Ausgebeutet und vergast:
Das Schicksal der griechischen Juden unter deutscher
Herrschaft 1941-1944
ersch. in der "jungen Welt", 11.09.2000, von Martin Seckendorf
Griechische und deutsche Medien berichten über ein
Schiff, das am Meeresboden in der Ägäis vor der Südküste der Peloponnes
liegt. Taucher wollen ein Wrack geortet haben. Das Medieninteresse entzündet
sich an der vermuteten Ladung. An Bord des gesunkenen Schiffes könnte sich
der "Schatz von Thessaloniki" befinden, den die Deutschen den Juden der
Stadt 1943 abgepresst haben, bevor sie sie nach Auschwitz in die Gaskammern
deportierten.
Hauptverantwortlich für die Ghettoisierung und Enteignung der Juden in der
deutschen Besatzungszone "Saloniki- Ägäis" war Max Merten, ein
Wehrmachtsbeamter im Range eines Kriegsverwaltungsrates. Er soll die
Verladung des Schatzes auf das Schiff und dessen Versenkung veranlasst
haben, weil er den Schatz nach dem Krieg selber heben und sich aneignen
wollte.
Abb.
Deutsche Soldaten auf der Akropolis, Photographie v. Gerhard Gronefeld,
Athen, 13. Mai 1941, DHM, Berlin
Das Wrack im Mittelmeer ruft das Schicksal der griechischen Juden unter
deutscher Besatzung in Erinnerung. Damals sind 83 Prozent der jüdischen
Vorkriegsbevölkerung Griechenlands umgebracht worden. Die 2.000 Jahre alte
jüdische Gemeinde in der oft als "Klein-Jerusalem" bezeichneten Stadt
Thessaloniki wurde fast vollständig ausgelöscht.
Sonderkommando Rosenberg
Mit der in Griechenland am 6. April 1941 einfallenden 12. deutschen
Armee marschierte auch eine Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und des
Sicherheitsdienstes ein. Sie sollte mit logistischer Unterstützung der
Wehrmacht "Terroristen, Kommunisten, Juden und andere Reichsfeinde"
bekämpfen. Nachdem sich im Juni 1941 die Deutschen in ihre in Absprache mit
dem faschistischen Italien festgelegten Besatzungszonen (nämlich
"Saloniki-Ägäis", Athen-Piräus und Westkreta) zurückgezogen hatten,
konzentrierte sich die Verfolgung der Juden auf die sogenannte
Saloniki-Zone. In der italienischen Zone blieben die Juden zunächst
weitgehend unbehelligt - bis zur Kapitulation Italiens im September 1943.
Ein
Sonderkommando des Chefideologen der Nazis, Alfred Rosenberg, war der 12.
Armee angegliedert. Für "Exekutivmaßnahmen" stand dem Sonderkommando
Wehrmachtspersonal aus der Geheimen Feldpolizei (GFP) und der
Militärverwaltung zur Verfügung. Archive, Bibliotheken, Zeitungsredaktionen,
Kirchenämter, Behörden, Bankschließfächer, Krankenhäuser, Wohn-, Geschäfts-
und religiöse Gemeinschaftseinrichtungen wurden durchsucht und brutale
polizeiliche Verhöre durchgeführt. Das Kommando hat historisch wertvolle
Dokumente, Kulturgüter und lithurgische Gegenstände beschlagnahmt und nach
Deutschland transportiert, darunter 100.000 Bücher aus den jüdischen
Bibliotheken in Thessaloniki. Ziel dieser Aktionen war die Gewinnung von
Argumenten für die antisemitische Propaganda und die Sammlung von
statistischem Material, von Namen, Adressen, Arbeitsstellen, Eigentums- und
Vermögensverhältnissen, Angaben, die für die von Rosenberg vorbereitete
"rationelle" Art des Völkermords, für Hitlers "Endlösung der Judenfrage",
von Bedeutung waren.
Im
Sommer 1942 verschärfte die Wehrmacht den Druck auf die Juden Thessalonikis.
Die Militärverwaltung ordnete die Zwangsarbeitspflicht für Juden an. Unter
unmenschlichen Bedingungen wurden die Arbeiter in der Erzförderung, u.a . in
den vom Krupp-Konzern in Essen für die deutsche Kriegswirtschaft
ausgebeuteten Chromerzgruben, sowie im Straßen- und Flugplatzbau eingesetzt.
Die Aktion trug alle Merkmale der "Vernichtung durch Arbeit".
