in ein Netz geraten, wo du nichts dazu kannst. Das war
schon in der Atmosphäre des Kalten Krieges, und ich fand es einsichtig, daß
die Partei sich absichern mußte. Ich habe das nicht als antisemitisch
wahrgenommen. Das war es auch nicht, da es nur um die Kontakte dieser
Emigranten ging. Ich habe aber damals wie heute nicht geglaubt, daß Field
ein Agent war; zahlreiche Emigranten hatten aber für den englischen oder
amerikanischen Geheimdienst gearbeitet – darunter waren sowohl Juden als
auch Nichtjuden.
Ich will damit nicht sagen, daß es keine Spur von
Antisemitismus gegeben hat: der Ärzteprozeß, die Ausschaltung des
Jüdisch-Antifaschistischen Komitees und die Ermordung seiner Mitglieder. In
der DDR stand das nie im Vordergrund, zahlreiche Juden waren Mitglied des ZK
oder des Politbüros. Da gab es einen Unterschied.
Jeder, der zur Linken kommt, bringt seine bürgerlichen
Eierschalen mit, also der eine oder andere auch seinen Antisemitismus. Aber
der wesentliche Unterschied war doch, daß dieser Antisemitismus für die
Linke nicht typisch war, im Gegenteil: es gab einen Kampf gegen Rassismus
und Antisemitismus. Vielleicht sehr stark unterbelichtet, vielleicht nicht
so sehr im Mittelpunkt, wie es hätte sein müssen. Es stimmt aber auch nicht,
was immer behauptet wird, daß es gar keine Auseinandersetzung mit der
Vernichtung gegeben hätte – gerade in der frühen Zeit der DDR sind einige
wichtige Bücher und Filme entstanden, in denen es genau darum geht. Ich
finde diesen Vorwurf, wie er jetzt formuliert wird, einfach nur schändlich.
Ende der fünfziger Jahre hat es eine antisemitische
Welle gegeben, Synagogen wurden beschmiert, Friedhöfe verwüstet. Schon
damals, und vor wenigen Jahren wieder, wurde kolportiert, es habe sich um
eine Inszenierung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gehandelt.
Für mich war das keine Überraschung, ich habe das genauso
aufgenommen wie alles andere in dieser Zeit. Ich arbeitete in der illegalen
KPD. Ich wußte, daß der Antisemitismus nie verschwunden war, das spürten wir
auch mehr oder weniger. Wir hatten zu unseren Nachbarn immer ein gutes
Verhältnis, sie wußten, daß wir Juden sind, so gehörten wir einfach nicht
richtig dazu. Sofort als wir zurückkamen, spürten wir diese Distanz, nie hat
uns jemand gefragt, wie wir den Faschismus überlebt hatten. Aber uns
erzählten sie, wie sie gelitten haben usw. Eines Tages kamen unsere Kinder
und fragten uns: "Was ist ein Jude?" Sie waren von Spielkameraden beschimpft
worden und wollten nun wissen, was das Wort bedeutet. Diese Atmosphäre hat
sich erst mit dem Generationswechsel verändert.
Etty und Dir wurde die deutsche Staatsbürgerschaft
jahrzehntelang verweigert, weil ihr gegen Nazideutschland gekämpft habt;
eure Tochter erhält 1972 als Kommunistin Berufsverbot. Hatte sich wirklich
etwas verändert?
Ehrlich gesagt, ich habe das als Normalität in diesem Land
gesehen. Ich war von vornherein ohne Illusionen hierhergekommen, ich wußte,
wer die Macht hat, welche Generation noch am Ruder war. Wenn es anders
gekommen wäre, hätte ich mich gewundert. Es war nicht so, daß wir ständig
erschrocken und empört waren – so habe ich mich zwar geäußert, aber
innerlich war ich nie empört. Das gehört zur Normalität, das ist dieses
Land. Du mußt wissen, in welchem Land du lebst und wofür und wogegen du
kämpfst. Was soll ich mich da aufregen? Genau dasselbe beim Attentat von
Düsseldorf am 27. Juli 2000 – diese gespielte Überraschung, dabei ist es
doch zu erwarten gewesen, daß früher oder später so etwas geschieht.
Ich hatte 1930 aufgehört, Jude zu sein, 1933 hat mich der
Nazi-Faschismus wieder zu einem Juden gemacht, "blutsmäßig". Und so gehöre
ich dazu: Ich habe nur mit Glück überlebt, ich bin Auschwitz entronnen. Wir
waren alle zum Tode verurteilt. Heute verbindet sich alles mit dem jüdischen
Schicksal, das hat nichts mit Religiosität zu tun, aber ich gehöre zu ihnen.
Insofern spielt Jüdischsein ständig und immer eine Rolle, ich kann mich
nicht davon lösen. Wir sind gleich 1945 hier Mitglieder der jüdischen
Gemeinde geworden, vor allem auch deshalb, weil es Lebensmittelpakete von
der Gemeinde gab. Anfang der sechziger Jahre sind wir ausgetreten, weil wir
uns gesagt haben, das ist ein religiöser Verband, aber wir sind nicht
religiös. Im Nachhinein sehe ich das als Fehler an.
Hat Dich das Ende der DDR überrascht?
Das kampflose Ende, ja. Aber es stimmt wahrscheinlich, daß
die Leute vor allem D-Mark und Bananen wollten, und so wie sich viele nach
1945 anpaßten, vollzogen sie auch 1990 eine Wende. Es wird gern vergessen,
daß die Bevölkerung im Osten unmittelbar nach der Befreiung genau so war wie
die im Westen.
Ist es vor diesem Hintergrund nicht fast wie ein
religiöses Bekenntnis, sich heute noch Kommunist zu nennen?
Ich wurde beim Interview für die "Shoah-Foundation" von
Steven Spielberg auch gefragt: "Wie konnten Sie nur Kommunist werden?" Und
ich antwortete: Wenn Sie sich die Welt, wie sie ist, ansehen, was alles
passiert, kann ich Sie nur zurückfragen: Wie kann man da nicht Kommunist
sein? Es gibt nichts anderes: Barbarei oder Kommunismus, was soll ich sonst
auf eine solche Frage antworten?
Die ganzen Ex-Kommunisten sind für mich wirklich ein
Phänomen. Ich kenne viele, die aus der DKP ausgetreten, aber Kommunisten
oder Linke geblieben sind – da hat es keinen Bruch gegeben. Aber die ehemals
überzeugten Kommunisten, die heute von einer "Jugendsünde" reden – ich kann
das nicht nachvollziehen, wie man aufhören kann. Es geht nicht um die
Parteimitgliedschaft, sondern darum, etwas für die ganze Menschheit zu
wollen. Niemand kann sagen, wie das gehen kann, es gibt nur die Gewißheit,
das nichts so bleibt, wie es ist. Die Dinge ändern sich, und wenn nur welche
da sind, die noch etwas wissen, wird die Idee zur materiellen Gewalt. Meine
wichtigste Lebenserfahrung ist die verzweifelte Situation 1940/41 – über die
wir sprachen –, in der ich dachte, der Genosse will den Meereswogen Einhalt
gebieten, weil es in der Wirklichkeit keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, daß
die Deutschen irgendwann verlieren könnten; aber der Tag der Befreiung kam
doch.
Das
Gespräch wurde am 1. August 2000 in Frankfurt/Main geführt.
Es erschien in:
Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.): Antisemitismus – die
deutsche Normalität.
Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns
ça ira-Verlag 2001.
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