Dieses "Prinzip" bei der Ausmerzung ethnischer oder politischer "Feinde"
wandte das Nazi-Reich insbesondere ab Herbst 1941 angesichts der hohen
Verluste der Deutschen vor Moskau an. Es beinhaltete, die Arbeitskraft der
Todeskandidaten vor der Vernichtung möglichst vollständig zu verwerten. Dazu
hatte der Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, SS-
Obergruppenführer Pohl, befohlen, der Einsatz müsse "im wahren Sinn des
Wortes erschöpfend sein, um ein Höchstmaß an Leistung zu erreichen". An der
Ausführung dieses Befehls waren im Gebiet Saloniki-Ägäis in kurzer Zeit über
vierhundert jüdische Zwangsarbeiter gestorben.
Aus erschöpften, todkranken Arbeitern war keine Leistung mehr herauszuholen.
Um aus dieser "Angelegenheit" dennoch Gewinn schöpfen zu können, verfiel
Kriegsverwaltungsrat Merten auf den "Dreh", die jüdische Gemeinde für die
Auslösung aus der todbringenden Zwangsarbeit eine Ablösesumme in Höhe von
umgerechnet mehreren Millionen Reichsmark zahlen zu lassen. Einen großen
Teil dieses Geldes hat Merten offenbar in die eigene Tasche gesteckt.
Anfang 1943 verstärkten deutsche Militärs und Diplomaten den Druck auf die
italienischen Militärbehörden, die in ihrer Zone lebenden Juden den "
Endlösungs "-Maßnahmen zu unterwerfen. Generaloberst Löhr , Oberbefehlshaber
der in Griechenland befehlsführenden Heeresgruppe E, bedrängte den
italienischen Oberbefehlshaber, General Carlo Geloso, mit den dort lebenden
griechischen Juden nach deutschem Beispiel zu verfahren.
"Endlösung" in Thessaloniki
Als die Italiener das ablehnten, begannen die Deutschen ab
Frühjahr 1943 in ihrer und in der bulgarischen Zone Griechenlands mit der
"Endlösung". Als erste deportierte man die etwa 4.000 griechischen Juden der
Provinz Belomorje, wie die Bulgaren das Gebiet nannten, in
Vernichtungslager, meist nach Treblinka, wo fast alle - etwa 97 Prozent -
sofort im Gas erstickt wurden.
Anfang Januar 1943 fanden in Athen Beratungen zwischen dem Bevollmächtigten
des Reiches in Griechenland, Dr. Günter Altenburg, dessen Vertreter in
Saloniki, Generalkonsul Schönberg, dem Oberkommando der Heeresgruppe E, dem
Befehlshaber Saloniki-Ägäis und der SS statt, auf denen die Einzelheiten
einer schnellen "Endlösung" im Bereich Saloniki- Ägäis besprochen sowie der
Ablauf und die Verantwortlichkeiten festgelegt wurden. Für die "Endlösung"
im Befehlsbereich Saloniki-Ägäis stellte die hochrangige Januarbesprechung
eine Frist von sechs bis acht Wochen.
Zwei Drittel aller Juden Griechenlands, etwa 50.000 Menschen, lebten in
diesem Befehlsbereich. In einer konzertierten Aktion der Wehrmacht, der
Dienststellen des Reichsbevollmächtigten Altenburg und der Kommandos der
Sicherheitspolizei und des SD ab Januar 1943 erfolgten die Erfassung,
Enteignung, Ghettoisierung und Deportation der Juden.
Am 6. Februar 1943 ordnete die Militärverwaltung unter Verwaltungsrat Max
Merten die Kennzeichnung und Ghettoisierung an. Am 1. März mussten alle
Juden eine detaillierte Vermögenserklärung abgeben. Wenige Tage danach wurde
ihr gesamter Besitz beschlagnahmt. Alles Bargeld musste abgeliefert werden.
Es wird vermutet, dass Merten, wie schon bei der Zwangsarbeiteraktion des
Jahres 1942, einen erheblichen Teil der konfiszierten Güter und des
Bargeldes für sich abgezweigt hat - eine weitere Quelle, aus der sich der
vermutete Schatz in dem Wrack vor Kalamata speist. Die Militärverwaltung
(Merten) verkündete kraft der ihr verliehenen vollziehenden Gewalt die
Terrormaßnahmen. Deren Durchführung übertrug sie den in "Endlösungsfragen"
erfahrenen Profis der Außenstelle des Sicherheitsdienstes Thessaloniki und
dem Sonderkommando des Sicherheitsdienstes unter Leitung des
Eichmann-Mitarbeiters SS-Hauptsturmführer Wisliceny (Sonderkommando der
Sicherheitspolizei für Judenangelegenheiten ).
Am
15. März 1943 ging der erste Transport in das Tausende Kilometer entfernte
Auschwitz. Um die zu Kriegszeiten knappen Transportkapazitäten restlos
auszunutzen und den vorgegebenen Zeitplan einzuhalten, pferchte man die
Menschen eng zusammengedrängt in Viehwaggons. 2.600 bis 2.800 Menschen
wurden auf diese Weise pro Transport deportiert. Viele überlebten den
neuntägigen Transport nicht und kamen tot in Auschwitz an. Fast alle Juden
aus Griechenland wurden von der Rampe sofort in die Gaskammern getrieben. Im
Sommer 1944 erwähnte der Kommandant von Auschwitz, Höß, beiläufig, daß die
griechischen Juden zur Arbeit u. a. in den Betrieben der IG-Farben-Industrie
AG körperlich nicht fähig und sofort zu ermorden sind. Nur einige junge
Frauen habe er in den Block 10 überstellen lassen, wo deutsche Ärzte unter
Professor Clauberg qualvolle medizinische Experimente an ihnen durchführten.
Als im April 1943 der Oberrabbiner Koretz an den
Kollaborations-ministerpräsidenten Rallis bei dessen Besuch in Thessaloniki
appellierte, dafür zu sorgen, "dass die seit 2.000 Jahren bestehende
Kultusgemeinde zu Saloniki nicht liquidiert werden möge", lehnte Rallis eine
Intervention kategorisch ab. Der Befehlshaber Saloniki-Ägäis sah in diesem
Vorfall einen Versuch "der Gegenwirkung gegen einen militärischen Befehl",
ließ Koretz mit seiner ganzen Familie festnehmen und auf die Liste jener
Juden setzen, die "mit einem der nächsten Transporte abbefördert" werden
sollten, wie es in einem Bericht des Generalkonsuls Schönberg vom 16. April
1943 an Altenburg über den "Skandal" hieß. Der Bericht Schönbergs spiegelt
die Zustimmung des Altenburg-Apparats mit den Maßnahmen des Befehlshabers
wider. Der im Januar vorgegebene Zeitplan wurde eingehalten. In kurzer Zeit
deportierten die Nazis etwa 50.000 Juden aus der deutschen Besatzungszone in
die Vernichtungslager.
Menschenjagd in der italienischen Zone
Der Oberbefehlshaber Löhr und der "Reichsbevollmächtigte" Altenburg
steigerten den Druck auf die Italiener, in ihrer Zone endlich mit der
"Endlösung" zu beginnen. Um das Argument der Italiener zu entkräften, wegen
der Deportationen aus Thessaloniki hätten die Deutschen zur Zeit kein
Schiffs- und Waggonraum zur Verfügung, schlug das Auswärtige Amt vor, dass
die Juden der italienischen Zone bis zur Gewinnung neuer
Deportationsmöglichkeiten vorübergehend "in Sammellagern zusammengezogen und
die arbeitsfähigen Kräfte als Baukompanien für Festungsbauten oder zur
Verbesserung von Eisenbahnlinien" nach dem Vorbild der Aktion vom Sommer
1942 in Thessaloniki eingesetzt werden sollten. Altenburg halte "einen
solchen Plan für sofort durchführbar und wünschenswert", heißt es in dem
Schreiben. Dem Druck der Deutschen versagten sich die italienischen
Befehlshaber auch weiterhin, so dass die Juden im größten Teil Griechenlands
noch eine kurze Atempause erhielten.
Nach der Kapitulation Italiens wurde die deutsche "Endlösung" sofort auf
ganz Griechenland ausgedehnt. Am 3. Oktober 1943 ordnete der Höhere SS- und
Polizeiführer die Erfassung der Juden an. Da sich nur wenige Juden zur
"Erfassung" meldeten, befahl der Befehlshaber in Griechenland, General
Speidel, alle Juden, die sich nicht hatten registrieren lassen, sofort zu
enteignen. Wehrmacht und Sicherheitsdienst der SS begannen mit der Jagd auf
die Juden. Auf dem Festland konnten viele von ihnen untertauchen oder sich
durch Flucht zu den linksgerichteten ELAS-Partisanen retten. Auf den Inseln
jedoch und im Gebiet um Joannina, wo die rechtsgerichtete Partisanenarmee
EDES die antijüdischen Maßnahmen unterstützte, fielen fast alle in deutsche
Hände. Über die Deportation der Juden von Joannina am 25. März 1944
berichtete ein Kommando der Gruppe Geheime Feldpolizei (GFP) 621 beim XXII.
Gebirgsarmeekorps. Nach vorheriger Ghettoisierung seien dank "vorbildlicher"
Zusammenarbeit von GFP mit anderen Wehrmachtseinheiten, der Feldgendarmerie
sowie griechischer und deutscher Polizei alle Juden verhaftet und 95 Prozent
von ihnen deportiert worden - insgesamt 1725 Menschen. Widerstand habe es
nur von der linksgerichteten Befreiungsfront EAM gegeben. Aus den
rechtsgerichteten EDES-Kreisen werde "volle Zustimmung laut".
Kurze Zeit später begannen die Maßnahmen gegen die 2.000 Juden auf Korfu.
Der Feindlagebearbeiter ( Ic ) der Korpsgruppe Joannina bat am 28.April 1944
seinen vorgesetzten Abwehroffizier der Heeresgruppe E, beschleunigt mit den
" Endlösungs "-Maßnahmen auf der Insel zu beginnen. Der Ic-Offizier machte
auf einen besonderen Vorteil der schnellen Deportation aufmerksam: Viele
"unnütze Esser" würden verschwinden. Der Abtransport bedeute "eine nicht
unerhebliche Erleichterung der Ernährungslage". Nachdem die Kriegsmarine den
knappen Schiffsraum und die Heeresgruppe den ebenso raren Kraftstoff für den
Transport auf dem Festland bereitgestellt hatten, begann die Deportation. Am
17.Juni 1944 meldete der Befehlshaber der Sicherheitspolizei dem für Korfu
verantwortlichen Generalkommando des XXII. Gebirgsarmeekorps, von der Insel
seien alle Juden, insgesamt 1795 Personen, abtransportiert worden.
Kriegsverbrechen bis heute ungesühnt
Die letzten Opfer waren die Juden auf Rhodos. Am 13. Juli
1944 befahl der Kommandant Ost-Ägäis, Generalleutnant Kleemann, die
Erfassung, Ghettoisierung und Enteignung der Juden. Danach begann die
Deportation. Wenige Wochen vor dem Ende der deutschen Herrschaft in
Griechenland ging der letzte Transport von Rhodos in die Gaskammern des fast
3.000 Kilometer entfernten Auschwitz. Der "Endlösung" fielen etwa 58.900
Menschen zum Opfer.
Für die Mitwirkung an der Ermordung der griechischen Juden musste sich bis
heute keiner der Offiziere oder Beamten des deutschen Besatzungsregimes
verantworten. Viele der damals Verantwortlichen, insbesondere aus der
Wehrmacht und dem Apparat des "Reichsbevollmächtigten", konnten nach 1945
ihre Karriere nahezu bruchlos im auswärtigen Dienst oder in der Bundeswehr
fortsetzen.
Nur Max Merten bekam wegen seiner Tätigkeit als oberster Verwaltungschef in
Thessaloniki zeitweilig Schwierigkeiten. Wegen seiner alten Verbindungen zu
griechischen Kollaborationskreisen und guten Beziehungen zum Bonner
Establishment selbstsicher geworden, reiste er 1957 zur Erledigung
privatgeschäftlicher Angelegenheiten nach Griechenland. Dort wurde er
verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Die Bundesregierung forderte
seine Freilassung. Die Griechen verlangten im Gegenzug, dass Merten vor ein
deutsches Gericht gestellt wird und die Bundesrepublik die Opfer der
deutschen Besatzungszeit entschädigt. Die Bonner Regierung lehnte die
Entschädigung ab, um keinen Präzedenzfall zu schaffen.
Druck auf Bonn durch DDR-Initiative
Bei diesem Verhandlungsstand trafen in Bonn für die Bundesregierung
bedrohliche Nachrichten aus Ostberlin ein. Die DDR erklärte sich bereit, die
griechischen Opfer zu entschädigen und bot Verhandlungen auf höchster Ebene
an. Es war klar, dass dies über kurz oder lang zur Anerkennung der DDR durch
Griechenland führen würde. Damit wäre an einem geostrategisch sensiblen
Punkt die Bonner Hallstein- Doktrin durch einen NATO-Verbündeten
durchlöchert worden. Die Doktrin artikulierte bekanntlich die Anmaßung, die
Bundesregierung vertrete alle Deutschen in West und Ost. Jede Anerkennung
der DDR durch einen anderen Staat zog den Abbruch der diplomatischen
Beziehungen der BRD zu diesem Staat mit allen ökonomischen Konsequenzen nach
sich.
Bonn änderte Griechenland gegenüber sofort seine Haltung. Die Bundesrepublik
überwies 1960 eine Einmalentschädigung in Höhe von 115 Millionen DM für
politisch, rassisch oder religiös verfolgte Griechen. Merten wurde nach
Westdeutschland abgeschoben und dort festgenommen. 1968 stellte ein
Westberliner Gericht das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Mangels an
Beweisen bzw. wegen Verjährung ein. Für seine fast dreijährige Haft in
Griechenland erhielt er eine Entschädigung. Er starb 1976 als juristisch
unbescholtener Mann. Die über 90.000 Opfer anderer deutscher Terrormaßnahmen
sind bis heute noch nicht entschädigt.
[Children
of the Revolution - Eleftheria]
|